11.12.2010 / Adventsgeschichten

Von Engeln und Eseln: "Gastfreundschaft"

In einem kleinen französischen Dorf sind während des Zweiten Weltkrieges ganz besondere Weihnachtsgeschichten enstanden. Eine Lesereise

An den vier Adventwochenenden veröffentlichen wir jeweils eine Geschichte aus dem Buch "Von Engeln und Eseln: Geschichten nicht nur für Weihnachten". Es sind Geschichten, die den Kindern des kleinen Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt wurden, während Europa unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten litt. Die etwa 9.000 Bewohner des Dorfes haben in dieser Zeit fast 5.000 Flüchtlingen geholfen, darunter 3.500 Juden. Die Geschichte des reformierten Pastors André Trocmé enthalten immer wieder Anspielungen und Hinweise auf den Mut, den es vor allem in Zeiten von Terror und Tyrannei braucht. Das Buch ist im Neufeld-Verlag (5. Auflage) erschienen und kostet 12,90€. 


Gastfreundschaft

Zur Zeit des Archelaus, des Königs von Judäa und Samaria, gab es ein Dorf von Samaritern. Dieses Dorf war das ungastlichste aller samaritischen Dörfer. Es sah trist und schmutzig aus, war aus Vulkangestein gebaut und bewachte den Eingang eines Engpasses. Die jüdischen Reisenden, die auf dem Weg von Judäa nach Galiläa waren, mussten hier durch und ein hohes Wegegeld bezahlen.

Wenn sie das Dorf durchquerten, beeilten sie sich, um den Beleidigungen der Bewohner und den Steinwürfen der Gassenjungen zu entkommen. Sie richteten es so ein, dass sie diese Wegstrecke bei Tag zurücklegten, denn die Bewohner verbarrikadierten die Tore ihres Städtchens, sobald die Nacht hereinbrach, und überließen die Fremden den Schrecken des trostlosen Landes, in welchem sich die Schakale herumtrieben.

In einiger Entfernung von der Ortschaft, in einem baufälligen Häuschen, lebte ganz allein eine alte, arme, böse Frau. Sie verabscheute die Männer, weil ihr Mann, als er noch lebte, sie geschlagen hatte. Sie verabscheute die Frauen, die sie verleumdeten und missgünstig waren. Sie verabscheute die Kinder, weil sie selbst keine gehabt hatte.

Zum Leben hatte sie nur noch eine Ziege, einen wollenen Mantel, einen Käse und ein Stück Brot. Nun aber klopften eines Abends ein Mann und eine Frau bei dieser Alten an, da die Tore der Stadt verschlossen waren. Sie waren offensichtlich sehr müde. Es waren Juden.

»Was wollt ihr von mir?«, fragte sie unfreundlich.

»Habt Mitleid mit uns«, sagte der Mann mit dem verängstigten Blick verfolgter Leute. »Die Polizei des Archelaus sucht uns. Der König Herodes, sein Vater, wollte unser Kind schon in Bethlehem töten. Wir sind nach Ägypten geflohen. Da wir dort vom Tod des Herodes erfuhren, haben wir uns auf den Rückweg gemacht. Aber Archelaus ist noch grausamer als sein Vater. Er hat in Jerusalem dreitausend Menschen umgebracht, und seine Leute hätten uns in Bethlehem beinahe gefangen genommen. Wir wollen dieses verwünschte Königreich verlassen und nach Galiläa zurückkehren.«

Durch ihre halbgeöffnete Tür schaute die Alte die Reisenden böse an. Sie hasste die Juden, denn sie war eine Samariterin.

»Geht eures Wegs, ihr verfluchten Juden. Wenn die Polizei euch sucht, so ist es, weil ihr ein Verbrechen begangen habt. Ich will mich nicht mit den Leuten des Königs anlegen ...«

»Habt Mitleid mit uns«, rief die Frau, »wir haben uns verirrt. Ich habe Angst, ich bin müde.«

Die Alte begann höhnisch zu lachen. »Wofür haltet ihr mich denn? Vielleicht für eine Millionärin? Ich bin wahrscheinlich ärmer als ihr! Aber mir kommt niemand zu Hilfe. Ich habe ein halbzerfallenes Häuschen, um mich zu schützen, eine Ziege, die mir ein wenig Milch gibt: Das ist mein ganzer Besitz, und ihr wollt noch, dass ich ihn mit euch teile!«

Während sie noch sprach, machte sie ihre Tür schon wieder zu. Aber in diesem Augenblick öffnete die Fremde ihre Kleidung, und die Alte sah auf ihrem Arm etwas sehr Schönes: ein kleines blondes Kind, das friedlich schlief. Es entstand eine fast übernatürliche Stille. Dann, plötzlich, öffnete die Alte die Tür.

»Kommt herein«, murmelte sie.

Als der Mann sich am Feuer niedergelassen hatte, fing er wieder an zu klagen.

»Ich habe Hunger«, sagte er. »Wir haben so große Angst gehabt, dass wir uns keine Zeit zum Essen genommen haben.«

Die Alte erhob sich und holte den Käse und das Brot aus dem Wandschrank: »Das ist alles, was ich noch habe«, zischte sie und warf es auf den Tisch. Der Mann nahm es und teilte es mit seiner Frau. Jetzt fing die Fremde an zu klagen, sie fröstelte, wie jemand, der Fieber hat.

»Ich friere«, seufzte sie. Ohne ein Wort löste die Alte ihren schweren, wollenen, schwarzbraunen Umhang und legte ihn auf die Schultern der jungen Frau. Die Fremde nahm dieses Geschenk mit einem Lächeln an, wie eine Königin eine Huldigung annimmt. Dann fing das Kind, das im Schoß seiner Mutter versteckt lag, an zu weinen.

»Er hat Durst«, murmelte die Fremde. Immer vom gleichen unsichtbaren Zwang getrieben, kniete die Alte in der finstersten Ecke des Raumes nieder und fing an, die Ziege zu melken.

»Welch ein Glück, eine Ziege zu besitzen«, seufzte die Fremde, »ich habe keine Milch mehr für meinen Kleinen. Ja, wenn ich eine Ziege kaufen könnte! Aber dazu sind wir zu arm.«

Wütend war die Alte wieder aufgestanden. In ihrer Hand zitterte die Schale, die voll mit Milch war: »Da haben wir’s!«, schrie sie. »Ihr habt mir meine Nahrung genommen, ihr habt mir meinen Mantel genommen, und jetzt wollt ihr auch noch meine Ziege! Unverschämte, räuberische Juden seid ihr! Nehmt mein Haus, solange ihr hier seid, und jagt mich hinaus!«

Aber die Fremde deckte ohne ein Wort das Kind auf, um ihm zu trinken zu geben. Das Kind schien getröstet und lächelte in das Feuer hinein.

Die Alte betrachtete es: »Nehmt meine Ziege«, seufzte sie, »sie soll ihm gehören.«

Als sich die beiden Fremden am anderen Morgen auf den Weg machten, mit dem Mantel und der Ziege, wussten sie nicht, wie sie sich bedanken sollten! ... Die Alte schaute ihnen nach und legte sich dann auf ihr schlechtes Bett, um zu sterben. Noch nie war sie so glücklich gewesen. Sie empfand die Heiterkeit derjenigen, die alles verschenkt haben und die sich wunderbar frei fühlen im Hinblick auf die Güter dieser Welt.

Auch der Mann und seine Frau lächelten fröhlich am Morgen, als sie sich daran machten, die Ortschaft zu durchqueren. Sie bezahlten ihren Wegezoll. Alles schien für sie glücklich zu verlaufen, als ein dicker Mann sie mit einem Schrei anhielt: Es war der Dorfmetzger.

»He, ihr da!«, rief er. »Was ist das für ein Tier, das ihr wegführt? Ich glaube, ich kenne es. Ich bin es, der es verkauft hat!«

»Man hat es uns geschenkt«, antwortete der Fremde.

»Man hat es euch geschenkt!« sagte der Metzger mit erhobener Stimme. »Was für eine Erfindung! Dieses Tier gehört der ärmsten Frau des Dorfes. Ihr seid Diebe, raubgierige Juden, und nehmt immer, was euch nicht gehört!«

Aus der Ansammlung von Menschen, die sich bildete, erhob sich eine andere Stimme:

»Und dieser Mantel, den habt ihr auch gestohlen! Er gehört der Alten. Ich erkenne ihn. Ich habe ihn gewoben.«

»Ihr würdet auch noch das Haus genommen haben, das ich ihr vermietet habe, wenn ihr gekonnt hättet«, zischte ein kleiner, buckliger Mann, der Wucherer und Besitzer fast aller Häuser des Dorfes.

»Was sollen wir mit diesen Leuten tun, Rabbi«, fragte er und wandte sich um nach einer angesehenen, weißgekleideten Persönlichkeit.

»Man soll sie steinigen«, befahl dieser. Und die Menge bückte sich schon, um Steine aufzuheben.

Da öffnete die Fremde ihren Mantel und zeigte das Kind, das in ihren Armen eingeschlafen war. Es war so schön, so friedlich. Es schlief so tief inmitten des Tumults, dass die Samariter erstaunt zurückwichen. Auf ihren verzerrten Gesichtern erschien ein Lächeln. Ihre Hände ließen die Steine fallen.

»Lasst sie gehen«, sagte der Rabbi.

Die Nacht, die diesen Ereignissen folgte, war für mehrere Bewohner des Samariterdorfes eine Nacht ohne Schlaf. Der Metzger musste immer an die arme Alte denken, die jetzt ihrer einzigen Ziege beraubt war. Merkwürdigerweise empfand er beim Gedanken an die beiden Fremden, die sie geraubt hatten, keinen Zorn. Er selbst fühlte sich schuldig. Er sah in Gedanken die Hunderte von Tieren, die ihm gehörten, und fühlte sich verantwortlich für das Vorurteil, das man gegen die alte Frau hatte. Der Weber dachte an den Mantel der Alten ... und an die Dutzende von Mänteln, die er in seinen Schränken angehäuft hatte. Auch er hatte so etwas wie Gewissensbisse. Der Wucherer wälzte sich auf seinem Lager herum und schämte sich, weil er gewagt hatte, für das Haus mit dem schadhaften Dach einen Mietzins zu verlangen. Und der Rabbi, der geglaubt hatte, er sei mit Gott im Reinen, weil er gewissenhaft den Zehnten seines ganzen Einkommens bezahlte, litt moralisch, wenn er an die Käselaibe und die Kästen voller Mehl dachte, die in seinem Keller aufgereiht waren.

Am anderen Morgen trafen sich diese vier Männer, als ob sie sich verabredet hätten, an der Tür der Alten. Diese antwortete kaum, denn sie war sehr geschwächt, weil sie am Tag zuvor nichts gegessen hatte.

»Frau«, sagte der Metzger zu ihr, »hier hast du die zwei schönsten Ziegen meiner Herde, um die Ziege zu ersetzen, die man dir gestohlen hat.«

»Hier hast du die zwei schönsten Mäntel aus meinen Schränken, statt des Mantels, den man dir genommen hat.«

»Man hat mir nichts genommen«, sagte die Alte zu den erstaunten Männern, »ich habe ihnen alles geschenkt, auch den Käse und das Brot. Ich werde sterben, und ich bin ganz zufrieden.«

»Ihr werdet gar nicht sterben«, erwiderte der Rabbi, »denn hier sind zwei Käse und zwei Krüge voll Mehl. Und wenn ihr nichts mehr habt, bringe ich euch weitere.«

»Dazu braucht ihr nicht bis hierher zu kommen, Rabbi«, unterbrach ihn der Wucherer. »Dieses Haus ist zu weit entfernt vom Ort, und zu baufällig. Von heute an wohnt die Alte umsonst in einem Häuschen hinten in meinem Garten.«

Sobald die alte Frau die Stadttore durchschritten hatte, änderte sich alles in der Gemeinde der Samariter. Sie brachte mit sich eine Freiheit hinsichtlich der Güter dieser Welt, eine Seelengüte, die sich auf die ganze Bevölkerung übertrug. Die Einwohner, die zuvor so gewinnsüchtig gewesen waren, lernten, sich gegenseitig zu helfen und sich Geschenke zu machen, nur zum Vergnügen. Der Ältestenrat beschloss, abends nicht mehr die Stadttore zu schließen. Er schaffte die Zollstelle ab und ließ statt dieser eine Karawanserei eröffnen, wo alle Reisenden umsonst beherbergt wurden. Das Dorf, das nun mit Kalk geweißt wurde, erwarb sich bald den Ruf, der gastfreundlichste Ort von ganz Samarien zu sein. Die Legende erzählt sogar – aber das kann ich nicht nachweisen –, dass in diesem Jahr in diesem Dorf ein kleines Kind geboren wurde, aus dem später der Barmherzige Samariter wurde.