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© Rolf van Melis / pixelio.de

07.03.2013 / ERF International / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Bozena Meske

Bloß keine Marmelade!

Eine Ehe zwischen einer Polin und einem Deutschen. Da sind Missverständnisse vorprogrammiert. Bozena Meske erzählt, wie sie und ihr Mann diese Hürden meistern.

Bozena Meske zog nach dem Abitur 1994 von Polen nach Deutschland. Heute arbeitet sie ehrenamtlich als Übersetzerin beim polnischen Telefonangebot von ERF International mit. ERF Online hat sie erzählt, wie sie den Wechsel von Polen nach Deutschland erlebt hat und wie ihr Mann und sie die Schwierigkeiten einer interkulturellen Ehe meistern.

Ich bin in Wejherowo, einem Ort 50 Kilometer von Danzig entfernt aufgewachsen. In meiner Schule war ich das einzige evangelische Kind. Zum Gottesdienst mussten wir immer bis nach Danzig fahren, denn nach dem Krieg gab es kaum evangelische Gemeinden. Am 4. Juni 1989, am Tag meiner Konfirmation, veränderte sich unsere Welt. In Polen fanden die ersten freien Wahlen seit dem Zweiten Weltkrieg statt, der Kommunismus wurde abgeschafft.

Nach und nach wurde alles anders: Nicht nur auf der politischen Landkarte, sondern auch im täglichen Leben. Die Reglementierung wurde abgeschafft und die Läden füllten sich mit Waren. An den Straßenecken bauten Leute Tische auf und verkauften Bücher, die vorher zwar begehrt, aber nirgendwo erhältlich waren. Doch die Freiheit hatte auch ihre Schattenseiten. Eine Inflation von 300 Prozent zog uns finanziell den Boden unter den Füßen weg. Wir waren gerade dabei ein Haus zu bauen, als die Firma meines Vaters geschlossen wurde. Er suchte sein Glück in Deutschland. Zwei Jahre später kamen wir als Familie nach.

„Ich habe Ihnen einen Denkzettel mitgebracht!“

In Deutschland war alles anders. Die Sprache war mir fremd. Ich beherrschte sie zwar ziemlich gut, doch diese Sprache hatte für mich keine Leichtigkeit. Ich konnte nicht mit Andeutungen spielen oder etwas augenzwinkernd zum Ausdruck bringen. Einmal sollte ich den Direktor der Schule, an der ich meine Ausbildung machte, an etwas erinnern. Also ging ich zu ihm und sagte: „Ich habe Ihnen einen Denkzettel mitgebracht.“ Er schaute mich ganz seltsam an, was mich wiederum verunsicherte. Für mich war meine Aussage logisch. Ich dachte, ein Denkzettel sei ein Zettel, auf den man schreibt, woran man sich erinnern will. Ich wusste nicht, dass ein Denkzettel etwas völlig anderes ist.

Auch der Tagesrhythmus war ein anderer. In Polen war man es gewöhnt, früh aufzustehen und ab 16 Uhr frei zu haben. Dann tranken wir mit den Nachbarn Kaffee, arbeiteten im Garten oder besuchten Freunde. Doch in Deutschland arbeiten alle noch am Nachmittag und selbst der Jugendkreis fand am Abend statt. Auch die Mittagspause war mir völlig unbekannt und nicht selten stand ich vor geschlossenen Läden. Ebenso verwirrte mich das Gesundheitssystem: In Polen gab es eine Anlaufstelle, wo ich hingehen konnte und dann warten musste, bis ein Arzt mich empfängt. In Deutschland hat jeder Arzt seine eigene Praxis, mit der man vorab telefonisch einen Termin vereinbaren muss. Nicht zuletzt die Bürokratie brachte mich zur Verzweiflung. Eigentlich wollte ich studieren, aber nachdem ich zwei Monate durch alle möglichen Ämter gepilgert war, bekam ich nur eine Bescheinigung über einen Realschulabschluss und musste mein Leben neu erfinden.

Trotz der kulturellen Unterschiede fand ich schnell Anschluss an eine Gemeinde. Ich besuchte einen Gottesdienst der Stadtmission in Hamburg. Als ich dem Prediger dort meine Geschichte erzählte, fragte er mich, ob ich in der Jungschar mitarbeiten möchte. Damit sprach er mich intuitiv auf einer Ebene an, die zu mir passte. Bereits in Polen hatte ich in der Sonntagschule mitgearbeitet. So fand ich gleich in die Gemeinde und in die Mitarbeit hinein und habe sogar noch heute Kontakt zu meiner damaligen Gemeinde.

Unser Glaube führte uns in die Sackgasse – und wieder heraus

Gerade in der Ehe mit meinem Mann wurde das interkulturelle Zusammenleben zu einer großen Herausforderung. Am Anfang versuchten wir es mit Anpassung, aber das brachte unsere Ehe fast zum Scheitern. Denn Anpassung bedeutet, dass einer seine Identität aufgibt. Der Lieblingsvergleich, den mein Mann und ich verwenden, um diese Problematik zu erklären, ist die Frage: Ist eine Temperatur von 25 Grad warm oder kalt? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man die Celsiusskala oder die Fahrenheitskala verwendet. In einer interkulturellen Ehe müssen beide lernen, ihre jeweiligen Skalen anzupassen. Wenn man sich auf eine der beiden Skalen einigt, liegt die alleinige Umrechnungsverantwortung bei der Person, die von Hause aus die andere Skala kennt. Das ist ein enormer Anspruch.

Die gemeinsame Glaubensbasis war uns anfangs bei diesen Problemen keine Hilfe, sondern eher hinderlich. Denn in christlichen Gemeinden und in den Eheseminaren, an denen wir teilnahmen, wurde oft der Aspekt der Einheit betont. Diese Einheit wollten wir als Ehepartner leben. Dies war aufgrund unseres unterschiedlichen Hintergrunds aber kaum zu bewältigen und diese erzwungene Einheit führte uns in eine Sackgasse. Wir versuchten unsere unterschiedlichen Glaubensprägungen in „richtig“ oder „falsch“ einzuteilen. Erst als wir merkten, dass es nicht um diese Einteilung geht, sondern darum, den anderen in seiner Unterschiedlichkeit zu verstehen, entdeckten wir, dass wir viel Gesprächsstoff haben. Wir reden immer noch sehr intensiv und lange über Bibeltexte und fragen einander oft: „Welche Schlüsse ziehst du aus diesem Bibeltext?“ Manchmal eröffnet die Antwort des anderen ganz neue Blickwinkel.

Im Gesamten hat das unseren Glauben erweitert und bereichert, doch am Anfang dieses Prozesses hat es uns erst mal sehr verunsichert. Wir mussten lernen, dass unser Glaube zwar unsere gemeinsame Basis ist, aber dass unser jeweiliger Glaube auch durch kulturelle, gesellschaftliche und politische Wurzeln geprägt ist – und diese waren eben unterschiedlich. Zwar gab es keine radikalen Widersprüche in unserem Gottesbild, aber wir setzten in unserem Glauben unterschiedliche Schwerpunkte. Mir war der diakonische Aspekt des Glaubens sehr wichtig; für meinen Mann stand mehr die persönliche Gottesbeziehung im Mittelpunkt.

Kulturelle Unterschiedlichkeit – mehr als Sitten und Gebräuche

Mittlerweile versuchen wir unsere unterschiedlichen Glaubenstraditionen zu versöhnen. Hilfreich war hierbei, dass wir uns immer auf eine Gemeinde einigen konnten. Nicht überall passte es auf Anhieb wie in der Stadtmission in Hamburg, doch es war uns fast immer möglich in der Frage „In welche Gemeinde gehen wir nun?“ übereinzukommen. Diese gemeinsame Basis ist für uns wichtig und wertvoll. Dort wo es nicht ging, lernten wir die Unterschiedlichkeit zu respektieren.

Bozena Meske und ihre Familie beim Weihnachtsfest. (Bild: privat)

Auch in anderen Lebensbereichen haben wir gemeinsame Ebenen geschaffen, zum Beispiel vereinigten wir unsere jeweiligen Weihnachtstraditionen. Es werden sowohl im Advent Plätzchen gebacken als auch am Heiligabend Rote Beete-Suppe gekocht und Oblaten miteinander geteilt, wie es in Polen üblich ist. Aber die eigentlichen Herausforderungen bestehen nicht in Sitten und Gebräuchen, sondern liegen tiefer und sind dadurch unsichtbar.

Ein ganz wichtiger Bereich ist die Kommunikation. So war es in den kommunistischen Ländern üblich Kritik auf rationale, intellektuelle Art zu äußern. Hier wird man aufgefordert, „Ich-Botschaften“ zu nutzen. Ich konnte damit wenig anfangen. Wenn ich also aufgefordert wurde meine Meinung zu sagen, tat ich es auf die mir vertraute Art. Daraufhin wurde mir vorgeworfen, ich wäre nicht echt und würde zu meinen Gefühlen nicht stehen, sondern nur eine intellektuelle „Draufschau“ betreiben. Das tat weh.

„Ich kann doch Gästen nicht einfach nur Marmelade vorsetzen!“

Es kommt auch vor, dass man durch Traditionen oder Sitten des anderen verletzt wird, weil sie im eigenen kulturellen Hintergrund eine andere Bedeutung haben. Wenn wir bei meinen Schwiegereltern zu Besuch waren, gab es zum Frühstück immer Marmelade. Da ich an ein anderes Frühstück gewohnt bin, wurde ich bei ihnen nie satt. Auch fühlte ich mich abgelehnt. Viele Jahre vergingen, bis ich identifizieren konnte, woher das kam. Der Auslöser war die Marmelade. In Polen war Marmelade ein Essen für arme Leute. Man sättigte damit seinen Hunger, wenn nichts anderes da war. Doch ein Gast hatte immer einen besonderen Stellenwert. Ihm setzte man etwas Besseres vor als Marmelade. Und da meine Schwiegereltern keine armen Leute waren, schien es mir so, als sei ich ihnen nicht mehr wert.

Es war ein langer Weg diese Fehlinterpretation zu enttarnen. Wir mussten uns mit den kulinarischen Gewohnheiten unserer Familien auseinandersetzen und erkennen, dass Gewohnheiten jeweils auf dem Hintergrund der gesamten Lebenssituation zu sehen sind. Es galt zu verstehen, dass dem äußeren Umfeld in manchen Kulturen eine große Bedeutung zukommt, in anderen Kulturen aber nur das ausdrücklich ausgesprochene Wort gilt. Die Begegnung von Menschen aus diesen zwei Welten ist schwierig: der Eine steht in der Gefahr Botschaften zu überhören, der Andere sieht Botschaften dort, wo keine gesendet werden.

Die Bedeutung der Marmelade, die ich zwar verinnerlicht habe, aber der ich mir nicht bewusst war, hat mir die Küchenchefin eines Kurhauses, in dem wir Urlaub machten, verdeutlicht. Eines Tages fragte sie mich, warum die deutschen Gäste immer nach Marmelade fragten. Sie sagte: „Ich mache mir so viel Mühe mit dem Frühstück, versuche es schmackhaft und abwechslungsreich zu gestalten. Ich kann doch Gästen, die den vollen Preis zahlen, nicht einfach nur Marmelade vorsetzen.“ „Sie sind es aber von zu Hause aus so gewohnt, das isst man so in Deutschland“, antwortete ich. Dadurch wurde mir erst klar, dass meine Schwiegereltern bei unseren Besuchen ebenfalls nur ihr gewohntes Frühstück servierten.

Durch solche Erfahrungen wird mir auch immer wieder bewusst, dass ich nicht mehr in Reinform polnisch bin. Ich habe hiesige Gewohnheiten und Denkweisen angenommen. Dennoch kann ich meine Herkunft nicht verleugnen. Im Prinzip ist es so, dass wenn man Polen mit der Farbe Rot beschreiben würde und Deutschland mit der Farbe Blau, ich Lila wäre. Ich bin weder ganz Polin noch ganz Deutsche.

Ihr Kommentar

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Kommentare (9)

Ruth R. /

vielen Dank für die offenen detaillierte lebenspraktische Schilderung und das teilhaben lassen am "ganz normalen Alltag"

A. Meske /

Hallo Lily Choe,
ich geben Ihnen recht. Ich habe damals auch nicht geglaubt, daß es so viele (bzw. überhaupt) Differenzen auf kultureller Ebene geben könnte. Heute sage ich, daß gerade die mehr

Klaus-Peter B. /

Das ist ein klassischer interkultureller Konflikt. Ich hätte zur Konfliktbearbeitung eine Mediation vorgeschlagen.

Burgstaller /

Habe das mit Verständnis gelesen, denn ich als Österreicher bin mit einer Französin verheiratet!

Lily Choe /

Herzlichen Dank an Frau Meske für diesen Artikel. Ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, dass es bei einer deutsch-polnischen Ehe so viele Differenzen gibt, die erst mal entdeckt und analysiert mehr

Thorsten /

Danke für diesen überraschenden offenen und sehr bereichernden Einblick in Ihre interkulturelle Ehe! Die Missverständnisse in der Kommunikation, die Sie beschreiben sind so plausibel und gleichzeitig so herausfordend. Ihre offene Reflektion ist erfrischend & sehr nachdenkenswert:)

FranzX /

Toll! Das ist alles sehr anschaulich beschrieben, man kann es so gut nachvollziehen!
Wir haben eine deutsch/deutsche Ehe, ich bin Wessi, meine Frau ist Ossi. Sogar hier haben wir ziemlich heftige mehr

Barbara M. /

Hallo Bozena, hier ist Barbara und die möchte dir von Herzen sagen, dass ich dankbar bin für deine eigene Geschichte, denn ich finde mich in ihr sehr deutlich wieder. Ich habe 2008 geheiratet und mehr

elisabeth /

Vielen Dank fuer Ihre Geschichte! Tut gut, sowas zu lesen. Ja, so aehnliche Erfahrungen haben wir mit unserer (deutschen) Familie hier in Italien auch gemacht. Ganz "falsch" war hier zum Beispiel die mehr

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