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02.01.2021 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Andreas Odrich

Was ist wahr?

Was wir für wahr halten und wie wir mit anders Denkenden umgehen, hat sich gewandelt.

Was wir für wahr halten und wie wir mit anders Denkenden umgehen, hat sich gewandelt. Andreas Odrich stellt die Frage: Woher kommt das? Er plädiert für einen souveränen Umgang mit Nachrichten – und einen menschlichen Blick auf unser Gegenüber.
 

Wem können wir noch glauben? Werden wir noch informiert oder einfach nur manipuliert? Über kaum eine Frage wird in den letzten Jahren so heftig gestritten wie über diese. An die Stelle eines gesunden Grundvertrauens ist abgrundtiefes Misstrauen getreten. Ergebnis: Wir sind nicht mehr gemeinsam auf der Suche nach der Wahrheit, sondern schlagen uns unsere fertigen Wahrheiten um die Ohren.

Diesen Eindruck muss bekommen, wer den Stammtischen der sozialen Netzwerke folgt. Aber auch wissenschaftliche Kreise sind davon betroffen. So häufen sich Berichte über Universitäten, an denen Redner wieder ausgeladen werden, weil sie eine abweichende Meinung haben – brandgefährliche, selbstverordnete Denksperren. Selbstbestätigung statt Diskurs um die Wahrheit.

Als Steigerung droht Waffengewalt – könnte man zumindest meinen. So sollen in der Schlussphase des amerikanischen Wahlkampfes die Verkaufszahlen der Waffengeschäfte dramatisch in die Höhe geschnellt sein. Bilder von gewalterfüllten Demonstrationen füllten die Berichte. Standen die USA kurz vor dem Bürgerkrieg?

Wenn Zuspitzung unser Urteil bestimmt

Doch waren diese Bilder wirklich wahr, oder waren sie nur eine mediale Zuspitzung der Situation als Futter für unsere aufregungssüchtigen Seelen, befeuert von den sozialen Netzwerken und den Medien, die ihrerseits unsere Aufmerksamkeit zum Überleben brauchen? „Hast du das gesehen, so sind sie eben, die Amis.“

Eine Empörungswelle teilt sich laut Experten sechsmal schneller im Internet als eine gute Nachricht.

Sich raushalten macht schuldig

Was tun? Wie soll ich damit umgehen, wenn die Lage dermaßen unklar ist? Wenn nicht mehr sicher ist, wie es wirklich ist und was in all den Berichten interpretiert, zugespitzt oder gar übertrieben wird? Resignieren wie Pontius Pilatus ist jedenfalls keine Lösung. Er dürfte den Begriff „Fake News“ nicht gekannt haben, als er sich vor 2000 Jahren mit der berühmten Frage „Was ist Wahrheit?“ von Jesus abwandte. Ergebnis: Der Mob tobte und lieferte Jesus ans Kreuz.

Die Rolle des römischen Präfekten Pontius Pilatus zeigt: Wer den Mund hält, macht sich zum Mittäter. Womit auch klar ist, dass die vermeintliche Wahrheit, „die Juden“ hätten Jesus ermordet, falsch ist. „Die Römer“ waren genauso schuldig an dem Kreuzestod Jesu und in diesem Vielvölkergemisch des damaligen Jerusalem letztlich alle Bürger, bis hin zu den Schaulustigen auf Golgatha.

Nicht Wegdrehen, sondern vielmehr genau hinschauen ist deshalb die Lösung. Und fragen: Was ist eigentlich los mit uns beim Kampf um die Wahrheit und warum verhärten sich die Fronten immer wieder?

Der erste Schritt hin zur Wahrheitsfindung: Auf Abstand gehen

Wir brauchen dringend eine Unterbrechung der Dauererregung durch die elektronischen Medien, denn sie machen uns atem- und vor allem kopflos. Der Mensch von heute schaut beim Aufwachen nicht aus dem Fenster oder nach seinem Lieblingsmenschen neben ihm – er starrt aufs Handy. Dort haben sich über Nacht tausende von Nachrichten und Bildern gestaut, die alle wahrgenommen werden wollen.

Bevor ich überhaupt auch nur einen einzigen, eigenen klaren Gedanken fassen kann, werde ich mit dutzenden fremden Gedanken befeuert. Zum Verarbeiten bleibt keine Zeit. Wie soll ich mir da auch nur im Ansatz eine Meinung bilden?

Weg daher mit dem Smartphone vom Kopfkissen und erst einmal den Kopf freibekommen. Wenn frühere Generationen morgens die Augen aufschlugen, lauschten sie dem Vogelgezwitscher. Ältere Christen kannten die „Stille Zeit“. Bibellektüre vor einer echten Ausgabe des Buches der Bücher. Beten – heutzutage gerne auch beim Joggen oder bei ein paar Körperübungen. Hören auf Gott, sich auf ihn einstellen.

Und so frisch auf Kurs gebracht in den Tag starten, mit einem Blick für das Wesentliche. Und wenn das nicht geht, weil z.B. die Kinder gleich an der Bettdecke zerren, dann wenigstens das Augenmerk auf sie richten und nicht auf den Bildschirm und stattdessen ein Stoßgebet loswerden. Dies wäre ein erster Schritt, um Abstand zu bekommen und den Kopf frei zu machen. Ich spüre wieder die eigene Wahrnehmung und nehme meine Realität wahr, so wie sie ist, und nicht wie sie mir mein Handy vorgibt.

Der zweite Schritt: Schluss mit der eigenen Faulheit

Smartphone-Wischen macht denkfaul und fördert nicht nur die Arthrose im Daumengelenk. Weil die Algorithmen meiner Suchmaschine und meiner sozialen Netzwerke genau protokollieren, worauf ich anspringe, präsentieren sie mir ständig verwandte Nachrichten.

Wer gerne Meldungen über ausländische Messerstecher oder prügelnde Polizisten teilt, der bekommt prompt die nächsten Nachrichten dieser Art serviert, weil die Suchmaschinen kundenorientiert agieren, getreu dem Motto: „Wer sich über diese Meldung aufregt, regt sich gerne auch über folgende Meldungen auf.“

Was beim Bücher- oder Hosenkauf hilfreich sein mag, schlägt bei der Wahrheitsfindung ins Gegenteil um. Die Inhalte werden immer einseitiger und verformen mein Weltbild. Und weil wir am besten auf Schlüsselreize reagieren, tragen die meisten Videos und Veröffentlichungen „Skandal“, „Lüge“, „Betrug“ und „Terror“ im Titel.

Extremisten mit einfachen Antworten bieten in diesem Meer der Überforderung einen Halt: „Die Welt ist schlecht, aber ich weiß jetzt wenigstens, wer daran Schuld ist – der Chinese an Corona, der Flüchtling an unseren Missständen und die Alten an der Klimakrise, weil sie alle SUV fahren.“

Ausgewogenes und Abwägendes hat hier keine Chance und mein notwendiges Nachdenken entfällt. Zum Beispiel darüber, dass das, was im Einzelfall zutreffen mag, noch lange nichts über die Gesamtheit aussagt. Ein gesundes Urteil aber braucht Abstand und Weitsicht.

Nicht umsonst kennt ein fairer Gerichtsprozess Richter und Schöffen, die Dokumente und Indizien sichten, die Zeugen und Sachverständige hören, während Staatsanwalt und Verteidiger die unterschiedlichen Sichtweisen gegeneinanderstellen. Danach zieht sich das Gericht zur Beratung zurück, und fällt erst nach längerer Abwägung ein Urteil, wogegen die Prozessbeteiligten notfalls wiederum Berufung einlegen können.

Was das für meinen Umgang mit Nachrichten auf dem Weg zur Wahrheitsfindung heißt? Vergleichen. Die Auftritte mehrerer Medien verfolgen. Lesen, lesen, und nicht nur klicken und scrollen. Ja, es stimmt, die Inhalte in den traditionellen Medien werden schmaler, Journalisten schreiben voneinander ab, Redaktionen werden geschrumpft und eingespart. Das ist sträflich.

Aber bei der Tagesschau kann ich mich beschweren, notfalls mit Hilfe des Rundfunk- oder Presserats. Bei einem Influencer, der auf eigene Rechnung seine Interpretation der Wirklichkeit darlegt, ist das Offenlegen der Quellen schwerer. Da lohnt sich schon eher der Blick in die Presseschauen des Deutschlandfunks oder anderer Nachrichtenkanäle, die trotz schwindender Vielfalt immer noch eine Meinungsbreite in unserem Land abbilden, die mir auch mit knappem Zeitbudget dabei hilft, einen Tatbestand von verschiedenen Seiten zu sehen und zu beurteilen.

Dritter Schritt: An Jesus Christus als der Wahrheit festhalten

Und ich will mit mir selbst kritisch bleiben. Mir zugestehen, dass ich mich irren kann und mich fragen: Bin ich bereit, allem blindlings zu glauben, was mir mein Smartphone zuspielt? Nehme ich alles ungeprüft eins zu eins, was mir der Klatsch in Kollegenkreisen oder in der Nachbarschaft über eine bestimmte Person weismachen will? Oder erlaube ich mir dieses entscheidende „Moment mal, kann das überhaupt stimmen?“

Falsche Wahrheiten können ein Klima bis zum Kollaps vergiften. Nicht alles glauben, sondern nüchtern prüfen, kann nachhaltig Weichen stellen für ein gedeihliches Miteinander.

Interessant ist, was Jesus Christus seinen Zuhörern nach Johannes 8,31-32, mit auf den Weg gibt: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaft meine Nachfolger, und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Das ist mehr als ein dogmatisches Für-Wahr-Halten von Einzelsätzen. Hier geht es um eine Verbindung, um ein Verwobensein mit Jesus, der „wahrer Mensch“ und „wahrer Gott“ zugleich war. Gott hat sich der Sache der Menschen in seinem Sohn Jesus Christus angenommen. Gott ist eingetaucht in unsere Welt, um uns zu zeigen: Ich bin da, ich sehe dich und ich verstehe, was dein Leben ausmacht.

Die Begegnungen, die Jesus mit Menschen hatte, waren gekennzeichnet von einem tiefen Verständnis und Mitgefühl. Dabei spricht Jesus durchaus unbequeme Wahrheiten aus. Aber nicht, weil er Menschen vernichten und abkanzeln will, nicht weil er sich selbst behaupten möchte (bei seinem eigenen Prozess vor der Kreuzigung schweigt er sogar, Mathäus 26).

Jesus möchte vielmehr Menschen retten und zur Entfaltung bringen. Sein ganzes Dasein ist ein fortwährender Prozess wahrer Liebe. Darauf gilt es sich einzulassen.

Bewaffnet mit einem Picknickkorb

Für mich stellt sich daher die Frage: Will ich weiter in einer Welt leben, wo wir uns die Wahrheiten gegenseitig als Gegner um die Ohren hauen? Oder will ich mit Menschen gemeinsam unterwegs sein, sie ernst nehmen, sie hören, dort für Wahrheit eintreten, wo ich es für nötig halte, aber auch in Demut akzeptieren, wenn ich derjenige bin, der schief liegt?  – Ganz im Sinne von Jesus Christus. Nicht vernichtend und egozentrisch, sondern offen und auf Augenhöhe.

Ein Bild aus der Berichterstattung über den US-Wahlkampf ist mir daher wohltuend in Erinnerung geblieben. Zwei Frauen, die eine Trump-, die andere Biden-Wählerin, hatten beschlossen: „Wir gehören zwar unterschiedlichen politischen Lagern an, aber viel wichtiger ist, dass wir Freundinnen bleiben.“ Bewaffnet waren sie dabei mit einem Picknickkorb. Na bitte, es geht doch. Das ist ein Umgang mit Wahrheit, wie Jesus es gewollt hätte.


Andreas Odrich ist Leiter der Redaktion „Aktuelles und Gesellschaft“ bei ERF Medien
und hat gegen die Nachrichtenflut ein Rezept: Manchmal einfach abschalten.


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 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

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Kommentare (3)

Eva A. /

Danke für diesen Bericht er hat mich beflügelt besser über alles nach zu denken und mehr auf Gottes Wort nach zu denken und alles mal mehr ins Gebet legen bevor man darüber meckert
Danke weiter so ich liebe den ERF

Thorsten F. /

Sehr gut. Der Artikel regt zum Nachdenken und sich selbst Hinterfragen an.

Jens R. /

Die Wahrheit festzustellen ist oft nicht einfach. Regierungsverbrechen sind oft über viele Jahrzehnte unter Verschluss, also Staatsgeheimnis. Herrschende versuchen Menschen in die Richtung zu mehr

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