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03.02.2024 / Buchrezension / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Kai Rinsland

Tief im Herzen bin ich anders

Songwriterin, Aktivistin, Ehefrau und Mutter: Sarah Brendel veröffentlicht ihre Autobiografie „Das Kleinste ist nicht zu klein“.

Eine Frau verfasst mit Ende 40 eine Autobiografie. Auf den ersten Blick irritiert das: So jung, was kann darin stehen? Geht es darum, schöne Dinge aufzuschreiben, um sich später daran zu erinnern? Oder habe ich hier eine selbstverliebte Künstlerin vor mir, die weltvergessen über den Dingen schwebt und versucht, mit einem Buch zu punkten, aka die knappe Musiker-Familienkasse aufzubessern?

Fragen, Vorurteile und Bedenken, die ich anfangs verspürte gegenüber dem Buch von Sarah Brendel, und die sich beim Lesen in Luft aufgelöst haben. Die Wahrheit zwischen den Buchdeckeln ist viel einfacher, ist mutig und schön.

Mut zur eigenen Geschichte

Ob es Sinn ergibt, mitten im Leben öffentlich in die Retrospektive zu gehen, thematisiert die Autorin gleich zu Beginn ihres Buches. Wer bin ich? Was genau habe ich schon zu sagen? Müssten nicht noch viele Jahre vergehen, ehe ich vorschnell Schlüsse ziehe? Und kann ich das überhaupt, ein Buch schreiben?

Songwriterin Sarah Brendel schreibt über ihren Lebensweg mit Gott und Menschen (Bild: privat)
Songwriterin Sarah Brendel schreibt über ihren Lebensweg mit Gott und Menschen. (Bild: Daniel Lindhüber)

Sarah Brendel geht schon im Prolog auf diese naheliegenden Sinnfragen ein. Außerdem umreißt sie, was mich als Leser erwartet und warum sie überhaupt die Gitarre aus der Hand gelegt hat, um Erinnerungen ihres noch jungen Lebens chronologisch sortiert festzuhalten:

Auf dem Weg durch mein Leben schreibe ich von Begegnungen mit Menschen. Einige dauerten nur einen Moment, einen Augenblick lang – nicht länger als ein Stoßgebet – und doch erinnere ich mich genau. Aus anderen wurden Freundschaften.

Ich möchte dir, liebe Leserin, lieber Leser, Mut zur eigenen Geschichte machen. Das Gefühl für die eigene Besonderheit, den eigenen Wert – Gott in deiner Person zu suchen und zu entdecken, um dem nahezukommen, was den Kern eines jeden Menschen ausmacht: das Herz. (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 9)

Sarah Brendel malt mit Worten Bilder

Der kurze Ausschnitt zu Anfang zeichnet nicht nur das Was und Warum der 256 Buchseiten vor. Er setzt auch den Ton, wie der Weg aussieht, oder besser: wie es sich anfühlt, ihn lesend mitzugehen.

Denn es geht ums Herz. Das Herz von Menschen. Das Herz von Sarah Brendel und vieler Menschen weltweit, die bis jetzt ihren Weg gekreuzt haben. Und deren Leben die Aktivistin, Familienfrau und Songwriterin stets bemüht ist zum Besseren zu verändern.

Schnell wird beim Lesen klar: Es ist das Buch einer Musikerin, die es gewohnt ist, mit Tönen, Klang und Sprache umzugehen, Stimmungen entstehen zu lassen und mit dem Publikum zu kommunizieren. Sarah Brendel ist geübt darin, an Worten und Formulierungen zu feilen, bis Ausdruck und Inhalt ein gutes Miteinander gefunden haben.

Es macht Freude, in ihrem Buch zu lesen. Mehr noch: Es tut richtig gut. Die Sprache, mit der sie episodenhaft und anekdotisch die eigene Vergangenheit durchschreitet, lässt mich an Gemälde von Caspar David Friedrich denken: nicht ausufernd, aber frei, scheinbar grenzenlos, ausdruckstark, wohltuend, behutsam, ehrlich und warm.

Über allem liegt jedoch auch ein Hauch von Picasso: nicht surreal, aber schemenhaft, eine Skizze, verkürzt, und immer wieder schwer zu fassen.

Von der Enge in die Weite …

Der Titel des Buches, „Das Kleinste ist nicht zu klein“, ist angelehnt an ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer. Achtsam beschreibt Sarah Brendel also chronologisch kleine bis kleinste Begegnungen aus ihrem bisherigen Lebensweg. Sie erzählt von Menschen, die sie geprägt haben und sie haben werden lassen, die sie heute ist, angefangen bei der frühen Kindheit, den Eltern und Großeltern.

Eine Musikerin blickt zurück (Bild: SCM Hänssler)
Eine Musikerin blickt zurück (Bild: SCM Hänssler)

Sarah Brendel ist die ersten Jahre in einem Heim und einer Pflegefamilie aufgewachsen, später lebte sie mit den leiblichen Eltern, umgeben von viel Musik, in dörflicher Idylle. Geschwister, Kinderfreundschaften, Teenagerjahre, eine Mundharmonika und eine Gitarre, Auftritte, Talentwettbewerb, das erste Verliebtsein – all das findet in ihrem Buch Erwähnung.

Es folgen berufliche Schritte abseits der Musik, aber auch Aufnahmen in Tonstudios, Plattenverträge, Tourneen, schließlich Partnerschaft und Familiengründung. Sarah Brendel wechselt mehrmals den Wohnort, beteiligt sich an Hilfsprojekten oder hilft in Krisenregionen unkonventionell auf eigene Faust. Heute lebt sie auf Schloss Röhrsdorf im Dresdener Umland und ist Teil einer kommunitären Künstler- und Lebensgemeinschaft, die sie mit ins Leben gerufen hat.

Sie berichtet offen von Auseinandersetzungen im Dorf, mehr von der Musik, ihren Vorbildern und der Sehnsucht, den eigenen Weg zu finden, einer Bestimmung zu folgen. Doch im Wesentlichen sind es Menschen, von denen die Rede ist. Nie steht die eigene Karriere im Mittelpunkt, die Zahlen, das große Geld oder der Applaus an sich.

… unterwegs zu den Menschen

So lese ich von ihrer eigenen und anderen Familien, Freunden und Förderern. Reihenweise Geflüchteten im In- und Ausland, in Notunterkünften oder Flüchtlingscamps. Verzweifelten, denen Sarah Brendel durch Musik Linderung und Hoffnung bringen will. Gefangenen, die sie zu Konzerten hinter Schloss und Riegel oder persönlich besucht.

Sie sieht Obdachlose auf den Straßen großer Städte in aller Welt und kümmert sich. Sie geht zu Armen, denen das Nötigste fehlt. Die Künstlerin hockt sich zu Menschen auf den Boden und schenkt ihnen Zeit, Würde, Aufmerksamkeit, ein paar Münzen, einen Kaffee.

Nach dem Konzert gibt es keine Zugaben, sondern – wer möchte – Umarmungen und Gebet. Und überhaupt ist Musik für sie eine sanfte, aber wichtige Waffe. Brendel beschreibt es so:

Meine Gitarre war ein wertvolles Objekt. Jeder im Gefängnis, ob Wärter oder Insasse, hatte ein Auge auf sie geworfen. Sie war meine Geheimwaffe. Sie schützte mich vor den Blicken der Männer und war gleichzeitig der Türöffner für Gespräche.

Und sie konnte sehr tief ins Herz vordringen – egal, ob Wärter oder gefürchteter Direktor, ob Häftling oder Sozialarbeiter. Musik öffnet die Herzen der Menschen. Musik ist frei von Hierarchien und Grenzen, das begann ich im Gefängnis noch besser zu verstehen. (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 254)

Hilfe kennt keine Grenzen?

Sarah Brendel nimmt teils weite Wege auf sich, um zu Menschen zu gelangen. Die Orte ihrer Lebensreise liegen weit verstreut, von Norddeutschland, Sachsen, Polen, Rumänien, Moldawien und Griechenland bis hin zu Tel Aviv, Mumbai, Bangalore, Uganda und den USA.

Dabei hilft sie privat aus eigener Tasche, unkompliziert von Mensch zu Mensch, auf eigene Faust oder aber mit Hilfsorganisationen wie der „International Justice Mission“ (IJM). Gemeinsam mit anderen ruft sie den Verein „Refugeeum e. V.“ ins Leben für Menschen auf der Flucht oder initiiert die Renovierung eines alten Gasthofes, der seither eine Unterkunft für Geflüchtete ist.

Ruhelos und lauschend treibt die Autorin die Frage um, wo Gott sie als Nächstes haben will. Sarah Brendel ist ein kreativer Beziehungs-Mensch mit Herz, aber in erster Linie eines: Helferin. Und es sind viele Menschen, die Hilfe brauchen – vielleicht zu viele?

Das Umfeld Brendels spürt es früher als die Sängerin selbst: „Auf der Straße zu unserer Unterkunft sahen wir eine Bettlerin. Meine Tochter zog mich am Arm: ‚Wir können nicht jedem helfen, Mama. Komm jetzt!‘, sagte sie müde, und ich folgte ihr.“ (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 161)

Im Lauf der Zeit bekommt die Herzensfrau das Signal öfter: Du kannst nicht allen helfen! Warum versucht sie es dennoch, wo immer sich ihr eine Gelegenheit bietet, egal ob in der Ferne oder Nähe? Wohl weil sie oft genug Gott am Werk darin erlebt hat, der hinter den Begegnungen steckt. Die Autorin folgt immer wieder seinem Ruf, der sie behutsam zu den Menschen schickt: „Soll ich? (…) Oder will Gott mich mal wieder unterbrechen?“ (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 121).

Was das Lesen schwer macht

Unzählige Begegnungen mit Menschen sind der Autorin noch in Erinnerung. Vieles in den Wohltaten scheint sich jedoch zu wiederholen, klingt ähnlich oder ist wenig tiefgehend. Immer wieder bin ich enttäuscht: Die Menschen, die die Autorin beschreibt, fangen gerade an, zu interessanten Figuren zu werden, da zieht die Chronistin weiter, nur wenige tauchen später erneut auf. Hier merkt man ganz klar: Das Leben ist kein Roman.

Fehlt vielleicht der Platz, um die einzelnen Begegnungen breiter auszuführen? Oder stolpern Brendels Erinnerungen stakkatoartig von einem Gesicht zum nächsten, weil ihr der Abstand von Jahren fehlt, der manches in ein neues Licht rückt und den tieferen Wert des Erlebten zeigt?

Wie sie selbst schreibt: Es braucht „Raum und Zeit für das eigene Wachstum. Eine gesunde Distanz bewirkt, dass Aufgewühltes heilen kann und Unentdecktes zum Vorschein kommt.“ (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 112).

So fällt es mir als Leser schwer, an den Schilderungen dranzubleiben. Im „echten Leben“ mag sich der Spannungsbogen anders angefühlt haben. In einer Reihe aufgefädelt und von außen betrachtet erschließt sich nicht immer, was das Besondere an der gefühlt hundertsten kleinen Episode ist.

Ein sanftes Vorbild

Und dennoch: Eigentlich ist jede dieser persönlichen Begegnungen ein Wirken Gottes, ein Wunder. Indem Sarah Brendel davon erzählt, gibt sie Zeugnis von ihrem Glauben und von Gott, der die Menschen liebt und ihnen nachgeht.

Sarah Brendel ermutigt, zur eigenen Geschichte zu stehen. (Bild: privat)
Sarah Brendel ermutigt, zur eigenen Geschichte zu stehen. (Bild: privat)

Sie selbst erlebt es als „leise Stimme aus meinem Herzen, die mich auf Fährten führt, die ich sonst nicht gegangen wäre. Sie gleicht einem kleinen Vogel, der auf meiner Fensterbank sitzt und zart, aber beharrlich, an die Scheibe tickt.“ (Das Kleinste ist nicht zu klein, S. 227) Dem als Leser nachzuspüren ist inspirierend.

So verkürzt viele Schilderungen auch sein mögen, das Buch als Ganzes ist angenehm anschaulich und abwechslungsreich gestaltet. Hier ist die Vielfalt ein Plus: Es sind viele Bilder enthalten, Fotos, Liedtexte, QR-Codes zum Nachhören der Songs und immer wieder Zitate, die die Quellen der Inspiration der Autorin zeigen.

Zugleich wird aber auch vieles verschwiegen. Ich erfahre längst nicht alle Jahreszahlen und jeden Namen, seien es genaue Orte, Menschen oder Organisationen. Warum behält die Autorin harmlose Fakten für sich, die ich sogar im Internet recherchieren kann? Weil es ihr an dieser Stelle nicht so wichtig ist? Weil sie diskret bleiben möchte? Oder um nicht unnötig abzulenken?

So entsteht aus Zurückhaltung hier und da ein Gefühl der Geheimniskrämerei in der eigenen Biografie. Das erzeugt eine irritierende Distanz.

Fazit

Die Autobiografie „Das Kleinste ist nicht zu klein“ von Sarah Brendel ist ein anschauliches Zeugnis für Hilfsbereitschaft und Mildtätigkeit in einer Zeit, in der Menschen sich lieber in ihren Dörfern, Gruppen und Nationen voneinander abschotten und wegschauen.

Fremdartiges bringt vielerorts Argwohn und Hass hervor, bis hin zu menschenverachtendem Verhalten. Auch Sarah Brendel erfährt unter anderem an ihrem Wohnort ein gerüttelt Maß an Gegenwind und leistet dennoch geduldig Hilfe und Überzeugungsarbeit.

Zu lesen im leisen Buch einer Frau, die in sich ruht und sich von dort aus immer wieder auf den Weg zu anderen macht. Aufgerüttelt von den Umständen, von Gott, manchmal auch von beidem.

Sarah Brendel will Menschen helfen und die Welt verändern, wo sie es vermag. Und zwischendrin verändert sich die Welt, verändern sich Schicksale, geschehen kleine und große Wunder. Es entstehen Lieder, Projekte, Geschichten, ein halbes Leben – mit einem Herz für Menschen.
 

 Kai Rinsland

Kai Rinsland

  |  Redakteur und Programmplaner

Der gebürtige Gießener schreibt für ERF.de und koordiniert die Produktion der ERF Antenne. Daneben ist er aktuell die Stationvoice von ERF Plus. Er lebt mit seiner Frau in einem Holzhaus, geht wandern, klettern und e-biken. Er isst gerne Fisch und genießt kräftigen Espresso.

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