07.04.2010 / Interview
Freiheit gibt es nur in Beziehungen
Menschen mit Bindungsstörungen fällt es schwer, tiefe Beziehungen einzugehen. Woran liegt das und ist Veränderung möglich?
Katja von Armansperg ist in eigener Praxis als Kommunikationstrainerin, Lebens- u. Paarberaterin und Aussöhnungstherapeutin tätig und leitet Rückbindungen an. Im Interview mit ERF Medien erklärt sie, was Beziehungs(un)fähigkeit ist, und wie man es lernen kann, sich auf seine Mitmenschen einzulassen.
ERF: Sie sind Kommunikationstrainerin und helfen Menschen, beziehungsfähiger zu werden. Wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?
Katja von Armansperg: Ich bin von Haus aus Diplombetriebswirtin und kam in eine Ehekrise. In dieser Situation habe ich angefangen, meine Beziehungsfertigkeiten in Frage zu stellen. Ich bin darauf gekommen, dass etwas an meinem Verhalten und meiner Kommunikation nicht stimmen kann. Mit der Ausbildung zur Kommunikationstrainerin hat alles angefangen. Es hat mir viel Spaß gemacht, weil ich genau das gelernt habe, was ich vorher nicht konnte. Es ging dabei zum Beispiel um das aktive Zuhören oder darum, Beziehungen zu gestalten und Konflikte zu lösen. Durch diese Fertigkeiten habe ich meine neue Lebensgrundlage entwickelt, weil ich heute ständig zuhöre und Menschen dabei begleite, ihre Probleme zu lösen, um gelingende Beziehungen zu leben.
ERF: Der Begriff Beziehungsunfähigkeit ist sehr schwammig definiert. Was versteht man darunter?
Katja von Armansperg: Ich würde es eher Beziehungsstörung nennen oder Bindungsstörung. Es geht nicht um Unfähigkeit, denn in vielen Rollen ist man ja sehr fähig. Nur in nahen Beziehungen, wie der Partnerschaft, zeigen sich die Störungen als Bindungsstörungen, die es verhindern, sich ganz in eine Beziehung einzulassen, oder das eigene Glück zu gestalten. Dann fehlen einem wichtige Kompetenzen, die man nachlernen und Heilung, die man erfahren kann.
ERF: Wie kommt es dazu, dass es einem in manchen zwischenmenschlichen Bereichen schwerer fällt Beziehungen gelingend zu leben, als in anderen?
Katja von Armansperg: In lockeren Beziehungen fallen die eigenen Defizite nicht so schnell auf. In der Nähe wird sichtbar, ob es einem möglich ist, sich aufeinander geistig, seelisch und körperlich gut einzulassen, ohne Ängste zu bekommen, misstrauisch zu werden oder sich zu überfordern.
Die für unsere Beziehungsfähigkeit wichtigste Zeit sind die ersten sieben Lebensjahre. Die Schwangerschaft und die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend. Erleben wir in dieser Zeit Nähe zu unserer Mutter, ihre emotionale Offenheit für uns, eine stabile Bindung und die Möglichkeit, ein autonom denkender, fühlender und handelnder kleiner Mensch zu werden, werden wir vertrauensvoll, selbstsicher und bindungsfähig. Haben wir darin einen Mangel, z.B. durch eine abwesende, kranke oder traumatisierte Mutter, die uns nicht das an Sicherheit, Halt und Freiheit hat geben können, was wir gebraucht hätten, bleibt der Mangel und wird in unserer nächsten nahen Beziehung sichtbar.
Eine Mensch, der z. B. die Aussage trifft: „Ich will keine Beziehung, weil ich Angst kriege zu verletzen oder verletzt zu werden, wenn ich mich auf jemanden einlasse“, ist stecken geblieben in seinem Kindheitsschmerz. Damals musste er es aushalten und weiß jetzt noch nicht, dass er heute die Wahl hätte, eine nahe Beziehung gelingend zu gestalten. Weil er unbewusst denkt, eine nahe Beziehung würde wieder so schmerzlich wie früher, vermeidet er diese Gefahr lieber, indem er allein bleibt. Für ihn ist es heute angenehmer, ohne Beziehung zu leben, als evt. eine Beziehung zu wiederholen, die ihn verletzt und die ihn an den Ursprungsschmerz erinnert.
Heilung gibt es nur in Beziehungen
ERF: Was kann jemand machen, der Angst hat, sich auf tiefe Beziehungen einzulassen?
Katja von Armansperg: Als Erstes sollten wir wissen, dass wir Menschen dazu neigen, die Verletzungen des Lebens in naher Beziehung unbewusst so lange zu wiederholen, bis wir daran heilen. Was in Beziehung verletzt wurde, kann auch nur in Beziehung wieder heilen.
Um uns tiefer in Beziehung einlassen zu lernen, gibt es zwei Ebenen. Einmal die individuelle Ebene und die Ebene der Herkunftsfamilie. Auf der Ebene der Herkunftsfamilie kann es schädliche familiäre Beziehungsmuster geben, die sich oft über Generationen fortsetzten und die gelöst werden wollen. Ich erlebe, dass sich diese Lasten durch Seelsorge, Gebet und das christliche Familienstellen auflösen können.
Auf der individuellen Ebene geht es darum, zu erforschen, was ich selber tun kann, um meinen alten Mangel zu stillen, und dafür in die Verantwortung wachsen. Wir brauchen Erkenntnis darüber, aus welcher Lebensphase mein Mangel kommt, wie er aussieht, wie ich heute gut für mich sorgen kann, damit ich satt werde - bis die Liebe in mir wieder fließt. Dabei geht es auch um Versöhnung mit meinen Eltern nach dem vierten Gebot und mit meiner Geschichte.
In dem Augenblick, in dem man realisiert, es geht bei mir um Bindungsfähigkeit, kann man anfangen, etwas zu verändern. Man kann lernen, es überhaupt auszuhalten in einer Beziehung, ohne wegzurennen, den Kampfimpuls zu bekommen oder zu verletzten oder sich anzupassen und in sein Leid zu fügen. Vertrauen in mich und in andere kann wieder wachsen, wo ich meine Freiheit neu entdecke, dass ich mich und die nahe Beziehung heute gestalten kann, im Vergleich zu meiner Hilflosigkeit von früher.
ERF: Warum sind denn tiefgehende Beziehungen wichtig - reicht es nicht, wenn man auf der Arbeit ein paar nette Kollegen und einen lockeren Freundeskreis hat?
Katja von Armansperg: Für viele Menschen heute muss das leider reichen, aber eigentlich reicht es nicht. Wir sind für nahe Beziehungen gemacht, und Gott hat uns tatsächlich in eine Abhängigkeit von Menschen hineingeboren. Wir sind und bleiben beziehungsabhängig. Allerdings meint Gott damit nicht Beziehungssucht und eine negative Abhängigkeit. Wenn wir erwachsen sind, wird es eine freiwillige Sache zu lieben und sich auf jemanden einzulassen und das eigene Grundbedürfnis nach naher Beziehung stillen zu lernen. Das ist mit Arbeit verbunden, wie alles im Leben, aber es lohnt sich, wie wenig Anderes.
Nahe Beziehungen sind auch deswegen wichtig, weil wir uns durch ihr Gelingen so kompetent und glücklich fühlen können, wie durch nichts anderes. Wenn ich als Erwachsener erlebe: „Ohne nahe Beziehungen fühle ich mich freier“, dann stimmt es nur vordergründig. Ich brauche nahe Beziehungen. Denn es gibt echte Freiheit nur in Beziehungen, nicht ohne. Frei fühle ich mich, wenn ich Liebe als ein freiwilliges Geschenk geben und annehmen kann. Ich muss lernen, meine Ich-Grenzen sauber zu ziehen, konfliktfähig zu werden und Empathie für mich und einen anderen zu entwickeln.
Lagerfeuer-Romantik für Einzelgänger?
ERF: Mir gefällt Ihre Aussage, dass man nur in Beziehungen Freiheit finden kann. Ich vermute, das wird heute oft gerade anders herum empfunden.
Katja von Armansperg: Es wird einem auch schon fast eingeredet, dass es so wäre. So wie dieses Bild des „lonely wolf“ in der Marlboro Werbung - als wäre es besonders schön, alleine am Lagerfeuer zu sitzen. Dieses Bild ist grotesk. Das macht vielleicht einmal Spaß. Aber ansonsten sehnt man sich schon am zweiten Abend nach seinen Freunden, mit denen man ums Lagerfeuer sitzen und erzählen kann. Da unterstützt die Werbung ein falsches Bild von einer Unabhängigkeit von nahen Beziehungen.
ERF: Ist es ein gesellschaftliches Phänomen, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten mit Beziehungen zu haben scheinen?
Katja von Armansperg: Absolut. Es wird gesellschaftlich legitimer, Beziehungen bei den geringsten Problemen abzubrechen, statt die Ärmel hoch zu krempeln und an mir und der Beziehung zu arbeiten. Man investiert sich oft nicht ganz und lässt sich ein Hintertürchen offen. Dieser Trend ist gefährlich, denn er hat etwas zu tun mit unserer Art, Bindungen wertzuschätzen. Die Bindung der ersten drei Lebensjahre ist faktisch die wesentlichste Zeit überhaupt für das Erlernen von Vertrauen und Bindungsfähigkeit, den Bausteinen der Glücksfähigkeit eines Menschen.
Wenn das politisch nicht wertgeschätzt wird, dann kommt es zu einer traurigen Schieflage in einer Gesellschaft. Wenn alle denken, dass es nichts mehr wert wäre, sich die ersten drei Jahre der Entwicklung des eigenen Kindes hinzugeben, verschenkt eine Gesellschaft das Wertvollste, was es überhaupt gibt: Eine sichere Bindung für ein Kind, durch die es sich zu einem Menschen entwickeln kann, der beziehungsfähig ist und zukünftig Verantwortung in der eigenen Familie und Gesellschaft übernehmen können wird.
ERF: Was kann der Einzelne machen, um diesem Trend entgegen zu wirken?
Katja von Armansperg: Ich kann Ihnen sagen, was ich mache. Ich liebe und brauche Beziehungen. Ich verbringe regelmäßig Zeit mit meinen Freunden und meiner Familie, gehe jede Woche in meinen Hauskreis und in meine Gemeinde. Ich investiere täglich in mich und meine Beziehungsfähigkeit und in die meiner Kinder. Ich arbeite ohne Unterlass daran, dass innerhalb meiner Beziehungen Gottes Liebe noch freier und kraftvoller strömen kann.
ERF: Was kann ich tun, um Menschen zu unterstützen, die sich selbst schwer damit tun, Beziehungen einzugehen?
Katja von Armansperg: Auf keinen Fall verschonen. Wenn Menschen mir wirklich am Herzen liegen, dann verschone ich sie nicht, wenn ich den Eindruck habe, dass sie sich selbst oder mir im Weg stehen. Letztlich fehlen uns oft nur die Übungschancen mit Menschen, die es gut mit uns meinen und uns liebevoll aber ehrlich sagen, wie wir überhaupt wirken. Wir brauchen aber diese Chancen, um zu wachsen und um uns selbst ehrlich und realistisch einzuschätzen zu lernen. Wir brauchen auch die Fähigkeit, uns selbst von außen zu betrachten und zu sagen: „Was gibt es an mir, was ich noch weiterentwickeln sollte, um mich und andere glücklicher zu machen?“. Wir sollten uns Raum geben, wachsen zu dürfen, denn sonst werden wir zu knorrigen Eichen. Im partnerschaftlichen Sinn werden wir sonst immer unbrauchbarer für nahe Beziehungen.
Es geht für mich darum, die Beziehungsfähigkeit in mir und anderen zu fördern, indem ich mein Begrenztheit und die des Gegenübers als Herausforderung zur Entwicklung annehmen lerne. Nicht zu viel fordern, aber auch nicht zu wenig fördern. Ich erlebe, dass Gottes Liebe größer ist, als alle unsere Ängste. Es ist wichtig, dass ich mich letztlich immer wieder in nahe Beziehung hinein wage, auch wenn ich gerade lieber Lust hätte sie zu vermeiden und mich zu verkriechen. Ich darf mich selbst mit Gottes Hilfe beim Schopf packen und aus meiner Lethargie oder Beziehungslosigkeit heraus holen.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch!
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