12.09.2023 / Interview

So wird der innere Kritiker leiser

Der innere Dialog führt manche Menschen in die Erschöpfung. Was hilft?

Viele Faktoren tragen zu einer Erschöpfung bei. Ein wichtiger Faktor kann der jahrelang, ja lebenslang gelernte innere Dialog sein. Dieser Dialog meint die Summe aller Gedanken, die Menschen intuitiv und oft unbewusst tagein und tagaus denken beziehungsweise sich selbst sagen. Diese Gedanken sind nie still – auch wenn andere Menschen davon gar nichts mitbekommen.

Die negativen Anteile dieses inneren Dialogs nennt die Psychologie auch den „inneren Kritiker“. Er äußert sich in Gedanken wie „Das war ja jetzt nichts!“, „Mist, das schaffe ich nicht!“ oder auch „Jetzt reiß‘ dich mal zusammen!“ Diese negativen Aussagen beeinflussen unsere weiteren Gedanken, unsere Stimmung und können sogar körperliche Reaktionen wie einen Kloß im Hals oder ein Zusammenziehen im Bauch verursachen/hervorrufen.

Diese negativen Gedanken rauben uns Kraft. Wie also können wir den inneren Kritiker zähmen – und so einer Erschöpfung vorbeugen? Wir haben den Psychotherapeuten Jörg Berger gefragt.

ERF: Herr Berger, oft prägen negative Gedanken unseren inneren Dialog. Wir treffen dann Aussagen wie „Ich kann wohl nicht mit Druck umgehen“ oder „Ich bin halt nicht so stark wie die anderen“. Wie begegnen Sie als Therapeut solchen Selbstaussagen?

Jörg Berger: Ich würde nicht sofort widersprechen. Diese Aussagen brauchen auch erst einmal ihren Raum und wollen ernstgenommen werden. Menschen kommen sich in diesen Momenten ungenügend vor im Vergleich zu anderen, die unbeschwerter durchs Leben gehen.

Aber ich darf als Therapeut auch vertrauen, dass meine Worte, meine Bemerkungen oder auch wie ich mit meiner Körpersprache reagiere, dazu beitragen, dass mein Gegenüber spürt: Da sieht jemand meine Lage anders. Da sieht jemand zum Beispiel die große Lebensleistung und Stärke, die ich trotz der vermeintlichen Niederlage habe. Das kann etwas sehr Ermutigendes sein.

Innerer Kritiker – Was ist das?

ERF: Bei Sätzen wie „Ich bin nicht so stark wie die anderen“ sprechen Sie auch vom inneren Kritiker. Wer ist dieser Kritiker eigentlich?

Jörg Berger: Ein großer Teil dieses inneren Kritikers stammt aus der Kindheit. Niemand ist von vollkommenen Eltern erzogen worden. Auch Eltern, die ihre Kinder lieben und es wirklich gut meinen, geraten in Stresssituationen. Dann sagen Eltern auch mal ungünstige Dinge, zum Beispiel: „Dieser Fehler wäre nicht notwendig gewesen!“, „Du hättest das besser machen müssen!“ oder „Sei nicht so empfindlich“ und so weiter.

Später im Erwachsenenalter stellt man bei solchen Gedanken vielleicht fest: Stimmt, das hat meine Mutter damals auch immer zu mir gesagt!

Die meisten Menschen haben eine Form des inneren Kritikers in sich. Das ist tragisch. Denn oft kritisieren wir uns selbst, wenn wir Ermutigung und Entlastungen brauchen. Aber genau dann schaltet sich der Kritiker ein und sagt niederschmetternde Dinge wie „Andere kriegen viel mehr hin als du. Wahrscheinlich stimmt mit dir irgendetwas Grundlegendes nicht.“

Jedoch liegt hier ein großer Hebel, mit dem wir unserer Erschöpfung vorbeugen können. Wenn es jemandem gelingt, dieser negativen Stimme etwas Positives entgegenzusetzen und zu sagen: „Nein, ich bin ganz schön stark!“, dann liegt darin großes Potenzial. Jeder sollte auch seine aktuelle Lebenssituation und die damit verbundenen Anforderungen berücksichtigen.

Gemessen daran regeln viele Menschen ihr Leben mit großer Stärke und Würde und können stolz darauf sein. Und die Menschen um uns herum, die wirklich Einblick in unser Leben haben, sehen das ja oft genauso.

Wahrnehmen, wo ich mich selbst schlechtmache

ERF: Dem inneren Kritiker vehement zu widersprechen, ist eine Strategie, die Sie in Ihrem Buch vorstellen. Worum genau geht es dabei?

Jörg Berger: Wenn es mir schlecht geht, sollte ich erst einmal in mich reinhören: Gibt es diese negative Stimme? Oft dauert es nur Sekunden, bis Menschen sie abrufen können. Sie merken: Richtig, da sage ich zu mir „Mensch, was bin ich bescheuert“ oder „Ich bin einfach nicht so gut wie andere“.

Man hat schon einmal einen wichtigen Schritt geschafft, wenn man den inneren Kritiker bemerkt, denn dann realisiert man schnell: Der ist ganz schön radikal und gemein! Denn zu jemand anderem würde ich ja nur im Ausnahmefall direkt sagen: „Bist du bescheuert!“ oder „Den Fehler hättest du doch voraussehen und vermeiden können!“ Zu uns selbst sagen wir soetwas aber ohne große Vorbehalte.

Dann ist es gut, wenn ich merke: Okay, da ist ein Dialog in meinem Inneren aktiv. Da ist etwas in mir, das zwar meine Gefühle beeinflusst oder sogar meine Entscheidung. Aber das bin nicht ich, sondern ein innerer Kritiker.
 

ERF: Es ist also besonders wichtig, diesen Dialog erst einmal wahrzunehmen und genau unterscheiden zu lernen?

Jörg Berger: Genau. Und das ist für viele Menschen ein großes Aha-Erlebnis. Sie merken: Die Aussagen meines inneren Kritikers sind nicht die einzig mögliche Sicht auf die Welt. Vielmehr steckt eine ungünstige Prägung dahinter, die mich in ähnlichen Situationen wieder klein macht. Und sehr wahrscheinlich ist das nicht die Wahrheit.

Dem inneren Kritiker Positives entgegensetzen

ERF: Wie kann ich dann dagegen vorgehen?

Jörg Berger: Wenn ich den inneren Kritiker bemerke, kann ich mich zum Beispiel fragen: „Was würde meine Freundin in einer ähnlichen Situation zu mir sagen, was würde sie denken?“ Die meisten merken: Sie würde völlig anders reagieren. Viel großzügiger, viel ermutigender. Dann kann man dem eine andere, positive Stimme oder Aussage entgegenstellen.

Zwar stellen sich dann nicht sofort positive Gefühle ein, denn sie sind noch nicht so stark verinnerlicht wie der innere Kritiker. Der ist ja sehr alt und eng mit meinem Gefühlsleben verwoben. Er wird noch ein Weilchen eine emotionale Macht haben.

Aber wenn ich meine heutige Überzeugung dagegenstelle, dann reduziere ich seine Macht und baue etwas in mir auf, an dem ich auch irgendwann meine Gefühle festmachen kann. Wenn ich das lange genug praktiziere, kommt der innere Kritiker seltener um die Ecke.  Stimme wird leiser und meine neuen Überzeugungen werden lauter und bestimmen mehr und mehr meine Gefühle.

Man kann den inneren Kritiker also nicht für immer ausschalten, das wäre eine Überforderung. Auch funktioniert es nicht, einfach zu sagen: „Ach, denk doch mal positiv!“. Aber jeder hat die Macht, in sich reinzuhören und zu fragen: „Gibt es einen Raum in mir, wo ich eine andere, passendere Überzeugung danebenstellen kann, die ermutigender, aufbauender und wahrer ist?“ Das hat einen großen Effekt.

Sich an die eigenen Qualitäten erinnern

ERF: Noch einmal konkret: Was kann ich auf die Sätze meines inneren Kritikers wie „Ich kann wohl nicht mit Druck umgehen“ oder „Ich bin halt nicht so stark wie die anderen“ antworten?

Jörg Berger: Ich kann mein Leben anschauen und mir sagen: „Ich bin wahnsinnig stark! Ich kann mir bewusst machen, was ich alles gut hinkriege. Beispielsweise was ich mit meinen Kindern Schönes erlebe, was ich ihnen ermögliche – obwohl ich alleinerziehend bin. In mir steckt eine unglaubliche Stärke und Lebenskunst! Darauf darf ich mit Recht stolz sein.“

Aber für manche ist diese Vorgehensweise ein wenig gefährlich. Denn wenn man einen starken inneren Kritiker hat, widerspricht er sofort. Er könnte dann sagen: „Ja, das mag ja alles sein, das machst du schon nicht schlecht. Aber warum hast du denn deine Beziehung in den Sand gesetzt? Schau mal, das Pärchen da drüben, wie die zusammen ihren Kinderwagen schieben – die haben doch eine schöne Liebesbeziehung – irgendwas stimmt mit dir nicht.“

Wenn ich meinen Kritiker reize, kann es also sein, dass ich mich warm anziehen und manchmal noch einmal kontern muss.


ERF: Und wie geht das?

Jörg Berger: Ich könnte dann etwas tiefer in meine Geschichte gehen und mir beispielsweise deutlich machen: „Meine Beziehung ist gescheitert, weil ich so großzügig bin. Ich habe mir diesen selbstbezogenen Typen gesucht. Der war ziemlich faszinierend, aber er kann eigentlich nur Beziehungen leben, wenn er jemanden hat, der immer nachgibt. Als ich das nicht mehr wollte, ist die Beziehung zerbrochen. Aber das war gut so! Es wäre ein Albtraum gewesen, das weiterzuführen.“

Ich erinnere mich also an meine Qualitäten und guten Entscheidungen. Ich mache mir bewusst, dass es völlig verfehlt wäre, mir allein Vorwürfe zu machen. Im Übrigen hat niemand das Recht, mir zu sagen, ich sei komisch, blöd oder beziehungsunfähig oder so etwas. Also kann ich das auch grundsätzlich meinem inneren Kritiker verbieten. Das kann funktionieren und auf diese Weise kann ich meiner Erschöpfung vorbeugen.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch!
 

Autor/-in: Sarah-Melissa Loewen