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04.06.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Volker Storch

Spurensuche in der Bibel

Worin sich die Evangelien unterscheiden. Ein Interview mit Guido Baltes.

In der Bibel bezeugen die vier Evangelien das Leben Jesu. Bibelforscher wissen, dass es noch mehr Evangelien gab. Immer wieder stellt sich auch die Frage: Gab es noch ein ursprünglicheres Evangelium als die vier überlieferten? Dr. Guido Baltes ist dieser Frage in dem theologischen Buch „Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung: Untersuchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien“ nachgegangen.

Er kommt zu dem Schluss, dass den vier griechischen Evangelien ein hebräisches Evangelium zugrunde liegen muss. Denn die vier Evangelien beschreiben so akkurat und genau Israel zur Zeit Jesu, dass man von einem früheren hebräischen Urtext ausgehen kann. Volker Storch hat für die Radiosendung „Glaube und Denken“ mit Guido Baltes gesprochen. Hier ein kurzes Vorabinterview.
 

Volker Storch: Sie vertreten in Ihrem Buch "Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung: Untersuchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien" die These, dass es ein hebräisches Evangelium vor den uns überlieferten griechischen Evangelien gab. Welche Auswirkung hat das auf die Evangelienforschung? Können dadurch synoptische Schwierigkeiten erklärt werden?

Guido Baltes: Synoptische Schwierigkeiten tauchen auf, wenn ich die vier Evangelien gleichzeitig anschaue. Da passiert es manchmal, dass ich viermal den gleichen Bericht habe, der sich jedoch in den Details unterscheidet. Eine einfache Erklärung ist die: „Das ist so, wie wenn vier Leute einen Autounfall beobachten und ihn verschieden beschreiben. Man wählt andere Worte, beschreibt unterschiedliche Perspektiven, das muss kein Widerspruch sein.“

Die spannende Frage für mich als Theologen ist aber: Welcher von den vier Berichten kommt dem ursprünglichen Bericht am nächsten? Denn jeder der vier Berichte wählt eine unterschiedliche Art die Bilder auszudrücken. Der Eine versucht es wörtlicher am Original zu halten und riskiert damit, dass man ihn nicht mehr so gut versteht. Der Andere umschreibt vielleicht oder verallgemeinert und riskiert damit Ungenauigkeiten oder Missverständnisse bei der Übersetzung.

Welches Evangelium ist das Älteste?

Volker Storch: Kann man denn überhaupt noch herausfinden, was ursprünglich gewesen ist?

Guido Baltes: In den ersten hundert Jahren der Bibelforschung hat man das sehr intensiv versucht herauszufinden, weil man sich davon erhoffte, den ursprünglichen Jesus zu finden, der noch mal ganz anders ist als der Jesus, von dem die Bibel berichtet. Der Erste in dieser Reihe der Bibelforscher war Lessing. Er hat zum Beispiel schon vermutet, dass es ein hebräisches Evangelium gab, das aber leider verloren gegangen ist. Die heutigen Evangelien stellen laut Lessing Jesus nicht mehr richtig dar.

Diese Ansicht kann also auch als Hebel dienen, den man ansetzt, um Bibelkritik zu betreiben à la „Eigentlich war Jesus ganz anders, aber leider haben wir das Original verloren.“ Die kritisch- aufklärerische Bibelwissenschaft sagt dann: „Wir haben heute nur noch Abschriften, die sind aber alle nicht zuverlässig und deswegen brauchen wir auch nicht daran zu glauben.“ Man hat dann hundert Jahre lang versucht, herauszufinden, welches Evangelium das Älteste ist. Schließlich kam man zu dem Ergebnis, dass Markus das Älteste ist, weil es das Kürzeste und Nüchternste ist und keine Kindheitsgeschichten enthält.

Welches Evangelium klingt am jüdischten?

Volker Storch: Wenn es doch diese Feststellung gab, wieso forschen Sie weiter daran?

Guido Baltes: Jetzt ‒ hundert Jahre später ‒ werden diese scheinbar gesicherten Ergebnisse der damaligen Wissenschaft in Frage gestellt. An vielen Stellen passt das nämlich nicht. Es gibt amerikanische Forscher, die behaupten: Markus kann schon aus schriftstellerischen und sprachlichen Gründen nicht das Ursprüngliche sein. Es gibt viele Leute, die sagen: „Das muss man noch mal neu angucken.“ Und die Frage ist, wie man darüber etwas herausfinden kann. Wir haben ja nur die Texte, die wir jetzt haben, und zumindest bis jetzt noch keinen Urtext gefunden.

Aber eine Methode nach dem ursprünglichen Evangelium zu forschen ist, sich zu überlegen: „Welcher Text klingt am ehesten so, wie Juden im ersten Jahrhundert gesprochen und gedacht hätten?“ Das ist eine Spur, der man folgen kann. Die Hoffnung ist also, dass man dadurch eine Art Werkzeug hat, mit dem man vielleicht doch etwas darüber sagen kann, welche der vier Fassungen am ursprünglichsten ist.
 

Volker Storch: Und was ist die Antwort?

Guido Baltes: Die Antwort ist nicht so einfach. Ein oberflächlicher Blick zeigt, dass Matthäus und Lukas sehr viel öfter dem jüdischen Sprachgebrauch von damals entsprechen als die anderen Evangelien, zumindest was die Nähe zur hebräischen Sprache in Form von Floskeln, Redewendungen und grammatischen Besonderheiten angeht. Man könnte nun sagen: Eines von den beiden ist das Ursprüngliche. Vermutlich war es noch komplizierter und zwar so, dass wir quasi in allen drei Evangelien Spuren des Ursprünglichen finden.

Hier gilt es zu rekonstruieren, wie die einzelnen Evangelien miteinander zusammenhängen. Die Idee ist, dass es ein ursprüngliches Evangelium gab, was am ehesten dem Matthäusevangelium entsprach. Man nennt dieses dann protomatthäisch, weil es im Aufbau und Inhalt ungefähr unserem Matthäusevangelium entsprach. Dieses Evangelium wurde dann wiederum von Lukas und Markus benutzt. Lukas zum Beispiel ergänzt dieses Evangelium mit neuen Informationen. Daraus entsteht das Lukasevangelium. Markus hat es auch verwendet, aber gekürzt.

Jeder Evangelist ist anders

Volker Storch: Was sind denn noch mal die Besonderheiten der vier Evangelien?

Guido Baltes: Jeder der vier Evangelisten hat seine Besonderheiten, sprachlicher und inhaltlicher Art. Lukas ist eher der journalistische Typ, der so viele Informationen sammelt wie möglich und alles der Reihe nach aufschreibt ‒ und zwar so, dass es ein Außenstehender gut versteht. Das sieht man bei Lukas daran, dass er oft Namen von Königen und Kaisern oder Jahreszahlen einfließen lässt und Bezüge zur großen Politik herstellt. Matthäus ist eher ein Bibelforscher.

Bei Matthäus merkt man, dass er ganz oft Bibelverse anführt, um zu erklären, was gerade passiert. „Das geschah, damit erfüllt wurde, was der Prophet Jesaja sagt…“ und dann kommt ein Bibelzitat. Matthäus möchte darstellen, inwiefern Jesus die Erfüllung der Schrift, also der Thora ist. Er möchte für jüdische Leser deutlich machen: Hier ist wirklich der, auf den wir gewartet haben. Markus dagegen ist kurz, schnell und spannend. Es ist eine sehr schnelle, knappe Erzählung, aber interessanterweise nimmt sich Markus im Vergleich für eine Geschichte mehr Zeit als die anderen Evangelisten. Wir finden bei Markus weniger Geschichten, aber die dafür ausführlicher.
 

Volker Storch: Woher kommen solche Unterschiede?

Guido Baltes: Von Markus wissen wir, dass er Reisebegleiter und Übersetzer des Petrus war und die Predigten von Petrus übersetzt hat. Wenn man also Markus als Beispiel für evangelistische Straßenpredigten sieht, dann machen die Kürze, der schnelle Wechsel und die Anschaulichkeit Sinn. Das ist der klassische Predigtstil für den evangelistischen Gebrauch.
 

Volker Storch: Kann man die verschiedenen Evangelien dann mit verschiedenen Brotsorten vergleichen? Das Eine muss man länger durchkauen, das andere ist leichter verdaulich, aber man hat auch schneller wieder Hunger.

Guido Baltes: Ja, genau, für Matthäus muss man sich Zeit nehmen. Da muss man in der Bibel herumblättern und die Bezüge herstellen. Bei Markus kann man es sich einfach anhören und auf sich wirken lassen und am Ende sich der Frage stellen, ob Jesus Gottes Sohn gewesen ist.
 

Volker Storch: Und die soll man sich als Leser auch stellen?

Guido Baltes: Die soll man sich stellen. Es gibt sogar ein besonderes Detail beim Markusevangelium. Wenn man sich den Schluss anschaut, steht in einigen Bibelübersetzungen: „In manchen alten Handschriften fehlen die letzten Verse“. Das heißt, die ältesten Fassungen des Markusevangeliums, die wir haben, enden damit, dass die Frauen vom leeren Grab weggehen. Auch das macht für mich Sinn, wenn es so wäre, dass das Markusevangelium ursprünglich dort aufhörte. Denn dann wird am Ende der Zuhörer bewusst vor die Frage gestellt: Glaube ich das jetzt oder nicht?
 

Volker Storch: Vielen Dank für das Gespräch.

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

M.W. /

Hallo Volker,
das Theologen auf dem Hintergrund der historisch-kritischen Theologie (HKT) und ihrer Methoden (HKM) Forschungen zu den Evangelien und ihrer Entstehung anstellen, ist an sich nichts mehr

Falk E. /

Ein sehr gutes Interview, ich hoffe das
die Doktorarbeit mal als gekürztes und günstigeres Buch erscheint.
Auf der Seite der uni Siegen sind die berichte der Kirchenväter über die Entstehung der mehr

Hartmut D. /

Lieber Volker, vielen Dank für dieses lehrreiche, spannende und anregende Interviev! Ich muss wohl öfter beim ERF bei "Glauben und Denken" reinschauen - so wie Du es ja auch empfiehlst. Mache weiter so!
Liebe Grüße
Dein Hacke

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