13.11.2025 / Persönlich

Mit fremden Augen weitersehen

Nicole Zweininger blickt bewusst durch unterschiedliche Brillen. Mal aus Respekt, mal aus Neugier.

„Was hast du gesagt? Das klingt so komisch, wenn du es aussprichst!“ Das Nachbarskind kicherte und bat mich, das Wort „Roller“ noch einmal zu wiederholen. Ich war sechs Jahre alt und mit meiner Familie gerade erst zurück nach Deutschland gekommen. Die Zeit in Zentralasien hatte meine Aussprache auf ihre eigene Weise geprägt. Verlegen erklärte ich, dass das eben meine Art zu sprechen war. Wenige Wochen später hatte ich mir das Hochdeutsche angewöhnt. Mein Akzent mit dem rollenden „R“ war verschwunden.

Kinder sind gnadenlos ehrlich. Sie sagen, was ihnen auffällt. In ihrer Offenheit steckt eine Wahrheit, die auch auf uns Erwachsene zutrifft: Was uns vertraut ist, halten wir für normal. Alles andere wirkt fremd. Wir finden den anderen interessant, komisch oder halten ihn manchmal sogar für falsch.

Damals als Kind habe ich eines verstanden, was mir bis heute wichtig ist:

Respekt ist nichts Abstraktes. Respekt zeigt sich mitten im Alltag.

Ich wünsche mir Respekt im Miteinander in Schule, Beruf und Beziehungen. Aber wie ernst ich es damit meine, merke ich erst, wenn ich mit dem Anderssein der anderen in Berührung komme. 

Der Blick durch die eigene Brille

Ich bin eigentlich keine Brillenträgerin. Und doch setze ich mir immer wieder eine auf. Sie ist unsichtbar, aber wirksam: Sprache, Kultur, Erziehung, Glaube, Erfahrungen – all das färbt meinen Blick. Was für mich selbstverständlich und normal ist, wirkt auf andere vielleicht irritierend oder fremd. Denn sie tragen eine andere Brille als ich. 

Diese Unterschiede sind nicht immer harmlos. Wir können uns damit gegenseitig verletzen, herausfordern und ganz schön nerven. Aber sie können uns auch weiterbringen.

Wir können an unseren Unterschieden wachsen. Genau hier begegnet mir das große Wort Respekt: in der Verwunderung, im Missverständnis, im Streit. 

Während meines Theologiestudiums wollte ich mir eine Brille kaufen, die mit einem Blaulichtfilter versehen ist. Ich wusste genau, wie sie aussehen sollte: goldfarben und leicht abgerundet. Die Form war mir wichtig, doch die Funktion noch mehr – der Filter sollte meine Augen schützen.

Also zog ich los, probierte Gestell um Gestell. Auf den ersten Blick sah jedes Glas gleich aus. Die Unterschiede waren zwar kaum sichtbar, aber doch entscheidend. Der Blaulichtfilter schimmerte in einem feinen Blau und war nur auf Fotos erkennbar.

Ähnlich erlebte ich es im Studium. Mit meiner neuen Blaulichtfilter-Brille vor Augen wurde mir nach und nach bewusst, wie unterschiedlich unser Blick auf die Welt auch im übertragenen Sinne ist. Ich saß mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen zusammen, hochkonzentriert, manchmal übermüdet, und wir diskutierten große Fragen: „Was ist Wahrheit?“, „Wie weit reicht Gnade?“, „Was ist ethisch vertretbar?“.

Wir redeten ehrlich, manchmal gnadenlos direkt, fast wie Kleinkinder. Und ich spürte: Dabei geht es nicht nur um Theorie, es geht um Identität. 

Hier prallten unterschiedliche Menschen aufeinander, die alle eine vom Leben maßangefertigte Brille auf der Nase trugen. So individuell wie die Gestelle, so verschieden unsere Perspektiven.

Mit anderen Brillen experimentieren 

Im Studium lernte ich, dass ein respektvoller Umgang nicht bedeutet, dass sich am Ende jemand durchsetzt, sondern dass wir bereit sind, die eigene Brille abzulegen und die Sichtweise eines anderen auszuprobieren. Manchmal bedeutete das für mich, eine Überzeugung abzulegen, manchmal meine Erfahrung beiseitezulassen, und immer hing es daran, meinen Stolz zu überwinden. 

Für mich hat es sich gelohnt, auch mal andere Brillen aufzusetzen und die Welt in neue Farben getaucht zu sehen. 

Manche Brillen passten sofort und ich trage sie häufig, bei anderen brauchte ich etwas Zeit zur Eingewöhnung, wieder andere drückten oder saßen zu locker, sodass ich sie nicht noch einmal aufsetzte.

Meine Hochschule hat mir wertvolles Wissen vermittelt. Aber was mich wirklich geprägt hat, war die kunterbunte Mischung an Menschen. Geformt haben mich weniger die Lehrinhalte und Theorien, sondern die aufrichtige Bereitschaft, unsere Unterschiede nicht nur zu ertragen, sondern zu feiern.

Einander mit Respekt und in Würde zu begegnen, das klingt groß. Aber es beginnt im Kleinen: mit meinem Blick. Mit meiner Haltung. Mit meinen Worten. Für mich ist es eine tägliche Übung. Respekt ist kein Selbstläufer. Er wächst nicht in der Theorie oder in Büchern, sondern in echten Begegnungen. In Gesprächen, die auch mal wehtun. In Diskussionen, die hitzig werden. Aber nur so lernen wir einander verstehen.

Respekt heißt, den anderen durch Gottes Brille zu sehen

„Gott schuf den Menschen zu seinem Bild“ lese ich in der Bibel in 1. Mose 1,27. Das klingt riesig, fast unbegreifbar. Aber in der Begegnung mit anderen wird es plötzlich konkret. Es bedeutet, durch einen anderen Filter zu schauen: Gottes Augen. Mit seinem Blick ist jeder Mensch wertvoll, einzigartig und geliebt. Wir sind verschieden und doch trägt jeder von uns dieses Ebenbild in sich. Genau diese Brille möchte ich im Alltag aufsetzen.

Respekt bedeutet für mich, einen anderen Menschen in seiner Eigenart wertzuschätzen und zu feiern, so wie Gott es tut. Zuerst seine Einzigartigkeit zu sehen und nicht seine Andersartigkeit. Nicht das, was mir fremd oder komisch vorkommt, im Blick zu haben, sondern ihn als würdevollen, von Gott geliebten Menschen zu sehen. 

Dieses Jahr habe ich erneut eine Reise nach Zentralasien gemacht. In Kasachstan saß ich bis spät am Abend mit einer Familie zusammen, als der Gastgeber sagte: „Nicole, ihr Deutschen habt die Uhr. Wir Kasachen haben die Zeit.“

Dieser Satz ist mir im Gedächtnis geblieben. Er war wie ein anderer Filter, eine neue Brille. Ich habe auf humorvolle Weise erkannt, wie unterschiedlich wir auf das Leben blicken. 

Mit meiner gewohnten Brille richte ich den Blick auf Effizienz, Planung und Taktung. Mit seiner Brille sah mein Gastgeber hingegen, dass Zeit vor allem Raum für Begegnung und Beziehung ist. 

Wenn ich es schaffe, unterschiedliche Brillen aufzusetzen, verändert sich nicht nur mein Blick auf andere, sondern auch mein eigenes Leben. Begegnungen werden leichter, Beziehungen tiefer und Konflikte ehrlicher. Dann erlebe ich, dass Respekt nichts Abstraktes bleibt, sondern mitten im Alltag sichtbar wird.

Nicole Zweininger ist Projektmanagerin bei ERF Global Hope. Als Missionskind lebte sie für sechs Jahre in Kirgisistan.

Autor/-in: Nicole Zweininger

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