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© Adrian Swancar / unsplash.com

22.11.2025 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Sonja Kilian

Plötzlich Stillstand

Für Reto Kaltbrunner kam das Chronische Fatigue-Syndrom völlig unerwartet. Was ihm hilft, damit umzugehen.

Reto Kaltbrunner ist ein Macher, für den es keine Grenzen zu geben scheint, doch eines Morgens kann er nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Die Diagnose: Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS).

Kaltbrunner ist Familienvater, sportlich aktiv und steht mitten im Leben. Zusammen mit seiner Frau hat er die Freikirche ICF St. Gallen gegründet. Die Diagnose erwischt ihn eiskalt. Sie stellt sein Leben komplett auf den Kopf und zwingt ihn, kürzer zu treten. Wie ihm das gelungen ist und wie ihm dabei der Glaube an Jesus geholfen hat, erzählt er im Interview.

ERF: Schön, dass du die lange Anreise auf dich genommen hast. Das muss anstrengend für dich gewesen sein, denn bei dir wurde das Chronische Fatigue-Syndrom diagnostiziert. Wie äußert sich das?

Reto Kaltbrunner: Das Chronische Fatigue Syndrom ist eine Krankheit, die vielfach unterschätzt wird. Sie betrifft meistens mehrere Teile des Körpers, zum Beispiel Muskeln, Gelenke, Verdauung. Auch das Gehirn, die Konzentration, die Sensibilität auf Licht oder auf Geräusche können beeinträchtigt sein.

Früher waren das alles keine Themen für mich, aber heute habe ich erheblich weniger Energie. Ich habe chronische Schmerzen, Muskelverspannungen und Krämpfe. Mich über längere Zeit auf unterschiedliche Dinge zu konzentrieren, ist für mich extrem ermüdend und löst Schwindel und Kopfschmerzen aus. 

„Krank sind die anderen“

ERF: Du standest mitten im Leben und bist ein vielseitig interessierter und begabter Mensch. Kam deine Kraftlosigkeit schleichend oder ging das sehr schnell?

Reto Kaltbrunner: Meine Einstellung war mehr oder weniger: Krank sind die anderen, ich bin der Gesunde, der Starke. Ich bin derjenige, der sich kümmert um diejenigen, die jemanden brauchen, der sich um sie kümmert. Meinen eigenen Körper habe ich kaum wahrgenommen. Ich war da nicht sehr feinfühlig. Ich denke, dadurch ist es für mich gefühlt sehr schnell gekommen.

ERF: Wie weit musste die Kraftlosigkeit gehen, bis du zum Arzt gegangen bist?

Reto Kaltbrunner: Ich bin im Herbst 2018 vier Wochen nicht mehr aus dem Bett gekommen. Wenn ich mich um Körperhygiene und vielleicht noch ein, zwei E-Mails kümmern konnte, war das schon ein sehr guter Tag. Nach diesen vier Wochen konnte ich mich wieder ein bisschen aufrappeln.

Aber ich merkte dann nach einer erneuten dreimonatigen Episode, in der ich nicht mehr aus dem Bett gekommen bin, dass es so nicht weitergehen kann. Ich bin zum Arzt gegangen, um mich einfach krankschreiben zu lassen. Ich habe gehofft, dass er mir irgendeine Pille gibt und ich wieder schnell auf die Beine komme.

Chronisches Fatigue-Syndrom: die unsichtbare Krankheit

ERF: Ist es schwierig, das Chronische Fatigue-Syndrom zu diagnostizieren?

Reto Kaltbrunner: Sehr schwierig. Bei CFS gibt es keinen fixen Marker, nichts, was man im Blut nachweisen oder gut erkennen kann. Es ist ein sehr diffuses Krankheitsbild und nicht immer genau gleich. 

Zwischendurch habe ich mich gefragt: Bin ich einfach nur durchgedreht? Bin ich einfach psychisch krank?

Aber diese körperlichen Symptome, diese Schwäche, das ist die Realität, ob man es nachweisen kann oder nicht. Später hat mein Rheumatologe unabhängig davon auch noch Rheuma bei mir diagnostiziert. Das kann auch Fatigue verursachen. 

ERF: Was hilft dir in deiner Situation weiter?

Reto Kaltbrunner: Ich habe eine Methode erlernt, die heißt Pacing. Ich probiere, nur mit 80 Prozent meines Energiehaushaltes auszukommen. Früher habe ich nicht einmal die 100 Prozent respektiert und jetzt von meiner sehr wenigen Energie nur noch 80 Prozent aufzubrauchen und dann noch 20 Prozent quasi als Knautschzone übrig zu haben, war ein schwieriger Prozess.

Auch Minipausen helfen mir sehr. Außerdem ernähre ich mich weitestgehend zucker- und glutenfrei und es gibt gewisse Medikamente, die bei uns im Spital experimentell eingesetzt werden. Aber ich muss leider sagen: Ich werde in absehbarer Zeit nicht wieder vor Energie strotzen.

„Gott sagt: Ich bin in den Schwachen stark.“

ERF: Du hast deine Ernährung umgestellt, achtest heute auf deine Belastbarkeit und machst mehr Pausen. Was heißt das für deinen Job, deine Familie und deinen Alltag?

Reto Kaltbrunner: Den Beruf als Pastor musste ich leider vor einem Jahr aufgeben. Ich wollte lange nicht loslassen und die Realität nicht akzeptieren. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich wusste: Jetzt muss ich die Kirche abgeben, weil sonst die Kirche darunter leidet. 

Ich bin heute viel mehr zu Hause als vorher und nicht nur physisch anwesend, wie ich es früher oft war, weil ich mit dem Kopf immer irgendwo anderweitig beschäftigt war. Meine Frau und meine Söhne wissen, dass sie mich jederzeit ansprechen können, auch wenn ich mich zur Pause in mein Zimmer zurückgezogen habe.

Dadurch hat sich die Beziehung zu meinen Söhnen vertieft. Ich bekomme eher mit, wo sie gerade im Leben stehen. Wir haben eine bessere Gesprächskultur entwickelt. Und ich habe jetzt einen kleinen Hund, mit dem ich regelmäßig nach draußen gehe. 

ERF: Sind das Dinge, die du dir vorher schon gewünscht hast, als du noch fit und aktiv warst?

Reto Kaltbrunner: Es klingt vielleicht irrsinnig, aber ich habe jetzt das bessere Leben trotz meiner gesundheitlichen Herausforderungen oder vielleicht gerade deshalb. Vorher habe ich nicht überlegt, ob ich Energie für ein Projekt habe oder es gerade dran war. Wenn es irgendwie Gott gedient hat, habe ich das einfach gemacht. Jetzt lebe ich ruhiger, fokussierter, beziehungsorientierter.

Es klingt vielleicht irrsinnig, aber ich habe jetzt das bessere Leben trotz meiner gesundheitlichen Herausforderungen oder vielleicht gerade deshalb.

ERF: Du sagst, wenn es Gott gedient hat, hast du es gemacht. War das der Motor, der dich angetrieben hat, so viel zu leisten?

Reto Kaltbrunner: Ich leiste einfach gerne. Daran hat sich nichts geändert. Ich glaube auch nicht, dass es schlecht ist, wenn ein Mensch gerne leistet. Es wird aber dann zum Problem, wenn man sich über seine Leistung definiert. Und natürlich habe ich das auch ein Stück weit getan.

Es war mir wichtig, als fleißig und produktiv wahrgenommen zu werden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich auch Gott beeindrucken wollte; dass ich wollte, dass Gott begeistert von mir ist oder von all dem, was ich für ihn tue. Und dann haben auch die Leistungsgesellschaft und mein ADHS ihren Teil zu meinem Getriebensein beigetragen.

Gottes bedingungsloses Ja hautnah erlebt

ERF: Wie definierst du deine Identität heute? Spielt da Leistung keine so große Rolle mehr?

Reto Kaltbrunner: Im Kopf wusste ich schon immer, dass Gott mich bedingungslos liebt. Punkt. Wir werden nur durch die Gnade von Jesus Teil seiner Familie und dürfen einfach sein bei ihm. Es gibt ja vieles, was wir über Gott wissen, aber irgendwie rutschen diese Dinge nicht ins Herz.

Heute kann ich nicht mehr einfach lospowern, wie ich das früher gemacht habe. Und ich erlebe wirklich dieses Ja von Gott, das er zu uns hat. Und zwar unabhängig davon, ob wir viel leisten oder nicht. Ich spüre seine Liebe und seine Nähe. Wir erleben viele Wunder, auch was die Versorgung auf finanzieller Ebene betrifft.

Von daher würde ich sagen: Gott hat diese Situation, das Fatigue, dazu genutzt, mir zu zeigen, wer ich ohne Leistung bin. Ich habe es verstanden, weil ich es erlebt habe. Vorher habe ich es gewusst, aber jetzt erlebe ich es.

ERF: Bist du gnädiger anderen gegenüber geworden, die wenig leisten können?

Reto Kaltbrunner: Ja, ich habe heute viel mehr Einfühlungsvermögen als früher. Vorher fehlte mir oft das Verständnis, wenn jemand zu seinen eigenen Grenzen stand. Dabei hätte ich ihm eigentlich dazu gratulieren müssen. Gut, manche Menschen übertreiben es mit der Selbstfürsorge. Aber man kann es – wie man an meinem Beispiel sieht – auch mit dem Gegenteil übertreiben.

Zu seinen eigenen Grenzen zu stehen, ist der Anfang von ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbstʻ. 

Wenn ich zu meinen eigenen Grenzen stehe, dann ist das ein Zeichen der Liebe für mich selbst. Ich wurde dadurch definitiv gnädiger mit anderen Menschen. Es geht mir nun auch viel näher, wenn Menschen leiden oder eine schwierige Zeit durchmachen, sich in einer Krise befinden.

Gott ist mitten im Tal des Todesschattens

ERF: Du hast ein Buch geschrieben mit dem Titel „Mit ganzer Kraft schwach“. Darin schreibst du über deine eigene Schwäche – warum?

Reto Kaltbrunner: Mir ist es wichtig, dass Leute sich verstanden fühlen. Ich mache gar nicht viel. Aber ich mache vieles anders. Ich bin einfach ich. Ich darf mit meiner ganzen Schwäche hier sein und anderen Menschen und vor allem anderen Christen zugestehen, dass auch sie schwach und krank sein dürfen. 

Das hat nichts mit einem Mangel an Glauben zu tun. Wir sind auch wichtig, wenn wir krank und schwach sind. Das hat mir Gott aufs Herz gelegt. Das ist meine Message und dafür stehe ich ein.

ERF: Was gibst du Menschen mit auf den Weg, die – wie du – an einer chronischen Krankheit leiden?

Reto Kaltbrunner: Mir wurde Psalm 23,4 sehr wichtig. Da heißt es: „Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.“

Das heißt: Gott als guter Hirte begleitet mich, er tröstet mich, er ist da für mich. Er wartet nicht am Ende des Tunnels, sondern er ist bei mir mitten im Tal des Totenschattens. Gottes Nähe und sein Segen sind nicht abhängig von Gesundheit und Wohlstand, sondern seine Nähe und sein Segen sind überall da, wo er ist. 

Wichtig ist es auch, Kranken Mitgefühl zu zeigen, sie zu sehen und einfach für sie da zu sein, auch wenn man selbst nicht viel tun kann. Man denkt oft: Ich habe ja gar nichts zu geben, ich kann ja gar nicht helfen. Aber einfach Verständnis ausdrücken, Liebe bezeugen, wie man das auch immer tun will, ist extrem kraftvoll.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit und Kraft, die du dafür investiert hast.

Autor/-in

Sonja Kilian

  |  Redakteurin

Die verheiratete Mutter zweier Töchter liebt inspirierende Biografien. Deshalb liest sie gern, was Menschen mit Gott erlebt haben, schreibt als Autorin darüber und befragt ihre Gäste in Interviews auf ERF Plus.

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