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11.05.2011 / Gruppendynamik im Hauskreis / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Jörg Berger

Wohin mit den Gefühlen?

Ein Hauskreis ohne persönlichen Austausch ist fade. Zu viel Intimität tut aber auch nicht gut. Wie findet man eine gute Balance?

Im Hauskreis Kirchdorf Nord ist das Gespräch wieder sehr theologisch. Nach einer Weile reden nur noch die Männer. Anne gibt sich einen Ruck und fragt: „Und was heißt das denn jetzt für uns persönlich?“ Anne hört einige Maßstäbe, wie man als Christ eigentlich leben sollte. Vor dem Beten werden noch alltägliche Anliegen ausgetauscht, für die der eine Kraft, der andere Weisheit braucht. Es folgt routiniertes Gebet. Dann ist der Abend zu Ende. Anne denkt sich beim Nachhausegehen: „Das kann doch nicht alles sein. Haben wir denn keine Träume und keine Ziele mehr? Und warum läuft alles so unpersönlich ab? Wenn ich ehrlich bin, bringt mir der Hauskreis nicht mehr viel. Da erlebe ich Gott stärker, wenn ich alleine in der Bibel lese.“

Der Hauskreis Kirchdorf Süd ist heute ganz anders zu Ende gegangen: Es ist viertel vor zehn und der Austausch von Gebetsanliegen beginnt. Als Alexa an die Reihe kommt, halten die andern unwillkürlich die Luft an. Alexa ist dankbar für eine schöne Begegnung in der Stadt. Die anderen atmen schon auf, aber dann kommt es doch, wie es kommen muss: Alexa spricht von ihrem Vater, der sie gestern wieder am Telefon gedemütigt hat. Alexa weint. Man versteht sie kaum noch. Während sich Alexa die Nase putzt, werfen einige Ratschläge ein, wie Alexa mit ihrem Vater umgehen könnte. Aber Alexa fühlt sich nicht verstanden. Wenn das so einfach wäre! Alexa erklärt, dass ihr Vater sie zwar heute nicht mehr schlägt, sie aber trotzdem ganz starr wird, wenn er laut redet. Und genauso ging es Alexa in ihrer letzten Beziehung: Männer behandeln sie einfach schlecht. Es legt sich eine beklemmende Stille auf den Hauskreis. Patrizia reicht Alexa ein Taschentuch und legt ihr die Hand auf die Schulter. Jetzt hat jeder das Gefühl, dass seine Gebetsanliegen läppisch sind im Vergleich zu Alexas Not. Es fallen auch nur noch Stichworte, zum Glück findet der Hauskreisleiter gute Worte, um Alexas Anliegen vor Gott zu bringen.

Wie Gruppennormen entstehen

Die Gefühlskultur beider Hauskreise hat ihre Geschichte. Alexa hat sich natürlich nicht von Anfang an so intensiv eingebracht. Als Alexa neu im Hauskreis war, hat sie betont: „Es ist so schön, dass wir hier alles miteinander teilen können.“ Damit hat Alexa eine Gruppennorm gesetzt, und zwar eine recht einseitige. Kann man im Hauskreis wirklich alles miteinander teilen? Niemand hat Alexa widersprochen. Auch andere Hauskreisweichen sind auf Nähe gestellt. Man kann es schon an der Anordnung von Sofa, Sessel und Stühlen sehen, dass die Teilnehmer sich nahe kommen werden. Das Gespräch dreht sich oft darum, wie Gott erlebt wird oder noch intensiver erlebt werden könnte.

Im Hauskreis Kirchdorf Nord haben sich die Gruppennormen ganz anders entwickelt. „Glaube ist kein Gefühl“, auf diese Aussage ist das Bibelgespräch immer wieder hinausgelaufen. Wenn eine biblische Aussage einseitig betont wird, hat das oft mehr gruppendynamische als geistliche Gründe. Darin drückt sich eine unbewusste Abstimmung aus: „Wir fordern keine Gefühle voneinander. Keiner muss sich hier so einlassen, dass er emotional involviert wird.“ Anne hat etwas beobachtet, das wie ein ungeschriebenes Gesetz im Hauskreis abläuft. Wenn jemand eine Sehnsucht äußert oder ein Gefühl gegenüber Gott, dann sind andere sofort mit Erklärungen zur Stelle – als hätte jemand ein Loch im Deich entdeckt und alle eilen hin, um es abzudichten.

Weite und Grenzen

Gruppennormen sind der Rahmen, in dem sich die Gruppe entfaltet. Wer einen Hauskreis ins Leben ruft, tut gut daran, sich Gedanken über diesen Rahmen zu machen. Der Rahmen darf nicht zu eng sein, sonst gibt es keinen Raum für Entfaltung. Der Rahmen darf aber auch nicht zu weit gesteckt sein, sonst findet die Entfaltung keine gesunden Grenzen. Was Nähe und Gefühl angeht, lassen sich gute Gruppennormen etwa so formulieren:

  • Wer an einem Hauskreis teilnimmt, sollte sich darauf einlassen, dass bedeutsame Beziehungen untereinander entstehen und über persönlich bedeutsame Themen gesprochen wird. Eine emotionale Zurückhaltung ist tolerierbar, eine Abwehrhaltung auf Dauer nicht.
     
  • Gefühlsäußerungen sollten mit Annahme und Interesse beantwortet werden. Gefühle sollten eine Gefühlsantwort finden, keine Kopfantwort. Beispielsweise äußert ein Teilnehmer: „Manchmal ist mir Gott so fern.“ Eine Kopfantwort wäre: "Aber Gott ist da, auch wenn du ihn nicht fühlst. So wie die Sonne auch dann scheint, wenn der Himmel voller Wolken ist.“ Eine Gefühlsantwort klingt anders: „Das habe ich auch schon erlebt. In solchen Momenten fühle ich mich, als hätte ich im Glauben alles falsch gemacht.“
     
  • Niemand soll sich emotional überfordert fühlen – weder durch körperliche Nähe noch durch allzu persönliche Fragen, weder durch den Bericht schlimmer Erlebnisse noch durch Konflikte, die im Hauskreis ausgetragen werden.

Die Gruppendynamik lenken

Manche Hauskreise diskutieren ihre Normen und legen sie schriftlich fest. Doch Papier ist geduldig. In der Praxis können sich andere Normen ausprägen und entwickeln, wenn niemand gegensteuert. Wie lassen sich Gruppennormen beeinflussen? Eine gute Gelegenheit bietet die Einführung neuer Hauskreisteilnehmer. Hauskreisleiter können hier einen Akzent setzen: „Wir bemühen uns um eine Atmosphäre, in der jeder offen sagen kann, was er denkt und was ihn bewegt.“ Manchmal ist es auch günstig, direkt in eine Situation einzugreifen: „Ja, Dieter, Glaube ist kein Gefühl. Aber wir Menschen sind auch Gefühlswesen und das darf sich hier widerspiegeln, oder?" Auf Alexas Erwartung, alles teilen zu können, hätte man – mit einem Augenzwinkern – antworten können: „Fast alles“.

Andere Situationen wird man taktvoll vorübergehen lassen und später noch einmal auf eine Norm zurückkommen: „Ich finde es toll, dass wir so eine herzliche Atmosphäre im Hauskreis haben. Ich hoffe nur, dass sich jeder frei fühlt, zu sagen, wenn es ihm einmal zu nahe wird.“ Das wird auch Gisela aufmerksam machen, die alle umarmt und beiläufig berührt.

Wenn sich in einem Hauskreis gute Gruppennormen entwickelt haben, entfaltet sich auch eine gute Gruppendynamik. Es wird persönlich, aber nicht bedrängend, Gefühle haben Raum und bewegen den Hauskreis, und dennoch dreht sich der Hauskreis nicht um die Befindlichkeit seiner Teilnehmer.

Einseitigkeit korrigieren

In schwierigen Situationen lässt sich die Gruppendynamik auch direkt beeinflussen. Gefühle entstehen besonders über Bilder und Details. Deshalb berührt uns eine Reportage mehr als ein Zeitungsbericht. Das Gespräch eines gefühlsarmen Hauskreises braucht Bilder und Details, die man durch Fragen hervor locken kann: „Sag doch mal ein Beispiel dafür.“

Umgekehrt lässt sich eine emotionale Überforderung verhindern, wenn Details und Bilder begrenzt werden. Alexa soll natürlich von ihrer schwierigen Vaterbeziehung berichten dürfen, aber sie muss ein demütigendes Telefongespräch nicht wiedergeben, die Aufarbeitung einer solchen Situation wäre in der Seelsorge besser aufgehoben. Natürlich soll es ein Hauskreis mittragen, wenn eine Teilnehmerin einen sexuellen Missbrauch aufarbeitet oder einer gerade in einer quälenden Mobbingsituation steckt. Aber auch hier sind Stichworte schonender als Situationsbeschreibungen mit konkreten Szenen. Oft sind Betroffene sogar erleichtert, wenn ihnen jemand sagt, in welchem Rahmen ihr belastendes Thema willkommen ist.

Außerdem verrät die Sprache viel über die emotionale Dynamik in einem Hauskreis. „Du“ und „ich“ machen das Gespräch persönlich, „wir“ kann vereinnahmend wirken, „man“ macht das Gespräch unpersönlich und kühlt die Atmosphäre ab. Wer hier positiv prägen will, kann einfach mit gutem Beispiel vorangehen. Hartnäckige „Wir“-oder „Man“-Sager können taktvoll auf die Wirkung ihrer Worte angesprochen werden. Schließlich lässt sich die Gruppendynamik auch über die Inhalte lenken. Warum nicht mit einem Hauskreis, in dem das Persönliche überwiegt, in der Offenbarung lesen? Und umgekehrt tut es einem gefühlsarmen Hauskreis gut, sich auf eine Themenreihe wie „Jesus begegnet Menschen“ einzulassen.

Eine gute Gruppendynamik ist natürlich nicht Ziel des Hauskreises, sondern nur eine Grundlage. Ein Hauskreis, der sich in eine schwierige Gruppendynamik verstrickt, bringt weniger Aufmerksamkeit für das Wort Gottes auf. Umgekehrt: Wenn gute Normen das emotionale Klima prägen, wird der Heilige Geist mehr Raum im Miteinander finden und es wird einzelnen leichter, sich als Glied im Leib Christi zu erfahren.

 


Wie frei darf man sich bei uns äußern? Welche Wahrheit ist akzeptabel, welche nicht? Welche ungeschriebenen Gesetze bestimmen unser Miteinander? Wer sagt eigentlich, was akzeptabel ist und was nicht? Vieles, was innerhalb einer Gruppe abläuft, passiert unbewusst und hat doch weitreichende Konsequenzen. Gruppenprozesse können für die Entwicklung eines Hauskreises förderlich sein, ihn im schlimmsten Fall aber auch lähmen. Doch die Dynamik, die eine Gruppe entwickelt, lässt sich steuern.

Der Artikel "Wohin mit den Gefühlen?" ist einer neuen Serie aus dem HauskreisMagazin entnommen. In ihr zeigt Autor Jörg Berger, wie Gruppendynamik funktionieren kann. Berger ist Psychotherapeut in freier Praxis und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Heidelberg.

Wir danken dem Bundes-Verlag für die freundliche Genehmigung, den ersten Teil der Reihe auf erf.de zu veröffentlichen.

Weitere Infos zum HauskreisMagazin finden Sie unter dasHauskreisMagazin.net.

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