26.06.2012 / Themenbeiträge "Kleines, altes Deutschland"
Herausforderung demografischer Wandel
Deutschland steht vor großen Veränderungen. Eine Analyse mit Daten und Fakten zur Lage.
Die Menschen in Deutschland leben immer länger, zugleich gibt es immer weniger junge Leute. Der demografische Wandel ist im vollen Gang. Dr. Ekkehard Schrey skizzierte anlässlich einer Tagung der Studentenmission in Deutschland e.V. (SMD) Fakten und Folgen dieser Veränderungen:
Demografischer Wandel – den Begriff kennen wir vermutlich alle. Aber was bedeutet er? Für mich wird der demografische Wandel schon im persönlichen Umfeld spürbar. Ich bin 54 Jahre alt, meine Frau und ich haben einen Sohn. Für uns persönlich bedeutet das zur Zeit noch nichts – das ist für uns Normalität. Aber mir ist klar: Einiges, was in der Generation vor uns möglich war, wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Meine Großmutter wohnte bis zu ihrem Lebensende mit 96 Jahren in ihrer eigenen Wohnung. Von ihren sieben Kindern lebten sechs am gleichen Ort, von denen sie im Alter gepflegt werden konnten. Die Erwartung, dass mein einziger Sohn die Pflege übernimmt, ist für mich weltfremd. Er soll eine Familie gründen und sein eigenes Leben leben! Neben meiner Frau bleiben also nur die Pflegedienste und vielleicht irgendwann ein Umzug in eine behindertengerechte Wohnung. Damit sind wir mitten im Thema – Herausforderungen durch den demografischen Wandel.
Babyboomer und Pillenknick
Was genau auf uns zukommt, weiß keiner genau. Doch wir können uns einige Zahlen und Prognosen anschauen. Eine entscheidende Zahl in der Demografie ist der sogenannte Altersquotient (AQ). Er gibt die Zahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur jüngeren (arbeitenden) Bevölkerung an (zwischen 20 und 64 Jahren). Im Jahr 1963 lag der Altersquotient bei 21% – das war noch zur Zeit der „Babyboomer-Generation“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch dann kam die Antibabypille und es entstand der sogenannte „Pillenknick“ in der Alterspyramide. So lag der Altersquotient 1980 bereits bei 27% und im Jahr 2008 bei 34%. Die „BabyBoomer“ sind heute zwar noch im Beruf, aber die Anzahl der Menschen, die ins berufsfähige Alter kommen, ist deutlich gesunken.
Die Geburtenrate sinkt
Die entscheidende Kenngröße für diese Entwicklung ist die Geburtenrate (Kinder je Frau). Damit eine Bevölkerung langfristig gleich bleibt, ist bei einer geringen Kindersterblichkeit eine Geburtenrate von 2,08 nötig. Von 1950 bis 1965 stieg die Geburtenrate von 2 auf 2,5 an. Doch seit 1967 gibt es dann innerhalb von nur fünf Jahren ein Absinken auf eine Geburtenrate von nur noch 1,5 und darunter („Pillenknick“), wo sie seit dem geblieben ist. Die leichten Unterschiede zwischen BRD und DDR haben sich nach der Wiedervereinigung ausgeglichen, so dass die Geburtenraten in den alten und neuen Ländern heute praktisch identisch sind (1,4).
Bevölkerungsentwicklung: Mehr Todesfälle als Babys
Bis 1973 ist die Bevölkerung in Deutschland gewachsen. Doch seit dem gibt es in Deutschland mehr Todesfälle als Geburten, womit die Bevölkerungszahl zunächst schrumpfte. Dass die Bevölkerung in Deutschland dann ab 1985 wieder ansteigt, liegt einzig an der Zuwanderung von Ausländern. Für die zukünftige Entwicklung sind nun drei Parameter entscheidend: Geburtenrate, Lebensdauer und Einwanderung. Alle Prognosen machen für diese drei Parameter bestimmte Annahmen und rechnen dann die weitere Entwicklung hoch. Die Grundannahmen einer „mittleren“ Prognose sind: Die Geburtenrate bleibt bei 1,4, die Lebenserwartung entwickelt sich bis 2060 auf 85 Jahre für Jungen und 89,2 bei Mädchen, und es gibt eine jährliche Zuwanderung von 100.000 Personen. Im Ergebnis ergibt sich für das Jahr 2020 dann ein Altersquotient von 39% (im Vergleich zu 34% 2008). Die Auswirkungen werden in den nächsten Jahren demnach noch nicht allzu gravierend sein.
Doch weitere zehn Jahre später wird es wohl ganz anders aussehen: Im Jahr 2030 liegt der Altersquotient bei 53%, 2040 steigt die Zahl auf 62% und 2060 schließlich auf 67%. Auch wenn man mit unterschiedlichen Grundannahmen rechnet, wird der Altersquotient nicht nur annähernd die Größenordnung von heute erreichen. Zusammengefasst bedeutet das: Den Maximalwert der Bevölkerung in Deutschland haben wir 2006 erreicht. In den nächsten Jahren werden wir einen gravierenden Rückgang der Bevölkerungszahl erleben. Selbst eine massive Zuwanderung würde das nicht komplett kompensieren.
Direkte ökonomische Folgen: Rentenversicherung
Welche Folgen wird die Veränderung der Demografie haben? Da wäre zunächst der Bereich der Altersversorgung. Dieses System steht auf zwei Säulen. Auf der einen Seite gibt es die gesetzliche Rentenversicherung (bzw. die Beamtenpensionen), auf der anderen die private
Vorsorge. Bei der Rentenversicherung interessieren zwei Dinge: der Beitragssatz sowie die Rentenhöhe. Das Ziel der Politik ist es erstens, den Beitragssatz so niedrig wie möglich zu halten und zweitens die Renten weiterhin an die Nettoeinkommen zu koppeln.
Das Problem ist nur, dass beide Ziele in Zeiten einer älter werdenden Bevölkerung nicht zusammenpassen. Die einzige Variable, diese beiden Ziele zu verbinden, ist die Altersgrenze. Eine höhere Altersgrenze bedeutet längere Zeiten der Einzahlung und kürzere Zeiten des Rentenbezugs. Deshalb wird es in den nächsten Jahren noch heftige Diskussionen um die Altersgrenze geben. Der oben angesprochene Altersquotient wird bei einer Altersgrenze von 65 Jahren 2020 knapp unter 40% liegen. Wenn dieser Altersquotient bis zum Jahr 2030 so bleiben soll, brauchen wir allerdings eine Altersgrenze von 69 Jahren. Und wenn wir 2030 einen Altersquotient von 34% (wie 2008) haben wollen, bräuchten wir ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren.
Das bedeutet in der Konsequenz: der Handlungsrahmen bei der Rentenversicherung wird durch drei Aspekte gebildet: Beitragssatz, Rentenniveau und Altersgrenze. Bei gleichbleibendem Beitragssatz und Rentenniveau wird die Altersgrenze langsam auf über 70 Jahre ansteigen müssen. Wenn die Altersgrenze hingegen nicht verändert werden soll, müssen die Beitragssätze auf utopische Werte ansteigen. Und wenn sowohl Beitragssatz als auch Altersgrenze begrenzt werden, dann bleibt nur eine deutliche Reduzierung der Rente. Eine Prognose geht bis 2040 von einem massiven Anstieg des Beitragssatzes auf Werte im Bereich zwischen 27% und 31% aus.
Krankenversicherung
Auch bei der Krankenversicherung wird die Änderung der Demografie Folgen haben – und die erleben wir schon. Da wir in Zukunft immer mehr alte Menschen haben werden, wird auch der Aufwand für medizinische Behandlungen deutlich ansteigen. Damit wird klar: der Gestaltungsspielraum zur Steuerung des Beitragssatzes der Krankenversicherung ist deutlich geringer als bei der Rentenversicherung, sofern man nicht irgendwann Gesundheitsleistungen „rationiert“. Allerdings gibt es noch eine relativ große Streubreite der Prognosen für den Beitragssatz.
Indirekte ökonomische Folgen
Neben diesen direkten ökonomischen Folgen des demografischen Wandels wird es auch indirekte ökonomische Folgen geben: Das Arbeitskräfteangebot in Deutschland wird sich massiv verändern. Zukünftig stehen einer immer größer werdenden Zahl älterer Erwerbstätiger immer weniger jüngere Erwerbstätige gegenüber. Gleichzeitig verringert sich auch die Gruppe der jungen Menschen, die am Ausbildungsmarkt und perspektivisch am Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
Zugleich wird der demografische Wandel zu einem erhöhten Bedarf an Fachkräften führen. Das betrifft z.B. den Pflegebereich, wo schon heute regional zahlreiche Stellen nicht besetzt werden können. In 20 Jahren werden wir vermutlich 50% mehr Pflegebedürftige als heute haben – und gleichzeitig eine deutlich geringere Anzahl von Menschen im berufstätigen Alter. Auch im Bereich Technik werden Fachkräfte fehlen. Die Folgen dieses Arbeitskräftemangels auf die Volkswirtschaft wird man heute nicht berechnen können – aber dieser Mangel wird nicht folgenlos bleiben.
Gesellschaftliche Folgen: Immer weniger klassische Familien
Auch im gesellschaftlichen Bereich hat der demografische Wandel Folgen. Das sichtbarste Zeichen dafür sind die Größe der Familien bzw. die Größe der Haushalte. Die Anzahl der Haushalte mit drei, vier und mehr Personen ist in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen. Gleichzeitig sind Haushalte mit einer oder zwei Personen signifikant größer geworden. Gleichzeitig sehen und spüren wir immer mehr, wie sehr sich die Gesellschaft und damit unser Zusammenleben ändern wird. Wir merken, dass es die „klassischen“ Familienstrukturen in Zukunft immer weniger geben wird. In der Konsequenz bedeutet das: immer weniger Menschen erfahren als Kinder Familie oder eine Gemeinschaft, in der man zusammenhält. Damit bekommen immer weniger Menschen das mit, was man so oft als „Sozialkapital“ bezeichnet.
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Wir danken der SMD für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung! (Bild: SMD)
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Herausforderungen durch den demografischen Wandel sind gewaltig: Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung – diese drei sozialen Sicherungssysteme haben bereits Änderungen erfahren und müssen sich weiter ändern. Auch im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gibt es immer mehr Reaktionen. Ein Ansatz ist zum Beispiel die Erhöhung der Beschäftigungsquote. Diese Frage ist verbunden mit der Frage, wie Frauen noch intensiver in Unternehmen tätig werden können. Dazu gehört das Thema Kinderbetreuung. Andere Unternehmen fangen an, sich die Frage zu stellen: Wie können wir Mitarbeiter möglichst lange bei uns arbeiten lassen?
So verwundert es nicht, dass das Thema Familie von der Politik aufgegriffen wird. Ein augenfälliges Beispiel für die Neuentdeckung des Familienbegriffs sind die Mehrgenerationenhäuser. Das Familienministerium schreibt dazu: „Der demografische Wandel hat die Lebensverhältnisse verändert. Familien leben heute nicht mehr selbstverständlich unter einem Dach. Mehrgenerationenhäuser reagieren darauf: Sie nutzen die Potenziale aller Generationen – gerade auch außerhalb der Familie.“ Die Lösungsansätze der Politik gehen in Richtung eines neuen „Miteinanders“. Es scheint fast so, als ob es sich dabei um eine „Neuentdeckung“ der Familie oder zumindest der Werte einer Familie handelt.
Lesen Sie zum Thema auch den Beitrag von Professor Johannes Reimer "Familie im sozialen Wandel."