Schweigen kann viele Facetten haben. Susanne Thyroff hat das Schweigen für sich persönlich entdeckt und ihre Masterarbeit darüber geschrieben. Was Schweigen für sie bedeutet und wie sie es in ihren Alltag – auch als Führungskraft – einbaut, davon erzählt Susanne Thyroff im Interview mit Sonja Kilian.
ERF: Du hast eine Masterarbeit geschrieben unter dem Titel „Schweigen – eine vergessene Tugend für christliche Führungskräfte“. Wann hast du das Schweigen für dich so richtig entdeckt?
Susanne Thyroff: Beruflich spielte Schweigen für mich lange keine Rolle. Ich war viele Jahre im Vertrieb, dann im Marketing und habe nebenbei einen Chor geleitet. Ich habe also immer gesprochen. Vor zehn Jahren bin ich in eine Krise geraten. In dieser Zeit hatte ich viele Fragen und konnte mit niemandem so richtig darüber sprechen, weil es den Menschen um mich herum auch gerade nicht gut ging.
So musste ich schweigen und mein Erleben für mich behalten. Ich merkte aber, dass das Schweigen allein auch nicht das Beste ist. Deswegen bin ich zu einem Seminar gefahren, das mir jemand empfohlen hat. Das Seminar hieß „Seelische Stabilität durch Selbstfürsorge“. Der Seminarleiter war Baldur Kirchner. Wir hatten drei oder vier Möglichkeiten am Tag, zu schweigen, ganz praktisch knieend auf einem Gebetshöckerchen.
Baldur Kirchner gab uns den Rat, mit der Einstellung an das Schweigern heranzugehen: „Rede Herr, denn dein Knecht hört.“ Das ist ein Zitat aus 1. Samuel 3,9.
Es ging darum, mal zuzuhören, was Gott sagt, und dann einfach zu schauen, was passiert.
Parallel dazu hatte ich auch Gespräche. In diesen Tagen konnte ich wichtige Fragen für mich klären, mit denen ich gekommen war. Zum Beispiel die Frage: Soll ich mein nebenberufliches Theologiestudium weitermachen?
Ich bekam die klare Gewissheit: Das ist mein Weg. Als später die Frage anstand, über was ich meine Masterarbeit schreibe, habe ich gemerkt, dass das Thema Schweigen mich in den letzten Jahren stark geprägt hat. Nicht nur in der Kontemplation, also im Schweigen vor Gott, sondern auch im Schweigen dem Nächsten gegenüber oder dem Schweigen zur Selbstreflexion. So habe ich mich entschieden, meine Arbeit darüber zu schreiben.
Im Schweigen Gott anschauen
ERF: Vielen Menschen fällt es schwer, das, was sie in einem Seminar gehört haben, im Alltag umzusetzen. Wie ist dir das gelungen?
Susanne Thyroff: Mir persönlich hat es geholfen, eine feste Form zu finden. Ich habe mir beispielsweise so einen Gebetshocker gekauft. Wenn ich mich darauf setze, am besten in einem bestimmten Zimmer, hilft mir das. Ich konzentriere mich dann darauf, Jesus anzuschauen.
Zum Einstieg kann es auch helfen, ein Kapitel aus den Evangelien zu lesen. Zum Beispiel hat mich in der letzten Zeit die Geschichte aus Lukas 19 sehr bewegt, wie Jesus Zachäus anschaut und ihm sagt: „Komm runter, ich muss schnell in deinem Haus einkehren“ (nach Lukas 19,5). Ich habe mir das einfach vorgestellt und innerlich Jesus angeschaut, wie er da umringt von vielen Menschen ist und Zachäus auf dem Baum sieht und ihn ruft. Also einfach Jesus anzuschauen, das kann helfen.
ERF: Siehst du eine Gefahr darin, wenn man dabei erst mal nur eine Leere spürt?
Susanne Thyroff: Darüber habe ich auch mit Baldur Kirchner gesprochen. Ich dachte: Was kommt denn, wenn ich jetzt schweige? Und dann sagte er zu mir: „Sie sind Christin, da glauben Sie doch, dass der Heilige Geist in Ihnen wohnt. Dann hören Sie doch mal zu, was der Ihnen sagt.“
Das war für mich wirklich eine Erkenntnis!
Ich dachte: Ja, natürlich glaube ich, dass der Heilige Geist in mir als Christin wohnt. Warum habe ich dann Angst davor, was in mir hochkommen könnte?
Heute erlebe ich es so: Was da hochkommt, sind vielleicht irgendwelche unverarbeiteten Dinge. Heute Morgen fiel mir zum Beispiel ein: Ach, ich habe gestern was gesagt, das kann missverständlich gewesen sein. Sowas kommt dann am Morgen, aber das ist ja gut, dass das kommt. Denn dann kann ich das vor Jesus bringen und ihm sagen „Das war nicht so ideal gestern, vergib mir“ und es hinter mir lassen.
ERF: Wenn ich in die Stille gehe und es tauchen unangenehme Dinge auf, mit denen ich nicht fertig werde – was rätst du in diesem Fall?
Susanne Thyroff: Bei mir persönlich war es so, dass ich Begleitung in Anspruch genommen habe.
Im Schweigen sich selbst kennenlernen
ERF: Schweigen ist eine geistliche Übung, die schon ganz lange im Christentum existiert. Welche Bedeutung hatte das Schweigen für die ersten Kirchenväter und -mütter? Da taucht auch das Wort Kontemplation immer wieder auf. Was genau bedeutet das?
Susanne Thyroff: Kontemplation bedeutet die Betrachtung von etwas. Also die Betrachtung des eigenen Inneren oder die Betrachtung Gottes.
ERF: Schweigen hat also mehrere Dimensionen?
Susanne Thyroff: Ich glaube, Schweigen kann drei Dimensionen haben. Das eine ist das Schweigen einfach zur Selbstreflexion. Wenn ich zum Beispiel morgens wach werde und Zeit habe zu schweigen, dann kommen vielleicht Gedanken an Werte auf, die ich habe. Meine Grundüberzeugungen treten ins Bewusstsein – und wenn da eine Diskrepanz zu meinem Handeln ist, prallt das im Schweigen aufeinander.
Oder es können unverarbeitete Dinge hochkommen. Oft wird auch geschildert, dass Erinnerungen aus der Kindheit hochkommen. Da lerne ich mich selbst ein Stück weit kennen durch das Schweigen.
Es kann sein, dass das am Anfang schmerzhaft ist, weil ich zum Beispiel merke, dass Dinge, die ich tue, nicht mit den eigenen Werten übereinstimmen.
Aber wenn ich das einmal durchdrungen habe, da weitergegangen bin und das in Übereinstimmung gebracht habe, ist das Schweigen eine ganz, ganz große Kraftquelle. Ich persönlich habe es als heilsam erlebt.
Dem Nächsten durch Schweigen Raum geben
ERF: Wie sieht das denn nun mit dem Schweigen im Kontakt mit anderen Menschen aus?
Susanne Thyroff: Ich bin jemand, der früher oft gar nicht richtig zugehört hat, muss ich zu meiner Schande gestehen. Ich habe immer schon meine Antworten formuliert, während mein Gegenüber noch geredet hat, gerade auch in Konfliktgesprächen.
Aber ich glaube, es ist eine ganz, ganz große Hilfe, wenn wir erst mal zuhören und wirklich verstehen, was der andere sagen will. Manchen Menschen fällt es nicht so leicht, in Worte zu fassen, wie es ihnen geht und warum sie wie empfinden. Und ich kann den Kern eines Konfliktes nicht verstehen, wenn ich den anderen nicht ausreden lasse und vielleicht auch noch mal nachfrage und wirklich mal zuhöre und schweige.
Dazu gehört eine gewisse Demut. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich selbst ein bisschen zurückzunehmen und den anderen wirklich wertzuschätzen, indem ich ihm aufmerksam zuhöre.
ERF: Es gibt aber auch ein ungesundes Schweigen, wenn ich dem anderen durch mein Schweigen zeigen will: Ich sehe gar keinen Sinn darin, mit dir zu kommunizieren.
Susanne Thyroff: Baldur Kirchner schreibt in einem seiner Werke, dass er als Kind das Schweigen als Strafe erlebt hat. Er ist in einem Kinderheim aufgewachsen und er nennt so ein Schweigen psychische Folter. Ich denke, da muss man wirklich aufpassen, gerade im Umgang mit Kindern, dass man nicht durch das Schweigen einen Liebesentzug oder sowas vornimmt.
ERF: Das heißt, wir sollten uns üben, ein gutes Maß an Schweigen an der richtigen Stelle einzubauen?
Susanne Thyroff: Ja, aber ich glaube, wir fallen meist eher auf der anderen Seite vom Pferd, gerade in unserer Gesellschaft. Wer schweigt denn heute noch? Manchmal ist es klüger, nicht alles zu sagen, was man so denkt.
Was passiert in der Stille vor Gott?
ERF: Schweigen zur Selbstreflexion ist das eine, Schweigen anderen gegenüber das andere. Was passiert im Gegensatz dazu im bewussten Schweigen vor Gott?
Susanne Thyroff: Manchmal kann einem ein Vers in den Sinn kommen. Mir kommt oft in den Sinn: Ich könnte mal den oder jenen anrufen. Da kamen mir manchmal schon wirklich gute Ideen. Als es meinen Kindern mal nicht gut ging, habe ich auch mein Kind mitgebracht vor Gott und hatte den Eindruck, er berührt auch das Kind jetzt mit seiner Gegenwart.
Manchmal bin ich auch nach zehn Minuten aufgestanden, ohne irgendwas erlebt zu haben, aber mit dem Gefühl der Freude und Zuversicht.
ERF: Wie gehst du damit um, wenn du von Gott etwas erwartest, eine Antwort, einen Hinweis und dann scheint Gott zu schweigen und du hörst nichts.
Susanne Thyroff: Natürlich hat man Erwartungen. Ich stehe ja morgens auf mit meiner Bitte und äußere die. Dann versuche ich mir aber auch wieder zu sagen: Es geht mir jetzt nicht darum, meine Bitten vorzubringen, sondern ich möchte einfach still sein. Und ich denke, Gott kennt uns ja. Er weiß, was wir brauchen, und er weiß es sogar viel besser als wir.
Wenn ich einfach nur erwarte, dass ich durch die Stille wirklich ruhig werde, und das passiert, dann ist das schon eine große Sache, gerade wenn mein Alltag gerade sehr voll ist.
Als Führungskraft schweigen
ERF: „Schweigen – eine vergessene Tugend für christliche Führungskräfte“. Der Titel deiner Masterarbeit sagt ja schon, dass es vor allem darum geht, dass Führungskräfte mal schweigen sollen. Warum?
Susanne Thyroff: Da gibt es mehrere Dimensionen. Das eine ist, dass mir als Führungskraft das Schweigen enorm hilft, erst einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was ich eigentlich möchte. Es hilft mir bei Entscheidungen, dass ich nicht vorschnell irgendetwas mache, sondern mir selbst in Erinnerung rufe, dass es wichtig ist, diese Dinge auch vor Gott zu bringen. Das ist der geistliche Aspekt.
Ein anderer Punkt ist das Schweigen im Miteinander. Ich habe in den ersten Wochen hier im ERF viele Gespräche mit Führungskräften und mit Mitarbeitenden geführt und dabei sehr viel geschwiegen, Fragen gestellt und zugehört. Da setze ich ganz praktisch ein, was mir wichtig geworden ist.
ERF: Ein Begriff ist dir dabei wichtig geworden: Servant Leadership, dienende Leitung. Auch unser internationaler Partner TWR gibt das seit vielen Jahren in Seminaren weiter. Was ist damit genau gemeint?
Susanne Thyroff: Im Zusammenhang mit dem Schweigen verstehe ich darunter die Demut, sich selbst zurückzunehmen und dem anderen zuzuhören. Jesus ist das beste Beispiel für dienende Leitung. Er selbst hat sich immer wieder zurückgezogen und ist sich seines Auftrags klar geworden.
Er sagt zum Beispiel in Lukas 19 zu Zachäus: „Komm schnell runter, heute muss ich in deinem Haus einkehren.“ Woher wusste er denn, dass er dort einkehren muss? Es klingt nach einem Auftrag, den er von Gott hatte. Oder als wäre er sich einfach nochmal bewusst geworden: Wofür bin ich hier auf der Erde? Nämlich um zu suchen und zu retten, was verloren ist.
Servant Leadership bedeutet, dass ich mir immer wieder klar darüber werde, worum es im Kern geht. Was ist meine Aufgabe und wie dient das den Menschen, die ich führe?
Wie kann ich ihnen zum Beispiel helfen, aufzublühen? Was tut ihnen gut? Das kann ich nur erkennen, wenn ich ihnen zuhöre.
ERF: Und das dient wahrscheinlich letztlich dann auch dem Unternehmensziel.
Susanne Thyroff: Genau. Schweigen ist mehr als die Abwesenheit von Worten – es ist eine Kraftquelle: zur Selbstreflektion, für wertschätzendes Zuhören und für die Ausrichtung auf Gottes Führung.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch, Susanne. Ich wünsche dir Gottes Weisheit, um zu entscheiden, wann Schweigen wertvoll ist und wann Reden angebracht ist bei deiner Leitungsfunktion im ERF.
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