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03.10.2012 / Die Bibel besser verstehen / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Pater Athanasius Polag

Betrachtendes Bibellesen

Wie können wir Gottes Wort so aufnehmen, dass es in uns wirken kann? Gedanken dazu von Pater Athanasius Polag

Dr. Athanasius Polag ist Benediktinermönch und promovierter Neutestamentler. Er geht davon aus, dass wir die biblischen Texte dann mit Gewinn lesen, wenn wir uns mit ihrem kulturellen und historischen Hintergrund beschäftigen. Zum anderen müssen wir aber auch offen sind für das Wirken des Heiligen Geistes. Denn die eigentliche Quelle der biblischen Worte liege nicht bei den einzelnen Verfassern in ihrer Zeit, sondern bei Gott. Welche praktischen Konsequenzen sich aus dieser Grundeinstellung für den Umgang mit der Bibel ergeben, beschreibt der Pater in folgenden Punkten:

1. Verstehen, wie es damals zuging

Es gibt keinen Zugang zum Schatz der Überlieferung, ohne dass wir den Text der Heiligen Schrift verstehen wollen. Es braucht unser Interesse für das Damals.

Natürlich gibt es in der Überliefe­rung Worte Jesu, die man direkt versteht. Sie sind auch nach 2000 Jahren unmit­telbar zu­gänglich. Zum Beispiel: „Was du erwar­test, dass die Menschen dir tun, das tu auch ihnen.“ (Matthäus 7,12) Das ist unmittelbar ver­ständlich. Damit kann man direkt etwas anfangen. Doch damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wir müssen uns tatsächlich fragen, wie das damals gemeint war, und versuchen, es eingefügt in jene Kultur zu verste­hen. Die kulturelle Differenz muss man zunächst anerkennen. Es braucht also im­mer noch die Schriftgelehrten.

Ein gutes Beispiel ist der jüdische Midrasch. Darunter versteht man die Erzähl­weise von einem Ereignis, die uns hilft, den Sinn dieses Ereignisses wahrzunehmen. Wir kennen alle die Erzählung von Zachäus: Jesus ist eingekehrt bei Zachäus in Jeri­cho. Das wird zunächst als Tatsache berichtet: Zachäus hat wirklich gelebt und Jesus ist bei ihm einge­kehrt. Das fand in einer bestimmten Stadt, in einem konkreten damaligen Haus statt. Je besser man die Verhältnisse kennt, desto besser kann man es sich vorstellen.

Aber so, wie das im Lukas­evangelium nun er­zählt wird, ver­mittelt es uns Hinweise darauf, was vor sich geht, wenn man Jesus, dem Auferstande­nen, heute begeg­net und wenn er in Beziehung zu ei­nem von uns tritt. Diese Art zu er­zählen hilft uns, dass der Text für uns überhaupt einen Anstoß bewirkt.

Ein anderes Beispiel ist die merk­würdige Art, wie Jesus Gleichnisse erzählt hat und dadurch Bilder ge­prägt hat. Interessant ist, dass Je­sus es abgelehnt hat, irgendwelche Details der Zukunft vom Reich Gottes zu erzählen. Er ließ sich auf keine Ein­zelheiten ein, sondern hat nur einen Vergleich verwendet. Er musste etwas antworten und wählte nur ein treffendes Bild: das große Gast­mahl (Lukas 14,15-24). Es wird sein wie bei einem Gastmahl – und da ist alles Ent­scheidende in diesem Wort ent­halten. Das Wichtigste ist ja: Wir werden erwartet. Und es wird ge­recht zugehen. Und wir werden erwartet in Liebe. Das Wort vom Propheten Jesaja gilt: Die Tränen werden abgewischt (Jesaja 25,8) und keiner kommt zu kurz. Denn nicht nur die Liebe ist stärker als der Tod, auch die Gerechtigkeit ist stärker als der Tod. Und ganz wichtig: Wir sind nicht allein. Und es wird gelacht (was für religiöse Men­schen gar nicht selbstver­ständlich ist). Das alles hat Jesus in das Wort „Gastmahl“ hineingegeben wie in einen Kristall. Darin wirkt ein unglaublich starker Im­puls: Macht euch keine Sorgen! Es wird sein wie bei einem wunderbaren, großen Fest!

Durch sein Wort bewegt Jesus etwas in unserem Herzen. Voraus­setzung ist aber, dass wir uns tat­sächlich für diese Dinge interessie­ren: für das, was eigentlich gemeint ist.

2. Die Schrift hat Erwartungen an ihre Leser

Es braucht unsererseits die Be­reitschaft, unser Verständnis der Worte korrigieren zu lassen. In den heiligen Texten Israels gibt es im­mer zwei Elemente: die Verhei­ßung und die Erwartung. Selbst in dem Text von David und Goliat ist dies enthalten (1. Samuel 17): Mit der Verheißung, dass Jahwe rettet, ist die Erwar­tung verbunden, dass man auf der Seite Jahwes steht, dass man auf der „richti­gen“ Seite steht. Das ist auch beim Bericht über den Auszug aus Ägypten so. Es ist die Verhei­ßung der Be­freiung, aber dann kommt der Si­nai-Bund, die Erwartung der Treue zu Jahwe, und nicht das goldene Kalb (2. Mose 14–24).

Auf diese zwei Elemente stößt man immer wieder, in verschiede­nen Variationen. Das fordert unser Nachdenken heraus und stellt un­ter Umständen lieb gewordene An­sichten in Frage. Da müssen wir uns vor Fehldeutungen hüten. Fehldeutungen werden nur durch den Austausch der Glaubenden miteinander vermieden. Fanatis­mus und Dummheit kann von ei­ner Gemeinschaft von Glaubenden nur in einem gemeinschaftlichen Pro­zess abgewehrt werden. Das kann man schwer begründen, es ist aber die Erfahrung der Kirchengeschichte. Ein besseres Heilmittel gibt es bis­lang nicht. Die Ordensgeschichte bietet genügend Beispiele dafür. Mit Bedacht hat Benedikt das Ka­pitel 3 in seine Regel eingefügt, in dem er den Abt verpflichtet, auf die Gemeinschaft zu hören in allen wichtigen Dingen. Wenn dieser Austausch in den Klöstern versäumt wurde, dann kam es immer zu Fa­natismus und zur Fehldeutung des Evangeliums.

3. Von der Mitte ausgehen

Wie findet sich denn die richtige Deutung? Gibt es dazu auch Hinweise aus der Überlieferung? Die Deutung sollte von den Zentren der Über­lieferung ausgehen, also das Ge­meinsame suchen, nicht allein von der persönlichen Betroffenheit bestimmt sein. Damit kann man zu gemeinsamen Kriterien finden.

Einige Beispiele: Für die Ausle­gung des sogenannten Alten Tes­tamentes können als zentral be­trachtet werden der Exodus, der Dekalog (die Zehn Gebote) und Jesaja. Jesaja möchte ich deswegen ohne Einschränkung nennen, weil Jesus Jesaja so her­vorgehoben hat. Jesaja war offen­sichtlich der Lieblingsprophet unse­res Herrn.

Als Beispiele für die Jesusüberlie­fung seien genannt die Bergpre­digt, das Vaterunser, die Passion und die Auferstehung. Das bedeu­tet: Eine Auslegung der Worte Jesu, die dem Vaterunser wider­spricht, kann nicht richtig sein. Es gibt also in der Auslegung zentrale Texte, die uns helfen, die schwieri­geren Texte, die wir nicht gleich verstehen, richtig zu deuten. Das ist bewährte Tradition.

4. Schweigen, wenn die Bibel schweigt

Betrachtendes Bibellesen ist die Wiedergabe eines Vortrages von Pater Athanasius zum Thema "Bibel und Kontemplation".
Wir haben den Artikel gekürzt aus der Zeitschrift Faszination Bibel übernommen. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Faszination Bibel 2/2012. Wir danken dem SCM Bundes-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung! (Bild: SCM)

Schließlich ist auch das wichtig: Es bedarf der Be­reitschaft, das Nicht-Er­klärbare und das Nicht-Zugängliche einfach ste­henzulassen. Das gilt für einzelne Worte und Begriffe, aber auch für Bereiche des Lebens wie zum Beispiel das Leiden und das Böse.

Wie Gottes Wort seine Kraft in uns entfaltet

Nach 1. Korinther 12 ist uns zugesagt, dass wir als Leib Christi erfahr­bar sind, wenn wir die unterschied­lichen Charismen (Gnadengaben, Geistesgaben) ernst nehmen. Dazu gehört auch, die Stimme des Herrn und das Wirkens seines Geistes aufzunehmen, wie uns beides durch die Heilige Schrift vermittelt wird. In den Texten der Heiligen Schrift liegt eine Wirkung be­sonderer Art. Sie ste­hen da als Gefäße des Wirkens Got­tes.

Diese Wirkung schließt sich für den Glaubenden auf, wenn er die Texte bewusst nachspricht oder sie hörend aufnimmt. Das klingt jetzt sehr theoretisch, ist aber etwas durch und durch Praktisches.

Ein gutes Beispiel ist die Rezitation des „Sche’ma“, des Bekenntnisses aus 5. Mose 6: „Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Es wurde dreimal am Tag gesprochen. Ein Wort, das an mich gerichtet ist, wird von mir rezitiert und bekommt dadurch ein Gewicht für mich und für meine Seele. Es ist heiliges Wort, also ein Wort, durch das Gott wirkt. Diese Wirkung für meinen inneren Men­schen kann ich erhoffen. Die Sitte Israels, diese Worte bekennend nachzusprechen, hat Jesus aufgenommen. Rezitierte Worte haben einen anderen Cha­rakter als Informationsworte. Sie sind natürlich auch Information, aber sie sind noch mehr. Sie berüh­ren das Gemüt durch das Ohr des Herzens oder das Auge des Geistes. Das ist ähnlich der Wirkung eines Gedichtes auf das Gemüt. Aber nur ähnlich; denn bei den Texten der Heiligen Schrift ist uns das Wirken des Heiligen Geistes zuge­sagt. Es geht also nicht nur um ein Kommen zu sich selbst wie in jeder Art von Meditation, sondern um die Beziehung zu Gott, genauer ge­sagt: zum auferstandenen Herrn, der durch seinen Geist in unser Herz hinein wirkt.

Schlussfolgerungen

Das Wort der Heiligen Schrift an­nehmen, bedeutet also im Vollsinn: verstehen wollen, zu deuten su­chen, dem Wort eine eigene Exis­tenz geben, das Wort in sich wir­ken lassen.

Daraus ergeben sich einige Folge­rungen:

  • Wir müssen etwas wissen. Ich interessiere mich wirklich dafür, was damals gesagt worden ist, was Jesus gesagt hat, was Israel über­liefert hat, was der Psalmist sagen wollte.
     
  • Wir brauchen Maßstäbe und Kriterien der Deutung. Dazu nehme ich Anre­gungen auf. Ich interessiere mich dafür, wie andere die Worte der Heiligen Schrift verstehen.
     
  • Entscheidend ist, dass wir den Umgang mit dem Wort pflegen. Ich lasse die Bibel nicht im Schrank stehen. Ich lese oder rezitiere oder höre in Gemeinschaft. Ich hole ge­radezu das Wort aus der Überliefe­rung her­aus in mein Leben; ich muss es sprechen; es muss meine Sprache werden.
     
  • Wir lassen das Wort wirken und erhoffen die Kraft des Heiligen Geistes. Ich werde davon ange­rührt. Vielleicht erst spä­ter. Die Mönche haben auf die Frage, wann das geschehe, bis­wei­len geantwortet: „Spätestens übers Jahr.“ Wir müssen schon Geduld haben mit dem Angerührt werden, aber es kann sich vollzie­hen, ehe man sich versieht.

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Kommentare (1)

Jürgen Bartram /

Lieber Bruder Polag,
das, was sie da schreiben, ist mir eine Bestätigung dessen, was ich bisher nicht so treffend ausdrücken konnte. Aber ich erlebe bei meinem Bibelstudium oft die Notwendigkeit, mehr

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