13.12.2012 / Themenwoche Gastfreundschaft

Ich wünsch' mir Zeit.

Wie ein besonderes Geschenk zu einem Augenöffner für das wurde, was für uns Menschen zählt. Ein Kommentar.

Der Wunsch meiner Schwiegermutter zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest überraschte mich. Sie wollte nämlich nicht einfach einen Roman oder ein nützliches Küchengerät. Auf ihrem Wunschzettel stand Zeit, die sie bei einer Städtebesichtigung oder einer Wanderung gemeinsamen mit meinem Mann und mir verbringen wollte. „Sich Erinnerungen schaffen“, nannte sie das in Anlehnung an eine Großtante. Diese hatte ihr als junges Mädchen geraten, schöne Momente im Leben für das Alter zu sammeln.

Nun war dieser Geschenkewunsch in unserer materialistisch ausgerichteten Gesellschaft an sich sehr ehrenwert. Aber ist es nicht auch ein bisschen banal, einfach Zeit zu schenken? Ein schönes Buch oder ein besonderes Kleidungsstück wären mir wertiger vorgekommen. Meine Schwiegermutter hat trotzdem bekommen, was sie wollte. Und nicht nur das: Seitdem ist gemeinsame Zeit fest eingeplant, wenn wir überlegen, was wir ihr schenken können.

Zeit ist wertvoller als Geld

Zugleich ist dieser ungewöhnliche Weihnachtswunsch zu einem Schlüsselerlebnis für mich geworden. Ich begriff, dass Zeit in unserer hektischen und mit allen materiellen Gütern gesegneten Gesellschaft das Kostbarste ist, was man einem Menschen schenken kann. Nur in gemeinsam verbrachten Momenten lerne ich den anderen kennen, fasse Vertrauen, kann ich Wertschätzung ausdrücken und erfahren. Wer von diesen Augenblicken zu wenige bekommt oder sie bewusst meidet, hat am Ende seines Lebens wirklich Wesentliches verpasst. Ein volles Bücherregal oder eine perfekt ausgestatteter Kleiderschrank ersetzen nie die Erinnerung an lustige oder bewegende Momente, denen die erwähnte Großtante eine solche Bedeutung beimaß.

Vielleicht gehören Beziehungen sogar zu den Schätzen, die wir für den Himmel sammeln können. Bestimmt freut sich Gott aber darüber, wenn wir im oben genannten Sinne Gemeinschaft miteinander haben. Denn immer wieder lässt er uns durch biblische Erzählungen oder seine Gebote mitteilen, wie hoch Freundschaften, die Ehe, gesunde Familienbeziehungen, gute Nachbarschaft und Gastfreundschaft bei ihm im Kurs stehen. In der Geschichte von Adam und Eva stößt er uns geradezu mit der Nase darauf, wie wichtig es ist, dass wir unser Leben mit dem anderer Menschen verknüpfen. Der jüdische  Religionsphilosoph Martin Buber packte diese theologische Erkenntnis  in den viel zitierten, aber deswegen nicht weniger zutreffenden Satz: „Alles wesentliche im Leben ist Begegnung.“

Ein liebenswerter Zeitgenosse werden

Nun könnte dieser Kommentar hier mit einem wohligen Gefühl und dem Vorsatz enden, dass wir uns alle mehr auf dieses Wesentliche konzentrieren. Ich möchte aber einen zweiten Aspekt ergänzen, weil ich glaube, dass Gott ihn – vielleicht mit einem Augenzwinkern – in sein Konzept von Gemeinschaft eingebaut hat: Nur in gemeinsam verbrachten Momenten kommt es auch zu Spannungen. Wo ich es verbindlich mit anderen Menschen zu tun habe, komme ich unweigerlich unter den Hammer einer Charakterschmiede: „Eisen wird mit Eisen geschärft, und ein Mensch bekommt seinen Schliff durch Umgang mit anderen.“ (Sprüche 27,17)  

Insofern ist gemeinsame Zeit mit anderen Menschen auch Gottes Werkzeug, um uns vor einem Lebensstil zu bewahren, bei dem wir nur um uns selbst kreisen. Eine Bekannte hat diese Erkenntnis in die Tat umgesetzt, indem sie sich als Singlefrau bewusst dafür entschied, in eine WG zu ziehen. Dort war sie zwar mit den beschriebenen Herausforderungen konfrontiert,  gewann für ihre Persönlichkeit aber mehr, als ihr der Rückzug in eine eigene Wohnung gebracht hätte. Nicht jeder muss diesen Weg wählen. Was wir jedoch alle brauchen, ist Umgang mit Menschen, die dazu beitragen, dass wir hier und da die Hörner ein wenig abstoßen.

Das größte Geschenk überhaupt

Dem anderen Zeit zu schenken, heißt letztlich, sich mit all seinen Schwächen und Stärken selbst zu schenken. Es heißt, Nähe zu wagen und dem Nächsten einen Platz im eigenen Leben anzubieten. Mehr kann ein Mensch einem anderen nicht geben – auch und gerade zu Weihnachten nicht. Ich bin meiner Schwiegermutter dankbar, dass sie mich diesem Verständnis näher gebracht hat.

Weitere Artikel zum Thema Gastfreundschaft:
Welcome to my world!
Auf gute Nachbarschaft!
Muss ich gastfreundlich sein?
Es muss kein Drei-Gänge-Menü sein
Autor/-in: Hanna Willhelm