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© Kristina Tripkovic / unsplash.com

15.04.2020 / Erlebnisbericht / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Christine Tietz

Wie ich lernte, Gott zu vergeben

Christine Tietz' Sohn hatte Krebs. Nach seinem Tod war sie lange wütend auf Gott.

Ich hatte keine sehr glückliche Kindheit. Ich wuchs mit neun Geschwistern auf und wir erfuhren außer Hunger und Schläge wenig Gutes. Umso glücklicher war ich, als ich Klaus kennenlernte und wir eine kleine Familie gründeten, mit unserem Sohn Alfred. Unser Leben plätscherte mit vielen Höhen und Tiefen so dahin, ich war zufrieden, so wie es war.

Der Krebs schlägt zu

Doch als unser Sohn mit 19 Jahren an Krebs erkrankte, verstand ich die Welt nicht mehr. Die Ärzte machten uns wenig Hoffnung, die Prognosen für meinen Sohn waren schlecht.

In meinem Inneren kam so ein großer Hass gegen Gott, gegen meine Eltern, die früher nicht für mich da waren und der ganzen Welt in mir auf. Ich dachte nur noch daran, dass ich so nicht mehr leben will, weil ich ohne meinen Sohn in dieser Welt nicht glücklich werden konnte. In meinem Kopf schmiedete ich den Plan, unser aller Leben zu beenden, keiner sollte allein zurückbleiben.

Gedanken an Selbstmord

Alfred war ein ungewöhnlicher junger Mann. Schon früh hatte er sich für das Thema Glauben interessiert, obwohl mein Mann und ich mit Kirche wenig anfangen konnten. Während ich an seiner Krebs-Diagnose verzweifelte, betete er voller Gottvertrauen. Es machte mich rasend.

In dieser Zeit kamen auch die Verletzungen der Vergangenheit immer wieder in mir hoch: Die Gewalt, die ich durch meine Mutter erlebt hatte. Sie hatte uns Kinder schrecklich behandelt, und ich sollte jetzt meinen einzigen Sohn, den ich über alles liebte, verlieren?

In meiner Wut war ich kurz davor, einen Autounfall zu provozieren, um unser aller Leben zu beenden. Ich fuhr rechts ran, konnte nicht aussteigen, so habe ich gezittert. Als mein Mann verstand, was mir durch den Kopf gegangen war, zog er mich aus dem Auto und schrie mich an: „Das ist nicht die Lösung!“ Ich konnte nicht mehr.

Unser Alfred starb drei Monate später mit 20 Jahren. 

Der Kampf mit den Depressionen

Neun Jahre lang quälten mich Trauer und Depressionen. Nachts plagten mich fürchterliche Alpträume. Meine Erinnerungen an Alfred drängten mich, auf die Suche nach Gott zu gehen. Ich wollte den Glauben kennenlernen, den unser Sohn Alfred hatte.

Mein Kopf, meine Gedanken, wussten nicht mehr weiter. Wo war der Gott, den ich so sehr hasste? Wo konnte ich den Glauben finden, der mir angeblich helfen sollte? Der nur Gutes bringt? Ich war äußerst skeptisch.

Mein Kopf, meine Gedanken, wussten nicht mehr weiter. Wo war der Gott, den ich so sehr hasste? Wo konnte ich den Glauben finden, der mir angeblich helfen sollte?

Eine Nachbarin lud mich in der Zeit in eine freie christliche Gemeinde ein, die mir Heimat wurde. Ich war sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend, hat man doch immer von Sekten gehört. Doch meine Befürchtungen bestätigten sich nicht.

Vielmehr fühlte ich mich nach kurzer Zeit sehr wohl in dieser Gemeinde, wollte wirklich mit offenem Herzen Gott finden und mir gefiel, was ich da hörte. Es berührte mein Herz, ich weinte viel und lange, doch es gab immer noch eine Sperre in mir. Trotzdem blieb ich dran und kaufte mir eine Bibel. Ich wollte mehr wissen.

Ein schweres Gewicht im Herzen

Nach einem Jahr wurde in der Gemeinde ein Wochenend-Seminar angeboten. Das Thema: „Vergebung“. Erst wollte ich nicht hingehen, was sollte ich da? Mein Problem war doch die Trauer um Alfred, nicht die Vergebung! Doch eine innere Stimme sagte mir, dass ich hingehen sollte.

Wir arbeiteten den ganzen Tag mit Lehrmaterial. Darin fanden sich Aussagen aus der Bibel, aber auch psychologische Ansätze. Außerdem standen dort Erfahrungsberichte von Menschen, die vergeben hatten. Ich machte alles mit, doch eigentlich konnte ich wenig mit den Inhalten anfangen. Es ging immer nur um Vergebung und um mich, die vergeben sollte.

Ich spürte zwar in mir immer noch Wut und Zorn, aber ich dachte, sie würden schon von allein vorbeigehen. Ich wusste damals nicht, das dies ein Irrtum ist.

Am Samstagnachmittag war das Seminar offiziell beendet. Jeder wollte schnell nach Hause. Der Seminarleiter sprach mich an, ob ich noch einen Moment bleiben könnte. Ich sagte überrascht zu.

Als wir allein waren, begann der Mann, mir Fragen zu stellen. Er erzählte mir, dass er den Eindruck habe, dass ich etwas Schweres mit mir trage. Etwas, worüber ich in den letzten zwei Tagen nicht gesprochen hatte. Ob etwas Schlimmes in meinem Leben vorgefallen sei?

Ich machte es kurz, erzählte etwas aus meinem Leben. Er hörte zu, sagte keine Worte, bat mich nur darum, dass er für mich beten wolle, was ich gerne zuließ.

Niemals werde ich diese Stunde vergessen. Ich saß auf meinem Stuhl, er stellte sich hinter mich, begann zu beten. Seine Worte, seine Bitten an Gott, taten mir sehr gut, ich spürte die Wärme seiner Hände auf meiner Schulter, spürte die Tränen von ihm, die mir in den Rücken liefen, ich machte mein Herz weit auf, hatte doch nichts zu verlieren.

Nach kurzer Zeit umarmte er mich. Ich ging bewegt und sehr nachdenklich nach Hause, habe die halbe Nacht nur gegrübelt, mein Kopf war so voll.

Zeit für Vergebung

Am Sonntag predigte der Seminarleiter noch einmal in der Gemeinde, über Vergebung. Unsere Blicke trafen sich immer wieder., Er erklärte, warum Vergebung wichtig ist und seine Worte erreichten mich an diesem Tag.

Von da an begann ich, Gott immer wieder zu bitten, mir zu helfen. Ich spürte, dass ich meinen Eltern vergeben musste für das, was sie mir angetan hatten. Aber ich musste auch Gott selbst vergeben, damit ich die Wut in meinem Herzen loslassen konnte. Natürlich wusste ich rational, dass Gott keine Fehler macht. Aber meine Seele war voller Vorwürfe und Anklagen.

Ich spürte, dass ich meinen Eltern vergeben musste für das, was sie mir angetan hatten. Aber ich musste auch Gott selbst vergeben, damit ich die Wut in meinem Herzen loslassen konnte.

Gott hat mich durch diese Zeit geführt und getragen. Und ich kann heute aus tiefstem Herzen sagen, dass ich vergeben konnte. Ich habe damals gelernt, mit Verletzungen umzugehen und das Gott mir immer dabei hilft. Ich habe erkannt, dass Alfred uns als Ehepaar ein unbezahlbares Erbe, seinen Glauben, hinterlassen hat.

Auch wenn Gott vollkommen ist: manchmal verstehen wir Menschen sein Handeln nicht. Es ist in Ordnung, in solchen Momenten Wut und Trauer zu spüren. Wir dürfen Gott unser Unverständnis klagen. Doch er hilft uns auch, diese Schmerzen wieder loszulassen. 

Foto Christine Tietz
Christine Tietz (Foto: ERF)

Heute sind mein Mann Klaus und ich 23 Jahre gläubig, Gott lebt in unserer Mitte. Wir führen ein ruhiges ausgeglichenes Leben, mit vielen Aktivitäten zu Menschen und der Gemeinde. Ich bin jetzt siebzig Jahre alt, eine glückliche und zufriedene Frau, die Gott über alles liebt und Gebete schreibt. Und der Schlüssel zu meinem Glück war die Vergebung.
 

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Rüdiger H. /

Ein Artikel, der aufrüttelt und mir gezeigt hat, was bei mir noch verborgen liegt. Meine Wut gegenüber meiner Mutter/Vater, meine Wut gegenüber Gott, denn er hat mir auch genommen, was mir das wertvollste hier war. Es geht scheinbar einigen so. Danke.

Peter /

Gott vergeben, dass probleem habe ich auch. / Forgiving God, I have the same problem.
Peter aus dem Niëderlande / Peter from the Netherlands

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