/ Bibel heute
Jerusalems Blutschuld und Schandtaten
Der Bibeltext Hesekiel 22,1-16 – ausgelegt von Andreas Laengner.
Und des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, willst du nicht richten, willst du nicht richten die Stadt voller Blutschuld? Zeige ihr alle ihre Gräueltaten und sprich: So spricht Gott der HERR: O Stadt, die du das Blut der Deinen vergießt, damit deine Zeit komme, und die du dir Götzen machst, damit du unrein werdest![...]
Die ältere Dame lächelt freundlich und zufrieden. Sie ist ehrenamtlich sehr engagiert. Sie lebt mit Gott. Dann sagt sie: „Und jeden Tag versuche ich etwas Schönes zu machen – nur für mich selber.“
Es ist wichtig, dass wir Menschen an uns selbst denken. Es ist so wichtig, dass wir uns selbst nicht vergessen. Also, dass wir Zeit nur für uns haben: Um etwas zu tun für unsere eigene körperliche und geistige Gesundheit; um uns einmal etwas Schönes zu gönnen: einen guten Film ansehen oder schöne Musik hören, etwas richtig leckeres essen und genießen. Es ist wirklich wichtig, dass wir uns selbst und unsere Bedürfnisse nicht vergessen.
Aber schnell schießen wir auch über das Ziel hinaus. Schnell verlieren wir das richtige Maß. Nämlich dann, wenn wir immer mehr und mehr an uns denken und wenn wir am Ende dann nur noch an uns selbst denken. Ich stehe in der Gefahr, meine Familie, meine Freundinnen und Freunde, meine Nachbarn oder Kollegen ganz zu vergessen. Und ich merke, dass das dann noch eine andere Folge hat: ich vergesse Gott, wenn ich nur noch an mich selbst denke.
Der Kernsatz unseres Bibeltextes steht am Ende des zwölften Verses: „… und mich vergisst du! spricht Gott der HERR“.
Schon oft habe ich mitten in einem Gespräch oder beim Lesen der Bibel gedacht: Hoppla, da habe ich ja glatt Gott und meine Mitmenschen in den Wirren des Alltags vergessen. Jetzt habe ich ja nur noch an mich gedacht: An meine Sicherheit, meinen Wohlstand, mein Vergnügen, meinen Spaß oder meinen Willen, Macht und Einfluss für meine eigenen Anliegen einzusetzen.
Also: dass wir an uns selbst denken, ist gut und wichtig. Aber nur noch an uns selbst denken, das führt dazu, dass wir Gott und unsere Mitmenschen völlig vergessen. Es geht um die Kunst, das eine zu tun, aber dabei das andere nicht aus dem Blick zu verlieren. Es geht um die Kunst, ein rechtes Maß zu finden und zu halten.
Hesekiel gibt uns viele Beispiele von dem, was passiert, wenn Menschen Gott, und damit auch ihre Mitmenschen, vergessen. Einigen dieser Beispiele wende ich mich jetzt zu.
Ich vergesse Gott, wenn ich die Alten vergesse. In Vers 7 heißt es: „Vater und Mutter verachten sie.“
Hier sind nicht die Konflikte zwischen pubertierenden Jugendlichen und ihren Eltern gemeint. Hier geht es vielmehr um die alternden und alten Eltern, ja, um die alten Menschen überhaupt. Diese fordern unsere Familien, die Pflegeeinrichtungen und die Gesellschaft oft sehr heraus. Jüngere können sich das vielfach nicht richtig vorstellen, was es heißt, älter oder alt zu werden. Schnell kommt es dazu, dass alte Menschen, für die es kein richtiges Verständnis gibt, schlicht verachtet werden. Viele wenden sich von ihnen ab. Sie vergessen ihre Bedürfnisse und ihre Sorgen.
Wir vergessen Gott, wenn wir die „Fremdlinge“, die Migrantinnen und Migranten, vergessen, denn ebenfalls in Vers 7 lesen wir: „Den Fremdlingen tun sie Gewalt und Unrecht an.“ Wo wir Gott vergessen, vergessen wir, dass jeder Mensch von Gott geschaffen ist und somit auch seine Würde hat. Das gilt unabhängig von seiner Herkunft. Gewiss gibt es in Hinsicht auf Migrantinnen und Migranten viele ungeklärte Herausforderungen in unserem Land, um deren Lösung gerungen werden muss. Lösungen, die mit Gewalt und Unrecht herbeigeführt werden sollen, sind aber gewiss nicht in Gottes Sinn.
Wir vergessen Gott, wenn wir den Sabbat, den Tag des HERRN, den Sonntag, vergessen.
In Vers 8 steht: „Du … entheiligst meine Sabbate“. Der entscheidende Punkt des Tages des Herrn ist die Ruhe. Es geht darum, dass wir von unserer Arbeit ruhen und dem Sorgen um unser Leben für einen Tag eine Pause gönnen. Ruhe ist in unserer Zeit, die voller Tempo und wachsender Anforderungen ist, ein enorm kostbares Gut. Diejenigen, die Gott nicht vergessen, haben da eine gute Basis. Sie sind eingeladen zu vertrauen: Auch wenn ich einen Tag lang nichts Produktives vollbringe, sondern ruhe, wird Gott schon dafür sorgen, dass es am Ende für alles reicht.
Am häufigsten aber nennt der Prophet Hesekiel: Menschen „trachten … danach, Blut zu vergießen“. Es geht also um die Anwendung von Gewalt, damit die eigenen Ziele erreicht werden. Ich tue etwas, nur weil ich es kann und weil es mir persönlich Gewinn bringt. Wann neige ich zu Gewalt, vielleicht „nur“ in Gedanken? Lasse ich mich noch davon berühren, wenn ich von Gewalt und Blutvergießen höre? Befürworte ich gar Gewalt? Unser Bibeltext will uns anregen, aufmerksam auf unser Leben zu schauen: Wo vergesse ich Gott und Menschen? Wo stelle ich mein Glück, meinen Wohlstand, meine Sicherheit oder meinen Spaß als die wesentlichen Beweggründe meines Handelns in den Mittelpunkt? Vielleicht können Sie etwas konkretes für Ihr Leben erkennen. Vielleicht werden Sie an etwas bestimmtes erinnert. Vielleicht erkennen Sie, dass Sie in einer Sache schuldig geworden sind, so wie Hesekiel in Vers 4 davon redet, dass Menschen „schuldig“ werden.
Unser Bibeltext lässt deutlich erkennen, dass Gott die Schuld der Menschen sehr ernst nimmt. Aus dem weiteren Verlauf der Bibel wissen wir: Gott nimmt unsere Schuld so ernst, dass er schlussendlich seinen Sohn Jesus Christus sendet. Der stirbt am Kreuz für die Schuld aller Menschen. Wegen des Kreuzestodes Jesu ist nun für alle Menschen Friede mit Gott und Versöhnung mit Gott möglich. Gott schenkt allen Menschen Frieden, Versöhnung und Vergebung der Schuld, wenn sie sich nur an ihn wenden.
Ich kann in einem schlichten Gebet zu Gott sagen: „Ja, ich habe dich vergessen und ich habe meine Mitmenschen vergessen, ihr Glück, ihr Wohlergehen, ihre Würde, ihre Bedürfnisse. Es tut mir leid. Ich bitte dich um Vergebung.“
Und Gott vergibt in diesem Moment unsere Schuld. Denn er vergisst uns nicht.
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