12.01.2012 / Interview

Wenn die Last der Welt dir zu schaffen macht

Hektik und Erfolgsdruck machen Hochsensiblen besonders zu schaffen. Doch auch in christlichen Gemeinden kann es ganz schön stressig werden.

Wir haben mit Dirk und Christa Lüling gesprochen, Autoren des Buches „Lastentragen – die verkannte Gabe“. Die Beiden sind die Gründer und langjährigen Leiter der Familienarbeit TEAM F., einer Organisation, die auf der Grundlage christlicher Werte Ehen und Familien unterstützen und fördern möchte.

ERF: Herr und Frau Lüling, Sie haben gemeinsam ein Buch über hochsensible Lastenträger geschrieben. Was genau sind hochsensible Lastenträger?

Dirk Lüling: Wir haben hier zwei Begriffe kombiniert. Einmal der Begriff „hochsensibel“. Eigentlich müsste man „hochsensitiv“ sagen, weil hochsensibel leider zu sehr mit Sensibelchen gleichgesetzt wird, was hier nicht zutreffend ist. Hochsensitiv bedeutet, dass diese Menschen eine viel breitere Wahrnehmung haben, als andere. Weil sie mehr wahrnehmen, haben sie gewissermaßen einen weiteren Horizont. Es besteht damit aber auch die Gefahr, dass sie von Reizen überflutet werden und diese Reizüberflutung schlecht stoppen können.

Der zweite Begriff, Lastenträger, bedeutet, dass diese Menschen Beziehungsdynamiken besonders intensiv wahrnehmen. Sie spüren recht schnell die Stimmungen und die seelische Befindlichkeit anderer Menschen auf. Manchmal erkennen sie, ob Menschen gerade Leid durchmachen oder Schmerzen haben. Zum „Lastenträger“ werden sie, wenn sie auf die Nöte anderer anspringen und meinen: „Ich muss denen jetzt helfen.“
 

ERF: Thema Gemeinde: Welche Herausforderungen gibt es da für hochsensible Menschen? Ich kann mir vorstellen, dass es gerade in großen und lebendigen Gemeinden schwer ist für Hochsensible.

Christa Lüling: Mit der Größe der Gemeinde hat es nichts zu tun. Überall, wo Menschen zusammenkommen, nehmen besonders die Lastenträger die Atmosphäre wahr und spüren die Nöte. Sie merken z.B. auch, ob eine Gemeinde oder eine Person wirklich auf Gott hin ausgerichtet ist, oder ob sich jemand nur selbst darstellen will. Oder wenn es in einem kleinen Bibelkreis Spannungen unter den Teilnehmern gibt, dann werden sie sich wahrscheinlich wenig am Gespräch beteiligen, weil sie innerlich damit beschäftigt sind, ihre Wahrnehmungen zu ordnen und zu verarbeiten.   
 

ERF: Gibt es noch andere Probleme für Hochsensible im Hinblick auf die Gemeinde?

Christa Lüling: In der Gemeinde werden manchmal frühkindliche Verletzungen aktiviert. Das liegt u.a. daran, dass wir als Gemeinde oft Familie sein wollen. Man will z.B., dass alle sich wohl fühlen und in Beziehungen leben. Dafür schafft man eine Atmosphäre der Geborgenheit und schürt damit unbewusst hohe Erwartungen. Aber letztlich kann eine Gemeinde ein so hohes Maß an Nähe nicht leisten, und so werden Menschen wieder enttäuscht. Wenn Hochsensible diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit erleben, neigen einige dazu, zu kritisieren, anzuklagen oder sich zurückzuziehen. Manche sehen sich ständig als benachteiligt. Wer in einer solchen „Opferrolle“ gefangen ist, dem ist oft kaum zu helfen, denn diese Menschen zeigen in der Regel wenig Bereitschaft, aktiv da herauszutreten.
 

ERF: Was ist falsch daran, die Gemeinde als Familie zu sehen? Manches im Neuen Testament deutet doch gerade darauf hin.

Dirk Lüling: Es ist nicht falsch, aber jeder bringt zum Begriff Familie eigene Erfahrungen mit. Da gibt es bestimmte Erwartungen und Wünsche, aber auch Ängste, Enttäuschungen und erlernte Verhaltensmuster in Bezug auf eine Familie. Wer hat zum Beispiel in seiner Familie gelernt, was gute Kommunikation bedeutet, oder wie Konflikte sinnvoll gelöst werden? Oder wie man ehrlich und offen miteinander umgehen kann, ohne sich zu verletzen? Man muss es aushalten können, wenn man hinterfragt wird, ohne gleich angriffig zu werden oder sich zurückzuziehen.
 

ERF: Sie meinen, man betont nur die positiven Seiten des Familienbegriffs?

Dirk Lüling: In jeder Gemeinschaft gibt es Konflikte und Mangel. Wer aus einem gesunden Familienhintergrund in eine Gemeinde kommt, kann auch mit Mängeln leben und sich trotzdem wohl fühlen. Aber jeder erlebte Mangel in der Ursprungsfamilie kann zu übersteigerten Erwartungen führen. Diese unausgesprochenen und überhöhten Erwartungen kann eine Gemeinde nicht erfüllen, Enttäuschungen sind vorprogrammiert.
 

ERF: Wo liegen die Gaben von hochsensiblen Menschen im Hinblick auf die Gemeinde?  

Dirk Lüling: Sie haben eine breit angelegte Wahrnehmung. Sie können recht gut Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges miteinander verbinden und kommen intuitiv zu Lösungen, in denen oft sehr viel Weisheit steckt. Sie wittern aber auch Gefahren, wo andere noch lange nichts wahrnehmen.

Christa Lüling: Die Gabe der Hochsensiblen Lastenträger liegt vor allem in ihrer Empathie, also in der Fähigkeit zur Anteilnahme, und dass sie eine besondere spirituelle Offenheit haben. Viele Hochsensible haben von Kindheit an eine Beziehung zu Gott. Außerdem können Sie sehr gute Berater sein, wenn sie von ihrer Verletzungsgeschichte frei sind. Sie sind auch nicht unbedingt Leute der ersten Reihe, aber in der zweiten Reihe, zur Unterstützung der Leiterschaft, sind sie meist exzellent.
 

ERF: Lesen hochsensible Lastenträger die Bibel anders?

Christa Lüling: In meinen Gesprächen habe ich festgestellt, dass Hochsensible oft die gleichen Bibelverse als Leitlinie haben. Mit ihnen machen sie sich selbst Druck. Das sind Aussagen wie: „Einer trage des anderen Last“, „Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach“ oder „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ Diese Verse haben auch mich als Kind angesprochen und zur Selbstaufgabe geführt.
 

ERF: Aber sind Selbstaufgabe und Selbstverleugnung nicht wichtige Inhalte des christlichen Glaubens? 

Dirk Lüling: Das ist richtig, aber hochsensible Lastenträger leben das meist schon seit ihrer Kindheit. Sie haben sich selbst hingegeben oder sogar aufgegeben, bevor sie sich überhaupt selbst gefunden haben und wussten, wer sie sind. Und nun, als Erwachsene, stoßen sie an ihre  Grenzen. Anders gesagt: Sie haben ihren Kräfte-Tank in all den Jahren ziemlich leer gefahren und leben nun schon aus ihren Reserven. Diese Bibelverse bringen dann immer wieder zusätzlichen Druck in ihr Leben. So fangen sie an, ihre Reserven anzugreifen, weil sie meinen: Noch mehr Hingabe, noch mehr Opfer sind nötig! Das führt dazu, dass manche hochsensiblen Lastenträger schon recht jung im Burnout landen, weil sie ihre Grenzen nicht kennen oder nicht wahrhaben wollen.

Aber dann gibt es auch hochsensible Menschen, die immer genau wissen, was geschehen sollte und wie man das Leid in der Welt lindern könnte. Sie machen anderen ständig Vorschläge, was diese tun sollten, oder werden sogar anklagend. Damit machen sie sich keine Freunde.
 

ERF: Welchen Aspekt des Evangeliums würden Sie denn in einer Beratung betonen, wenn sie merken, dass sich ein Hochsensibler in einem andauernden Zustand der Selbstverleugnung befindet? 

Christa Lüling: Wir versuchen erst einmal zu erarbeiten, warum es ihnen schwer fällt, Grenzen zu setzen. Danach schauen wir uns an, wo und wie Jesus Grenzen gesetzt hat. Ein zweiter Punkt betrifft die Frage der persönlichen Aufopferung. Es wird immer wieder deutlich, dass es für viele Lastenträger leichter ist, sich selbst aufzuopfern, als sich auf die Vorstellung einzulassen, dass Jesus bereits für sie am Kreuz gestorben ist und ihre Last getragen hat. Wenn sie das für sich annehmen können, entspannt sich ganz viel bei ihnen.
 

ERF: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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