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23.02.2023 / Einsamkeit unter Migranten / Lesezeit: ~ 14 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Klassenkameraden, aber keine Freunde

Wie einsam sind Migranten in Deutschland? Und können Kirchen und Vereine helfen?

Wenn Migranten in einer deutschen Stadt unterwegs sind, trifft man sie häufig zu zweit oder in fröhlich plaudernden Gruppen. Wenigstens einer hat dabei meistens ein Handy am Ohr. Das erweckt den Eindruck, dass Flüchtlinge in ihrer Community gut vernetzt sind und nicht unter Einsamkeit leiden. Doch stimmt dieser Eindruck? Und wie geht es Geflüchteten, die den christlichen Glauben angenommen haben, mit dem Thema?

Das haben wir Ellen* und Andreas* gefragt. Sie begleiten als Mitarbeiter von ReachAcross, einer internationalen christlichen Organisation, Migranten bei ihrem Leben in Deutschland. Die beiden haben auch Anregungen für christliche Gemeinden und für Vereine, wie sie Geflüchteten mit ihren speziellen Bedürfnissen begegnen können.
 

ERF: Mit welcher Gruppe von Migranten habt Ihr Kontakt und warum liegen gerade diese Menschen Euch am Herzen?

Ellen: Ich bin aktuell vorwiegend mit Migranten aus dem Iran und Afghanistan in Kontakt. Ehrlich gesagt hatte ich es nicht geplant, mich auf diese Personengruppe zu spezialisieren – aber im Laufe der letzten zehn Jahre kam ich über verschiedene Projekte mit Geflüchteten in Berührung und kann es mir gar nicht mehr vorstellen, nicht im internationalen Kontext zu arbeiten.

Das hängt auch mit meiner Familiengeschichte zusammen. Meine Großeltern und Eltern haben ähnliche Dinge durchgemacht wie viele Geflüchtete heute. Es ist daher kein Zufall, dass ich gerade zu ihnen einen besonderen Zugang habe.

Andreas: Ich arbeite ausschließlich mit Menschen aus einem ostafrikanischen Volk. Vor etwa 30 Jahre habe ich fünf Jahre in einem Land in Ostafrika gearbeitet und dabei die Sprache dort gelernt. Dieses Volk hat mich nie losgelassen.

Bis zum versuchten Selbstmord

ERF: Gibt es eine Person in dieser Gruppe, die Euch besonders ans Herz gewachsen ist?

Ellen: Ich habe vergangenes Jahr einen 14-jährigen afghanischen Jungen begleitet, der Ende 2021 mit seinen Eltern nach Deutschland geflohen ist. Ich wurde angefragt, ob ich die neuangekommenen afghanischen Kinder wöchentlich ehrenamtlich unterrichten könne.

Sam* kam jede Woche – eine wirklich treue Seele. Er steckt mitten in der Pubertät, musste seine Heimat verlassen, seine Freunde – und trotzdem habe ich nie erlebt, dass er sich über seine Situation beschwert hat. Seine Liebe zum Lernen hat mich immer wieder fasziniert und mich auch motiviert, in ihn zu investieren.

Andreas: Ich habe Abdul besonders gerne. Er hat eine bescheidene, sanftmütige Art. Abdul ist ein Flüchtling aus Ostafrika und lebt ein paar Hundert Kilometer nördlich von mir. 2019 bin ich mit ihm in Kontakt gekommen, als er Unterstützung bei der Vertiefung seines neuen Glaubens gesucht hat. Er ist als Muslim aufgewachsen und hatte sich entschieden, Jesus nachzufolgen. Zu dieser Zeit war er Azubi in einem Mauerbetrieb.
 

ERF: Hat diese Person aufgrund ihres Lebens als Migrant besonders unter Einsamkeit gelitten?

Ellen: Ich habe Sam am Anfang als eher schüchtern erlebt, weil er noch nicht gut Deutsch sprach. Heute spricht er wie ein Wasserfall und ist kaum zu bremsen. In der ersten Schule, die er besucht hat, hat er schnell Freunde gewonnen.

Nach einem Schulwechsel ist es für ihn jetzt deutlich schwerer Anschluss zu finden, da er einer der wenigen Migranten in der Klasse ist. Er versucht seine alten Schulfreunde regelmäßig zu treffen. Aber das gestaltet sich schwierig. In Gesprächen mit ihm habe ich gemerkt, dass er sich einsam an der neuen Schule fühlt bzw. nur von Mitschülern redet, aber noch nicht von Freunden.

Andreas: Als ich Abdul das erste Mal in seinem ziemlich trostlosen Dorf hier in Deutschland besucht habe, bin ich mit einem unguten Gefühl weggefahren. Er hat damals in einer Art ehemaligem Gasthaus gelebt. Monate später hat er an einer Freizeit teilgenommen, wo er andere Christen aus seinem Volk getroffen hat. Sie haben alle die Gemeinschaft sehr genossen.

Als Abdul von dieser Veranstaltung heimgekommen ist, hat er sich so einsam und verzweifelt gefühlt, dass er versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Glücklicherweise hat ein Nachbar das mitbekommen und ihn davon abgehalten. Es geht ihm jetzt, nach mehrfachen Klinikaufenthalten und dem Leben in einer betreuten Wohnung, besser als je zuvor. Seine Betreuer haben ihn sehr gut unterstützt. Abdul musste als Sechzehnjähriger als Soldat bei einem Sippenkrieg mitkämpfen. Die Betreuer haben ihm geholfen, dieses Trauma zu verarbeiten.

Wer viel Schweres erlebt hat, geht nicht mehr so leicht auf Fremde zu

ERF: Leiden die Migranten, mit denen Ihr zu tun habt, häufig an Einsamkeit?

Ellen: In gewisser Weise schon. Viele Migranten kommen aus Kulturen, in denen die Großfamilie eine zentrale Rolle spielt. Man existiert weniger als Individuum, sondern als Teil einer Gruppe. In Deutschland wird viel Wert auf Eigenleistung und Selbstständigkeit gelegt.

Für Migranten zählt dagegen oft, welche Kontakte ich habe und welche Stellung meine Familie in der Nachbarschaft besitzt. Wenn ich als Migrant dieses Beziehungsnetz nicht habe, kann das schnell dazu führen, dass ich mich überfordert und einsam fühle.

Andreas: Ohne Zweifel sind viele einsam! Vor allem die christlichen Konvertiten, mit denen ich arbeite, leiden stark unter Einsamkeit. Die meisten Flüchtlinge, die ich begleite, sind traumatisiert. Ihre Reise nach Europa verlief oft über Libyen und das Mittelmeer. Die Gefängnisse in Libyen sind einfach furchtbar.

Wenn ich erzählen würde, was ich davon gehört habe, könnte man diesen Artikel kaum noch veröffentlichen. Dazu kommt oft noch die Trennung von ihren Familien und das, was sie an Traumata in ihrem Heimatland erlebt haben. All das führt dazu, dass die psychischen Belastungen sich häufen. Solchen Menschen fällt es schwer, auf andere Menschen zuzugehen und neue Freundschaften zu schließen. 

Konvertiten haben es noch schwerer. Wenn ein Muslim Christ wird, hat er zwei Möglichkeiten: Er kann äußerlich so tun, als ob er weiterhin Muslim ist. Das tut der Seele aber nicht gut. Oder er kann sich öffentlich als Christ bekennen, muss dann aber die volle Wucht an Ärger und Hass von seinen Landsleuten und seiner Familie aushalten. Der Druck für diese Menschen ist enorm, da eine Konversion vom Islam zum Christentum als große Schande für die Familie gesehen wird.
 

ERF: Können solche traumatischen Fluchterlebnisse und die völlig verschiedenen Kulturen ein Grund dafür sein, dass junge Männer mit Migrationshintergrund sich teilweise nur schwer in das Leben hier in Deutschland integrieren können?

Andreas: Die Einsamkeit trägt dazu bei, aber es gibt mehrere Faktoren, die dafür verantwortlich sind. Die Scheidungsrate in dem ostafrikanischen Land, aus dem die von mir betreuten Migranten stammen, ist sehr hoch. Dazu haben Männer oft mehrere Frauen. Das führt dazu, dass viele junge Männer keine Vaterfigur zuhause haben, mit der sie sich identifizieren können.

Hinzu kommt eine kaputte Wirtschaft nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg. All das führt dazu, dass vielen jungen Männern ein Vorbild fehlt. Sie sind oft in Chaos aufgewachsen. Hier müssen sie plötzlich dem sehr strengen deutschen Zeitplan gerecht werden. Das fällt ihnen enorm schwer. 

Die Gesellschaft in ihrem Heimatland ist auch davon geprägt, dass man niemandem vertrauen kann. Man erzählt den anderen nicht, wie es einem geht, man lässt sich nicht auf etwas festlegen. Dazu kommt eine große Skepsis gegenüber der westlichen Kultur. Europäer gelten als Ungläubige, unsere Kultur als scham- und sittenlos. Das macht Integration schwer.

Ich sehe oft, wie Männer den harten Kerl spielen und sich betont locker geben. Aber ich vermute, dass vielen unter ihnen sehr klar ist, dass sie ihrer Situation nicht gewachsen sind. Ihnen fehlt es an Selbstvertrauen. Dann haben sie die Wahl, sich dem Leben zu stellen oder ihren Schmerz durch Alkohol und Drogen zu betäuben.
 

ERF: Wie sieht es bei den Frauen mit Migrationshintergrund aus? Fällt es Ihnen leichter, in der Gesellschaft Fuß zu fassen und soziale Kontakte zu Deutschen aufzubauen?

Ellen: Es gibt verschiedene Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, wie schnell oder sogar ob die Frauen in der Gesellschaft Fuß fassen können. Der Bildungsgrad einer Frau spielt eine Rolle, aber auch, welche Rollenbilder in ihrer Heimat vorherrschen, ob es dort westlichen Einfluss gibt, welcher Religion sie angehört, warum sie ausgewandert ist und ob sie dabei Traumata erlebt hat.

Ich kenne eine syrische Frau, die mit vierzehn Jahren verheiratet wurde, nie eine Schule besucht hat und jetzt mit Mitte Zwanzig schon sieben Kinder zur Welt gebracht hat. Sie verlässt so gut wie nie ihre Wohnung – ihr ganzes Leben spielt sich dort ab. Sie spricht fast kein Deutsch, obwohl sie schon über fünf Jahre in Deutschland lebt. Ihr Mann und ihre Kinder müssen alles regeln.

Im Kontrast dazu steht eine junge iranische Frau, die zuerst ihre Schwester nach einem Unfall in Deutschland gepflegt hat und nach deren Tod die Ausbildung zur Krankenschwester angefangen hat. Im Iran hatte sie zuvor in einem Labor für Biochemie gearbeitet. Ihre Deutschkurse musste sie selbst finanzieren.

Durch ihre Ausbildung, ihre offene Art und der Eigeninitiative, Freundschaften mit Deutschen zu schließen, hat sie viel schneller in der Gesellschaft Fuß gefasst. Aber trotzdem erlebt sie auch Situationen, in denen sie sich nicht willkommen fühlt.

Zeit zum Zuhören und Spontaneität sind enorm wichtig

ERF: Was macht Ihr, wenn Ihr merkt, dass sich ein Migrant sehr einsam fühlt?

Ellen: Es drückt viel Wertschätzung aus, wenn ich mir in einer solchen Situation Zeit nehme, auch wenn ich eigentlich einen Termin hätte. Es gibt auch Dinge, die dabei helfen, die Einsamkeit wenigstens für ein paar Momente zu vergessen. Dazu gehören zum Beispiel Einladungen zu uns nach Hause, Besuche, gemeinsame Ausflüge und die Vernetzung mit anderen Migranten und Deutschen.

Ich biete auch an, für die Menschen zu beten und erzähle, wie mir mein Glaube, das Gespräch mit Gott, hilft. Ich lasse sie Anteil daran haben, wie ich persönlich mit Einsamkeit umgehe. Außerdem versuche ich, den Migranten dabei zu helfen, den Blick für das Positive zu schärfen und nach vorne zu schauen.

Andreas: Ich versuche, diese Person sowohl mit ihren Landesleuten als auch mit Deutschen in Kontakt zu bringen. Ich nehme mir Zeit, auf ihre Geschichte und auf ihre Hoffnung zu hören.
 

ERF: Was macht es mit Euch, wenn ein Migrant sich einsam fühlt? Woher nehmt Ihr die Kraft, diese Menschen zu begleiten?

Ellen: Einerseits erinnert es mich an eigene Momente, in denen ich Einsamkeit erlebt habe. Das war zum Beispiel in den zwei Jahren so, in denen ich als „Deutsch als Fremdsprachen“ (DaF) – Lehrerin in Berlin gearbeitet habe. Berlin ist eine große Stadt, in der so viel Vielfalt herrscht, aber die Person als Individuum wird schnell übersehen.

Andererseits muss ich aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr mit der Einsamkeit anderer identifiziere. Mir gehen manche Dinge schnell zu Herzen und ich fühle mich für Lösungen verantwortlich. Da hilft es mir sehr, mich mit meinem Mann auszutauschen, der selbst einen Migrationshintergrund hat. Er kann sehr mitfühlend sein, weiß aber auch sehr gut, wann Grenzen zu ziehen sind.

Auch das Gespräch mit Gott hilft mir, diese Lasten loszuwerden und abzugeben. Teilweise ist das auch ein Ringen mit Gott. Kraft schöpfe ich aus der Hoffnung, die mir mein christlicher Glaube an einen persönlichen Gott gibt. Wenn ich weiß, dass Gott mich sieht und mir die Hand reicht, wenn ich mich einsam fühle, dann kann ich mit Zuversicht in die Zukunft gehen.

Andreas: Ich will von meinem Naturell her immer den Helden spielen. Ich möchte am liebsten einfach eingreifen und alle Probleme wunderbar lösen. Diese Einstellung ist tödlich. Ich muss das, was mich bei meiner Arbeit mit Migranten belastet, ständig an Gott abgeben. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich keinen Bruchteil dieser Belastung selbst tragen darf, sonst werde ich von ihr erdrückt.

Es braucht Menschen, die zwischen den Kulturen vermitteln

ERF: Was müsste sich an der Struktur ändern, mit der Asylverfahren in Deutschland ablaufen, damit Geflüchtete schneller Anschluss finden?

Ellen: Es gibt Geflüchtete, die 2015 nach Deutschland gekommen sind und immer noch nicht wissen, ob sie längerfristig in Deutschland bleiben dürfen. Diese Ungewissheit lähmt sehr viele. Sie sehen keinen Sinn darin, die Sprache zu lernen und Freundschaften zu schließen, weil sie nicht wissen, ob sich der Aufwand lohnt.

Andere wiederum versuchen alles für ihre Integration zu tun, um ein positives Ergebnis im Asylgesuch zu erlangen. Ich denke, es wird immer beide Personengruppen geben. Aber es wäre wichtig, die Menschen nicht über Jahre im Ungewissen zu lassen.

Leider habe ich es erlebt, dass auch in Ausländerbehörden Rassismus zum Alltagsgeschehen gehört. Die Mitarbeiter dort sind auch nur Menschen, aber mein Wunsch ist es, dass sie trotz der vielen Anträge nicht vergessen, den anderen so zu behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollen.

Andreas: Ich habe den Eindruck, dass Flüchtlinge enorm viel Zeit mit Warten verbringen. Nichts tun ist viel schwieriger zu ertragen als zu arbeiten. Viele Beamte sind auch eher sachlich eingestellt und bleiben auf Abstand. Das ist aus ihrer Sicht verständlich, aber es gibt den betroffenen Flüchtlingen nicht die benötigte zwischenmenschliche Zuwendung.

Im Blick auf Konvertiten fehlt auf den Ämtern nach meinem Eindruck leider auch das Verständnis für ihre besondere Situation. Ein ostafrikanischer Konvertit hat sich beispielsweise von seinen Landsleuten bedroht gefühlt. Sie haben ihm gesagt: „Wären wir in unserem Heimatland, würden wir dich gleich umbringen!“

Als ich das seinem Betreuer in einer Mail erzählt habe, kam die Antwort, dass dieser Christ das einfach aushalten solle und dass es zur Integration gehöre, mit Menschen unterschiedlichen Glaubens in Kontakt zu kommen. Dieser Betreuer war eigentlich sehr gut, aber im Blick auf die Situation von Konvertiten zumindest am Anfang sehr unwissend.
 

ERF: Was können einzelne, aber auch christliche Gemeinden oder Vereine machen, damit Migranten in Deutschland sich sozial nicht isoliert fühlen?

Ellen: Es gibt extrovertierte Migranten, die kein Problem damit haben, nach Hilfe zu fragen oder sich im Sportverein anzumelden, selbst wenn ihre Sprach- und Kulturkenntnisse begrenzt sind. Introvertierte oder traumatisierte Migranten haben es da deutlich schwerer. Sie müssen ein Stück weit an die Hand genommen werden, persönlich eingeladen, vielleicht sogar am Anfang abgeholt werden, um Vertrauen zu den für sie Fremden zu gewinnen.

Es braucht darüber hinaus Menschen, die sich interkulturelle Kompetenzen aneignen und andere darin schulen. Ein Beispiel hierzu aus dem Fußballverein meines Mannes: Seit einiger Zeit gibt es vermehrt Migranten in seiner Mannschaft. Das wiederum hat zu einigen Konflikten zwischen dem Trainer und ein paar Migranten geführt.

Es existieren einfach unterschiedliche Vorstellungen über Respekt, Scham und Ehre. Ein Migrant hat frühzeitig das Spielfeld verlassen, weil er nicht von Anfang an im Spiel eingesetzt wurde und sich in seiner Ehre stark verletzt gefühlt hat. Mein Mann hat die Rolle des Vermittlers übernommen. Er versucht immer wieder in eskalierenden Situationen einzugreifen und beiden Seiten dabei zu helfen, die Perspektive des anderen besser zu verstehen. Wir können viel voneinander lernen. Wir müssen aber auch dazu bereit sein und müssen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede sensibilisiert werden.

Andreas: Man kann mit den Leitern von Asylantenheimen sprechen und fragen, wie man sich behilflich machen kann. Man kann Migranten in ihrer Unterkunft besuchen und ihnen zum Beispiel einen großen Korb Obst mitbringen. Wichtig ist aber, dass man diese Besuche zu zweit macht und dass Männer nur Männer besuchen und Frauen nur Frauen. Muslime werden sich eher nicht in ein kirchliches Gebäude einladen lassen. Dazu ist die Hemmschwelle zu groß.

Viele haben noch nie eine „deutsche“ Wohnung von innen gesehen

ERF: Wie können Deutsche Bekannt- oder Freundschaften mit Migranten schließen?

Ellen: Ich finde es wichtig, mit offenen Augen durch den Alltag zu gehen. Wenn sich im Bus, beim Arzt oder auf dem Spielplatz ein Migrant neben einen setzt, dann kann man ein kurzes Gespräch anfangen. Wer Kontakte zu Migranten aufbauen möchte, sollte den ersten Schritt machen und offen für spontane Einladungen sein.

Ein einfaches Mittel zu Kontaktaufnahme ist es, die Migranten, die in der eigenen Nachbarschaft wohnen, zu grüßen, wenn man sie auf der Straße trifft. Viele Migranten wissen an Feiertagen auch nicht, was sie machen sollen, wenn alle Geschäfte geschlossen sind. Warum also nicht einmal Migranten an Festtagen zu sich nach Hause einladen?

Viele hegen den Wunsch, einmal eine „deutsche“ Wohnung von innen zu sehen und zu wissen, wie wir so leben, ob wir z.B. mit Schuhen in die Wohnung gehen, was wir essen, wie sich Männer gegenüber Frauen verhalten etc.

Es ist auch immer hilfreich, sich zu informieren, wo schon Organisationen in der Nähe Hilfe für Migranten anbieten. Diese freuen sich immer über neue Ehrenamtliche. Häufig werden auch Patenschaften vermittelt. Und man kann Migranten aus einer Flüchtlingsunterkunft oder einem Studentenwohnheim zu einem Volleyballturnier, Spieleabend oder Gemeindeausflug einladen. Es muss nicht immer extra etwas organisiert werden. Man kann die Menschen zu dem einladen, was schon geplant ist.

Andreas: Es tut unheimlich gut, wenn jemand einfach Interesse am Leben eines Migranten zeigt und vermittelt, dass die Person ihm nicht egal ist. Das bedarf keines besonderen Könnens, und Fehler sind erlaubt! Wenn jemand schüchtern ist, kann er sich eine Tätigkeit suchen, bei der er mehr im Hintergrund helfen kann.

Durch den regelmäßigen Kontakt können Beziehungen langsam, aber sicher wachsen. Oft kann man sich auch Initiativen anschließen, die es vor Ort schon gibt: Kennenlern-Cafés, Sprachtraining oder Diskussionsgruppen.
 

ERF: Was habt Ihr in der Zusammenarbeit mit Migranten selbst ganz neu über Gemeinschaft und Einsamkeit gelernt – was ist Euch in diesem Zusammenhang wichtig geworden?

Ellen: In Genesis, dem ersten Buch der Bibel, wird von der Erschaffung des Menschen gesprochen und davon, dass in ihm nicht ein Einzelgänger-Gen angelegt wurde, sondern ein Gemeinschaftsgen. Durch meine Arbeit wird mir das immer wieder neu vor Augen geführt: Menschen fühlen sich gerade dann einsam, wenn sie kein Teil einer intakten Gemeinschaft sind.

Wenn christliche Gemeinden über den sonntäglichen Gottesdienst hinaus Gemeinschaft leben, dann können sie zu einem Magneten für Migranten werden – auf eine ganz natürliche Art und Weise, ohne sich verbiegen zu müssen.

Andreas: Die Menschen, die ich begleiten darf, sind mir sehr wertvolle Freunden geworden. Durch ihre Freundschaft bin ich für manche Mühe bereits mehr als belohnt worden.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!
 

Ellen und Andreas sind beide als Mitarbeiter der Organisation ReachAcross in der Begleitung von Migranten und Flüchtlingen tätig. Ellen investiert sich insbesondere in iranische Christen im Osten Deutschlands und liebt es, auch zu denjenigen eine Brücke zu bauen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind. Außerdem arbeitet sie als freiberufliche DaF-Lehrerin. Andreas begleitet vor allem ostafrikanische Konvertiten mit muslimischem Hintergrund. Er möchte ihnen bei den Herausforderungen und Fragen helfen, die sie aufgrund ihres neuen Glaubens haben. Darüber hinaus arbeitet er als Übersetzer in einer international tätigen Firma.

* Name zum Schutz der Person geändert.

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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