Dr. Athanasius Polag ist Benediktinermönch und promovierter Neutestamentler. Er geht davon aus, dass wir die biblischen Texte dann mit Gewinn lesen, wenn wir uns mit ihrem kulturellen und historischen Hintergrund beschäftigen. Zum anderen müssen wir aber auch offen sind für das Wirken des Heiligen Geistes. Denn die eigentliche Quelle der biblischen Worte liege nicht bei den einzelnen Verfassern in ihrer Zeit, sondern bei Gott. Welche praktischen Konsequenzen sich aus dieser Grundeinstellung für den Umgang mit der Bibel ergeben, beschreibt der Pater in folgenden Punkten:
1. Verstehen, wie es damals zuging
Es gibt keinen Zugang zum Schatz der Überlieferung, ohne dass wir den Text der Heiligen Schrift verstehen wollen. Es braucht unser Interesse für das Damals.
Natürlich gibt es in der Überlieferung Worte Jesu, die man direkt versteht. Sie sind auch nach 2000 Jahren unmittelbar zugänglich. Zum Beispiel: „Was du erwartest, dass die Menschen dir tun, das tu auch ihnen.“ (Matthäus 7,12) Das ist unmittelbar verständlich. Damit kann man direkt etwas anfangen. Doch damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wir müssen uns tatsächlich fragen, wie das damals gemeint war, und versuchen, es eingefügt in jene Kultur zu verstehen. Die kulturelle Differenz muss man zunächst anerkennen. Es braucht also immer noch die Schriftgelehrten.
Ein gutes Beispiel ist der jüdische Midrasch. Darunter versteht man die Erzählweise von einem Ereignis, die uns hilft, den Sinn dieses Ereignisses wahrzunehmen. Wir kennen alle die Erzählung von Zachäus: Jesus ist eingekehrt bei Zachäus in Jericho. Das wird zunächst als Tatsache berichtet: Zachäus hat wirklich gelebt und Jesus ist bei ihm eingekehrt. Das fand in einer bestimmten Stadt, in einem konkreten damaligen Haus statt. Je besser man die Verhältnisse kennt, desto besser kann man es sich vorstellen.
Aber so, wie das im Lukasevangelium nun erzählt wird, vermittelt es uns Hinweise darauf, was vor sich geht, wenn man Jesus, dem Auferstandenen, heute begegnet und wenn er in Beziehung zu einem von uns tritt. Diese Art zu erzählen hilft uns, dass der Text für uns überhaupt einen Anstoß bewirkt.
Ein anderes Beispiel ist die merkwürdige Art, wie Jesus Gleichnisse erzählt hat und dadurch Bilder geprägt hat. Interessant ist, dass Jesus es abgelehnt hat, irgendwelche Details der Zukunft vom Reich Gottes zu erzählen. Er ließ sich auf keine Einzelheiten ein, sondern hat nur einen Vergleich verwendet. Er musste etwas antworten und wählte nur ein treffendes Bild: das große Gastmahl (Lukas 14,15-24). Es wird sein wie bei einem Gastmahl – und da ist alles Entscheidende in diesem Wort enthalten. Das Wichtigste ist ja: Wir werden erwartet. Und es wird gerecht zugehen. Und wir werden erwartet in Liebe. Das Wort vom Propheten Jesaja gilt: Die Tränen werden abgewischt (Jesaja 25,8) und keiner kommt zu kurz. Denn nicht nur die Liebe ist stärker als der Tod, auch die Gerechtigkeit ist stärker als der Tod. Und ganz wichtig: Wir sind nicht allein. Und es wird gelacht (was für religiöse Menschen gar nicht selbstverständlich ist). Das alles hat Jesus in das Wort „Gastmahl“ hineingegeben wie in einen Kristall. Darin wirkt ein unglaublich starker Impuls: Macht euch keine Sorgen! Es wird sein wie bei einem wunderbaren, großen Fest!
Durch sein Wort bewegt Jesus etwas in unserem Herzen. Voraussetzung ist aber, dass wir uns tatsächlich für diese Dinge interessieren: für das, was eigentlich gemeint ist.
2. Die Schrift hat Erwartungen an ihre Leser
Es braucht unsererseits die Bereitschaft, unser Verständnis der Worte korrigieren zu lassen. In den heiligen Texten Israels gibt es immer zwei Elemente: die Verheißung und die Erwartung. Selbst in dem Text von David und Goliat ist dies enthalten (1. Samuel 17): Mit der Verheißung, dass Jahwe rettet, ist die Erwartung verbunden, dass man auf der Seite Jahwes steht, dass man auf der „richtigen“ Seite steht. Das ist auch beim Bericht über den Auszug aus Ägypten so. Es ist die Verheißung der Befreiung, aber dann kommt der Sinai-Bund, die Erwartung der Treue zu Jahwe, und nicht das goldene Kalb (2. Mose 14–24).
Auf diese zwei Elemente stößt man immer wieder, in verschiedenen Variationen. Das fordert unser Nachdenken heraus und stellt unter Umständen lieb gewordene Ansichten in Frage. Da müssen wir uns vor Fehldeutungen hüten. Fehldeutungen werden nur durch den Austausch der Glaubenden miteinander vermieden. Fanatismus und Dummheit kann von einer Gemeinschaft von Glaubenden nur in einem gemeinschaftlichen Prozess abgewehrt werden. Das kann man schwer begründen, es ist aber die Erfahrung der Kirchengeschichte. Ein besseres Heilmittel gibt es bislang nicht. Die Ordensgeschichte bietet genügend Beispiele dafür. Mit Bedacht hat Benedikt das Kapitel 3 in seine Regel eingefügt, in dem er den Abt verpflichtet, auf die Gemeinschaft zu hören in allen wichtigen Dingen. Wenn dieser Austausch in den Klöstern versäumt wurde, dann kam es immer zu Fanatismus und zur Fehldeutung des Evangeliums.
3. Von der Mitte ausgehen
Wie findet sich denn die richtige Deutung? Gibt es dazu auch Hinweise aus der Überlieferung? Die Deutung sollte von den Zentren der Überlieferung ausgehen, also das Gemeinsame suchen, nicht allein von der persönlichen Betroffenheit bestimmt sein. Damit kann man zu gemeinsamen Kriterien finden.
Einige Beispiele: Für die Auslegung des sogenannten Alten Testamentes können als zentral betrachtet werden der Exodus, der Dekalog (die Zehn Gebote) und Jesaja. Jesaja möchte ich deswegen ohne Einschränkung nennen, weil Jesus Jesaja so hervorgehoben hat. Jesaja war offensichtlich der Lieblingsprophet unseres Herrn.
Als Beispiele für die Jesusüberliefung seien genannt die Bergpredigt, das Vaterunser, die Passion und die Auferstehung. Das bedeutet: Eine Auslegung der Worte Jesu, die dem Vaterunser widerspricht, kann nicht richtig sein. Es gibt also in der Auslegung zentrale Texte, die uns helfen, die schwierigeren Texte, die wir nicht gleich verstehen, richtig zu deuten. Das ist bewährte Tradition.
4. Schweigen, wenn die Bibel schweigt
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Wir haben den Artikel gekürzt aus der Zeitschrift Faszination Bibel übernommen. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Faszination Bibel 2/2012. Wir danken dem SCM Bundes-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung! (Bild: SCM)
Schließlich ist auch das wichtig: Es bedarf der Bereitschaft, das Nicht-Erklärbare und das Nicht-Zugängliche einfach stehenzulassen. Das gilt für einzelne Worte und Begriffe, aber auch für Bereiche des Lebens wie zum Beispiel das Leiden und das Böse.
Wie Gottes Wort seine Kraft in uns entfaltet
Nach 1. Korinther 12 ist uns zugesagt, dass wir als Leib Christi erfahrbar sind, wenn wir die unterschiedlichen Charismen (Gnadengaben, Geistesgaben) ernst nehmen. Dazu gehört auch, die Stimme des Herrn und das Wirkens seines Geistes aufzunehmen, wie uns beides durch die Heilige Schrift vermittelt wird. In den Texten der Heiligen Schrift liegt eine Wirkung besonderer Art. Sie stehen da als Gefäße des Wirkens Gottes.
Diese Wirkung schließt sich für den Glaubenden auf, wenn er die Texte bewusst nachspricht oder sie hörend aufnimmt. Das klingt jetzt sehr theoretisch, ist aber etwas durch und durch Praktisches.
Ein gutes Beispiel ist die Rezitation des „Sche’ma“, des Bekenntnisses aus 5. Mose 6: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Es wurde dreimal am Tag gesprochen. Ein Wort, das an mich gerichtet ist, wird von mir rezitiert und bekommt dadurch ein Gewicht für mich und für meine Seele. Es ist heiliges Wort, also ein Wort, durch das Gott wirkt. Diese Wirkung für meinen inneren Menschen kann ich erhoffen. Die Sitte Israels, diese Worte bekennend nachzusprechen, hat Jesus aufgenommen. Rezitierte Worte haben einen anderen Charakter als Informationsworte. Sie sind natürlich auch Information, aber sie sind noch mehr. Sie berühren das Gemüt durch das Ohr des Herzens oder das Auge des Geistes. Das ist ähnlich der Wirkung eines Gedichtes auf das Gemüt. Aber nur ähnlich; denn bei den Texten der Heiligen Schrift ist uns das Wirken des Heiligen Geistes zugesagt. Es geht also nicht nur um ein Kommen zu sich selbst wie in jeder Art von Meditation, sondern um die Beziehung zu Gott, genauer gesagt: zum auferstandenen Herrn, der durch seinen Geist in unser Herz hinein wirkt.
Schlussfolgerungen
Das Wort der Heiligen Schrift annehmen, bedeutet also im Vollsinn: verstehen wollen, zu deuten suchen, dem Wort eine eigene Existenz geben, das Wort in sich wirken lassen.
Daraus ergeben sich einige Folgerungen:
- Wir müssen etwas wissen. Ich interessiere mich wirklich dafür, was damals gesagt worden ist, was Jesus gesagt hat, was Israel überliefert hat, was der Psalmist sagen wollte.
- Wir brauchen Maßstäbe und Kriterien der Deutung. Dazu nehme ich Anregungen auf. Ich interessiere mich dafür, wie andere die Worte der Heiligen Schrift verstehen.
- Entscheidend ist, dass wir den Umgang mit dem Wort pflegen. Ich lasse die Bibel nicht im Schrank stehen. Ich lese oder rezitiere oder höre in Gemeinschaft. Ich hole geradezu das Wort aus der Überlieferung heraus in mein Leben; ich muss es sprechen; es muss meine Sprache werden.
- Wir lassen das Wort wirken und erhoffen die Kraft des Heiligen Geistes. Ich werde davon angerührt. Vielleicht erst später. Die Mönche haben auf die Frage, wann das geschehe, bisweilen geantwortet: „Spätestens übers Jahr.“ Wir müssen schon Geduld haben mit dem Angerührt werden, aber es kann sich vollziehen, ehe man sich versieht.
Ihr Kommentar
Kommentare (1)
Lieber Bruder Polag,
das, was sie da schreiben, ist mir eine Bestätigung dessen, was ich bisher nicht so treffend ausdrücken konnte. Aber ich erlebe bei meinem Bibelstudium oft die Notwendigkeit, … mehrTexte aus der Situation der damaligen Zeit heraus zu verstehen.
Manchmal erschließen sich mir Texte über Jahre nicht, aber dann fällt es mir "wie Schuppen von den Augen" und ich beginne zu verstehen.
Es ist ein großer Gewinn, in Gottes Wort zu forschen und auch die Relevanz für das Heute zu entdecken.