Wilhelm Faix und Dr. Siegfried Bäuerle haben im Mai 2012 den Aufruf Erziehung gestartet, in dem sie Christen dazu auffordern, sich mehr um Familien- und Erziehungsthemen zu kümmern. Der Grund: Der Dozent für Psychologie und Pädagogik und der Diplom-Psychologe machen sich Sorgen um die Situation der Familie in Deutschland, insbesondere auch in christlichen Gemeinden. ERF Online hat mit Wilhelm Faix über die Ursachen für den befürchteten Erziehungsnotstand, christliche Pädagogik und die aktuelle Diskussion über Kindertagesstätten gesprochen.
ERF Online: Normalerweise liegt auf einem Gebiet einiges im Argen, wenn sich jemand entschließt, mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit zu gehen. Ist die Situation der Familien - auch in christlichen Gemeinden - wirklich so unerfreulich?
Wilhelm Faix: Grundsätzlich schon. Es geht ja nicht nur um einzelne Familien, die mit der Erziehung nicht zurechtkommen. Wir haben gesamtgesellschaftlich ein Familien- und Erziehungsproblem. Die christlich geprägten Familien bilden dabei keine Ausnahme.
ERF Online: Woran machen Sie fest, dass es vermehrt Probleme gibt?
Wilhelm Faix: Ich stelle das bei vielen Gesprächen und Vorträgen fest. Die einen haben Schwierigkeiten mit einem trotzigen Kleinkind, andere mit pubertierenden Kindern. Es kommen beispielsweise Eltern zu mir, die geschockt sind, weil ihr 15jähriger Junge sich plötzlich ritzt. Auch die Entwicklungen im technischen und medialen Bereich spielen eine Rolle. Unsere Welt ist kompliziert und schwierig geworden. Da lassen sich auch Erziehungsprobleme nicht so leicht lösen.
Junge Eltern sind überfordert und fühlen sich allein gelassen
ERF Online: Sie schreiben in Ihrem Aufruf andererseits, dass Eltern heute hochmotiviert sind, ihren Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Wir kommt es dann zu dieser Kluft zwischen Wunsch und Realität?
Wilhelm Faix: Weil Erziehung gelernt werden muss. Wenn ein junger Mensch mit 17 Jahren aus dem Haus geht, mit 30 heiratet und mit 32 das erste Kind bekommt, liegen 15 Jahre zwischen der letzten engen Berührung mit einer Familie und der eigenen Familiengründung. Jetzt soll die betreffende Person in einer völlig veränderten Welt als Mutter oder Vater zurechtkommen. Die jungen Eltern sind in dieser Situation überfordert und werden damit allein gelassen. Selbst wenn Großeltern in der Nähe sind, findet oft kein kontinuierliches Miteinander statt. Die jungen Eltern haben das Gefühl, dass ihre Eltern ihnen in der völlig veränderten Welt keinen Ratschlag mehr geben können.
ERF Online: Warum ist Ihnen der Aspekt der christlichen Pädagogik so wichtig - ist Erziehung nicht gleich Erziehung?
Wilhelm Faix: Nein. Erziehung war schon immer umstritten und ist sehr stark von der jeweiligen Weltanschauung abhängig. Wir Christen haben uns in der Erziehungsfrage abgekoppelt und gehen davon aus, dass man erziehen kann. Wir müssen jedoch begreifen, dass das kein Automatismus ist. Und wir müssen neu überlegen, was eine speziell christliche Erziehung ist, im Unterschied zu humanistischer oder sozialistischer Erziehung. In der Vergangenheit war christliche Erziehung ein Thema, das im Zentrum stand. Wir haben im Aufruf August Hermann Francke und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf erwähnt, die von einer christlichen Pädagogik viel erwartet haben. Diese Tatsache wird momentan völlig ausgeblendet. Auch die Theologischen Ausbildungsstätten vernachlässigen das Thema im Lehrplan. Als Folge davon greifen die zukünftigen Hauptamtlichen Familien- und Erziehungsfragen in ihrer Gemeindearbeit nicht auf. Hier muss eine Bewusstseinsänderung stattfinden. Wir müssen begreifen, dass Kirche und Gemeinde einen Auftrag hat, Familien zu helfen.
Rutenpädagogik ist keine christliche Pädagogik
ERF Online: Nun hat christliche Erziehung derzeit einen negativen Ruf in der Presse – viele bringen damit sofort den Gedanken der körperlichen Züchtigung in Verbindung.
Wilhelm Faix: Da sprechen Sie ein brisantes Thema an, das aber mit christlicher Erziehung überhaupt nichts zu tun hat. Rutenpädagogik ist keine christliche Pädagogik. Sie ist grundsätzlich abzulehnen und als nichtchristliche Pädagogik zu bezeichnen.
ERF Online: Was wäre dann eine christliche Pädagogik?
Wilhelm Faix: Eine christliche Pädagogik setzt neutestamentlich an. Sie ist eine Pädagogik des Vertrauens. Es geht dabei um Glauben, um Gnade und um Vergebung. Das ist das Zentrum. Dann geht es um Lebensgestaltung aufgrund des Glaubens. An dritter Stelle steht schließlich die Frage, wie Erziehungsmittel eingesetzt und eine Disziplinierung aussehen kann. Wenn dabei manche schnell die Sprüche heranziehen und daraus eine körperliche Strafe ableiten, ist das katastrophal.
ERF Online: Wie würden Sie den viel zitierten Vers aus den Sprüchen verstehen?
Wilhelm Faix: Wie ich schon in der Auseinandersetzung mit der Süddeutschen Zeitung gesagt habe, ist das eine hermeneutische Frage. Hermeneutisch heißt, wie verstehe ich die Bibel. Kein Mensch kommt auf die Idee, Jesus wörtlich zu nehmen, wenn er sagt, dass wir ein Auge ausreißen sollen, das uns in Versuchung führt. Aber in Bezug auf diese Sprüche gibt es Christen, die sagen, dass man das wörtlich nehmen muss. Es geht in diesem Text um Erziehungsmaßnahmen. Für uns stellt sich die Frage, wie solch eine Erziehungsmaßnahme auf Heute angewandt aussehen kann.
ERF Online: Wie könnte eine solche Erziehungsmaßnahme heute denn aussehen?
Wilhelm Faix: Zuallererst muss das Familienleben geregelt sein. Wenn es kein stimmiges Gesamtverhalten gibt, an denen sich das Kind orientieren kann, sind Einzelmaßnahmen wirkungslos. Dann muss man fragen, wie Strafe aussehen kann, welche Strafe angebracht ist und welche nicht. Aber ich darf eine Einzelmaßnahme nicht zum Leitmotiv einer ganzen Erziehung machen.
Die Kindertagesstätte: Ein Experiment ohne Gewähr auf guten Ausgang
ERF Online: Der Gemeinde kommt in Ihrem Aufruf eine Schlüsselfunktion zu. Nun sollen Gemeinden heute gleichzeitig auch die Lebenswelt von Singles und Ehepaaren berücksichtigen, sozial tätig sein und ansprechende Gottesdienste gestalten. Ist das nicht eine Überforderung?
Wilhelm Faix: Es ist heute ein Problem vieler Gemeinden, dass zu viele Aktivitäten gemacht werden. Aber wir können nicht ständig von der Familie als dem wichtigsten Ort der Gesellschaft sprechen und ihn dann vernachlässigen und sagen: Das können wir nicht auch noch machen. Wenn eine Gemeinde Familien anziehen will, dann gehört das Thema in die Gemeinde. Ich wundere mich, dass es unter den Christen bei der momentanen Diskussion um Krippe und Betreuungsgeld keinen Aufschrei gibt. Das wird hingenommen oder man klagt über die Zustände. Aber die Gemeinden tun nichts, um Alternativen aufzuzeigen. Das kann doch nicht sein!
ERF Online: Sie erwähnen in Ihrem Aufruf, dass Kinder bis zu drei Jahren nach Möglichkeit zu Hause von den Eltern betreut werden sollten. Warum halten Sie das für so wichtig?
Wilhelm Faix: Ein Kind braucht eine Primärbeziehung, das heißt eine stabile Mutter-Kinder - oder Vater-Kind - Beziehung. Diese besteht in der emotionalen Zuwendung, im Gespräch, in körperlicher Nähe, im Vertrauen, in Geborgenheit. Diese Beziehung ist die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Wer soll das bieten, wenn nicht die Eltern? Das kann eine Betreuung selbst bei einem idealen Betreuungsschlüssel in der Kita nicht leisten. Wenn eine Erzieherin für fünf Kinder unter einem Jahr zuständig ist - wie soll sie sich im oben genannten Sinn ausreichend um diese fünf kümmern? Was heute mit der Kita läuft, ist ein gefährliches Experiment, ohne dass wissenschaftlich belegt ist, dass es gut geht.
ERF Online: Nun haben die Mütter zu biblischen Zeiten tagsüber auf dem Feld oder im handwerklichen Betrieb mitgearbeitet, während die Großmutter auf das Kind aufgepasst hat. Kann man das nicht damit vergleichen, wenn heute eine Frau arbeiten geht?
Wilhelm Faix: Sie haben natürlich Recht, wir hatten in der Bibel eine andere Gesellschaft. Dort stand das Haus – also die Großfamilie - und nicht die Kleinfamilie im Mittelpunkt. Es geht mir aber auch nicht darum zu sagen, dass die Welt in Ordnung ist, wenn die Mutter zuhause bleibt. Es bleiben viele Mütter zuhause und die Welt ist nicht in Ordnung. Es wäre auch falsch zu sagen, dass nur eine Einzelperson für die Betreuung eines Kindes zuständig sein darf. Selbstverständlich braucht ein Kind weitere Beziehungen, aber es braucht eine Primärbeziehung. Ich bin auch nicht völlig dagegen, dass es Krippen gibt. Manche Eltern oder Alleinerziehenden bleibt nichts anderes übrig, als ihr Kind in die Krippe zu geben. Aber dann bedarf es einer Hilfe, dass diese Mutter oder die Eltern damit zurechtkommen und ein Kind in richtiger Weise mit der Krippenbetreuung zu einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung heranwachsen kann.
Eine offene Atmosphäre für Erziehungsfragen
ERF Online: Wie könnte eine solche Hilfe aussehen?
Wilhelm Faix: Eigentlich haben alle Erzieherinnen in den Kitas und Kindergärten Anweisungen, wie das geht. Konkret bedeutet das, dass ein Kind zuerst nur für eine Stunde in die Kita kommt und Mutter oder Vater dabei bleiben. Dann wird es für zwei Stunden gebracht usw. Das zieht sich ein Viertaljahr hin, bis das Kind in der Lage ist, die Zweit- oder Drittperson der Erzieherin als bekannte Person zu akzeptieren und sich nicht von der Mutter verlassen zu fühlen.
ERF Online: Was können Eltern tun, die guten Willens sind, sich aber von der Erziehung ihres Kindes völlig überfordert fühlen?
Wilhelm Faix: Im Moment können sie nur in die Erziehungsberatung gehen. Genau das ist mir zu wenig. Erziehung ist ein sensibles Gebiet. Kein Vater und keine Mutter will schlecht erziehen, jeder gibt das Beste. Viele Eltern trauen sich nicht um Hilfe zu bitten, weil das ihnen das Gefühl gibt, versagt zu haben. Mein Ziel wäre es - und dafür setze ich mich seit 30 Jahren ein -, dass in den Gemeinden eine so offene Atmosphäre herrscht, dass man sich gegenseitig beisteht und Erziehungsfragen ansprechen kann. Oder dass es in der Gemeinde Fachleute oder erfahrene Eltern gibt, zu denen man mit seinen Schwierigkeiten gehen kann.
ERF Online: Vielen Dank für das Gespräch!
Wie können Christen Familie stärken? Zu dieser Frage stellen wir Ihnen morgen (12.07.2012) den Familien-Mutmach-Tag der Organistation Jugend mit einer Mission (Hainichen) vor.
Ihr Kommentar
Kommentare (3)
Ich finde das richtig,was hier steht. Ich bin der Meinung,dass wir Eltern unbedingt unsere Kinder selbst erziehen müssen und sie nicht in fremde Hände geben sollten.Aber da müsste grundlegend was … mehranders laufen,gerade bei den Alleinerziehenden,die keine andere Wahl haben. Ich selbst habe 4 Kinder.2 davon gehen für 3 Stunden in die Kita,weil sie sonst keine außerfamiliären Kinder zum Spielen haben.Auf dem Spielplatz im Dorf ist man allein,jeder macht sein Ding. Das kann es auch nicht sein. In unserer Gemeinde gab und wird es bald wieder (weil ich den bald übernehmen werde) einen Krabbelgottesdienst aller 4 Wochen,aber auch das reicht nicht. Es muss mehr passieren,aber nur Ideen haben,reicht auch nicht,wenn am Ende keiner kommt. Ich denke,da müssen wir alle umdenken um Leben,in der Gesellschaft,in der Gemeinde.
Gottes Segen.
Als Christin und Erzieherin bin ich in der Praxis oft sehr enttäuscht gewesen von evangelischen Einrichtungen. Auch im Umfeld ,christlich, hatte und habe ich oft das Gefühl das wir Christen die … mehrPädagogik nicht ergriffen haben. Oft ist es laut und schrill wie überall. Auch von christlichen Verlagen bin ich oft enttäuscht wie unesthetisch Bilderbücher oder Filme sind. Es nutzt nichts einfach keinen Fernseher zu haben und keine Alternativen zu geben. Auch Kitas und Schulen hätten so viel mehr zu bieten... Es bräuchte einen eigenen Ansatz als christliche Pädagogik !
Also ich habe meine Kinder in die Kita gebracht, und es hat vielleicht eine knappe Woche zum langsamen Eingewöhnen gedauert. Wenn ich jedem Kind ( ich habe vier) ein Vierteljahr gegeben hätte, ob es … mehrdie Erzieherinnen akzeptiert oder nicht, wäre es zum Schaden für die Kinder geworden. Natürlich ist jedes KInd anders und man muss mit jedem anders umgehen.. Aber so wie ich den Absatz gelesen habe und verstanden habe, ist es so, dass man sein Kind um Erlaubnis fragen muss, ob ich sie in die Kita geben kann oder nicht -von Krankheit oder Problemen in der Kita mal abgesehen. Und so etwas werte ich als Unsinn. Wass sollen denn die Frauen machen, die einr Arbeit nachgehen müssen. Sollen Sie dem Arbeitgeber sagen, man muss erst das Kind für die Kita vorbereiten, und das kann ein Vierteljahr dauern?Natürlich muss man den geeigneten Zeitpunkt für die Kita schon selbst herausfinden, bei dem einen geht das mit 4 Jahren, bei andem anderen Kind schon früher.