18.11.2024 / Text-Beiträge

Der Weinstock

Wo die Kraft herkommt.

Manchmal finde ich das Leben einfach. Alles läuft gut: Meine Aufgaben und meine Beziehungen erfüllen mich, ich habe Freude und genieße jeden neuen Tag. Die Natur berührt mich, ich fühle mich ausgeglichen und erlebe Gutes.

Wenn alles schwerfällt

Im Moment aber fällt mir alles schwer. Nicht, weil ich keine Lust mehr hätte oder verzweifelt wäre, so schlimm ist es nicht. Aber zurzeit empfinde ich selten Leichtigkeit, so als wäre Sand im Getriebe und als würde alles ein bisschen mehr reiben oder festhängen als sonst. Situationen, die sonst kein Problem sind, werfen mich schneller aus der Bahn. Gespräche, die grundsätzlich nicht schlimm sind, treffen mich ins Herz. Alles wirkt irgendwie lauter und härter. 

Der Schutzpanzer hat ausgedient

Das klingt ganz schön deprimierend und so fühlt es sich auch an, wenn ich jeden Tag weinen muss – manchmal wegen Kleinigkeiten und manchmal zum zehnten Mal wegen der gleichen Sache. 

Was dahinter steckt, ist Verletzlichkeit. Ich bin im Moment sehr verletzlich. Mein Schutzpanzer hat ausgedient und meine Haut ist dünn und ich versuche, damit irgendwie umzugehen. Mal gelingt mir das besser und mal schlechter. 

Jesus, der Weinstock

Zu Beginn des Jahres habe ich einen Jahresvers gezogen: Johannes 15,4. Ich möchte dich heute mit in die Geschichte nehmen, in der der Vers steht.

Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. Jede Rebe an mir, die nicht Frucht trägt, schneidet er ab; eine Rebe aber, die Frucht trägt, schneidet er zurück; so reinigt er sie, damit sie noch mehr Frucht hervorbringt. Ihr seid schon rein; ihr seid es aufgrund des Wortes, das ich euch verkündet habe. Bleibt in mir, und ich werde in euch bleiben. Eine Rebe kann nicht aus sich selbst heraus Frucht hervorbringen; sie muss am Weinstock bleiben. Genauso wenig könnt ihr Frucht hervorbringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wenn jemand in mir bleibt und ich in ihm bleibe, trägt er reiche Frucht; ohne mich könnt ihr nichts tun. (Johannes 15,1-5)

Dieses Gleichnis hat Jesus seinen Jüngern erzählt und ich glaube, dass ich gerade erleben darf, wovon Jesus hier spricht. 

Wachstum durch Beschneidung

Ich lerne gerade etwas: Nämlich, dass Gott mich an die Hand nimmt und mich wachsen lassen will.

Wenn Gliedmaßen schief gewachsen sind, werden sie mitunter gebrochen und anschließend mit Schienen in die richtigen Bahnen gebracht, damit gesundes, gutes Wachstum möglich ist. Wir stutzen Bäume und beschneiden Pflanzen, damit sie mit mehr Kraft und gesünder wachsen können. Wunden werden herausgeschnitten, damit neues Gewebe wachsen kann. 

Das ist ein göttliches Prinzip. Für gesundes Wachstum müssen wir gestutzt werden, so wie es Jesus hier selbst sagt. „Eine Rebe aber, die Frucht trägt, schneidet er zurück; so reinigt er sie, damit sie noch mehr Frucht hervorbringt.“

Ich fühle mich im Moment gebrochen. Jeden Tag stelle ich fest, dass die Dinge, die ich aus eigener Kraft versuche, nicht gelingen. Ich will das schönste Essen vorbereiten, die besten Proben haben, die tollsten Gespräche führen und die coolste Person sein, aber am Ende scheitere ich. An meinen Ansprüchen, an den Gegebenheiten. Aber meistens an mir selbst. Mein Stolz und mein Ego sehen sich so sehr danach die Person zu sein, die ich gerne wäre. Aber keine Chance. 

„Ohne mich könnt ihr nichts tun“

Ich wäre gerne die Person, die alle kennt, die super extrovertiert ist, die allen hilft, immer ein gutes Wort parat hat, keine Fehler macht und von allen gemocht wird. Und dann sehe ich mich da stehen und stelle fest, dass ich keine Chance habe, das alles zu sein. Ich schaffe es nicht und scheitere immer wieder neu. 

Ganz oft kann ich nicht damit leben, dass es Gott gut mit mir meint und mir seinen Segen schenkt. Gnade finde ich schwer nachzuvollziehen. Ich sehe Gottes Güte oft als Vorschuss, dem ich dann nachkommen will. Dann versuche ich perfekt zu sein, strenge mich noch mehr an und falle noch mehr hin, weil ich dem nicht gerecht werden kann. Am Ende reicht es nie aus. 

Blöd für‘s Ego

Bad news: So ist es eben. Good news: Ich muss das alles gar nicht schaffen. Mein Fehler ist, dass ich alles versuche, um meinem Anspruch zu genügen, aber dabei vergesse, dass ich geliebt bin. Dass ich genug bin und Jesus mich befreit hat. Was ich nicht allein schaffe, kann ich mit ihm schaffen. So wie ich ohne ihn keine (oder nur wenige und dann super anstrengende) Frucht bringen kann, kann ich mit ihm reiche Frucht bringen. 

Ich bin abhängig von Gott. Ich hänge als Rebe an seinem Weinstock und dafür bin ich unendlich dankbar. Klar, blöd für mein Ego. Aber ich merke gerade immer wieder, dass ich Gott so sehr brauche. Das tut weh. Das demütigt und sorgt dafür, dass ich verletzlich bin, weil es mir immer wieder klar macht, was ich alles nicht kann. Am Ende ist es aber ein Segen. 

Hoffnung und Vorfreude

Ich glaube, dass Gott mich gerade zurechtstutzt. Er schneidet Dinge in meinem Leben zurück. Denkmuster, Verhaltensweisen, meinen Stolz. Damit ich mehr Kraft bekomme, gesünder wachse und mehr Frucht bringen kann. Er reinigt mich – auch mal schmerzhaft, aber mit den besten Absichten. 

Wenn ich sage, dass ich Frucht bringen, Gottes Wege gehen und seinen Willen tun will, muss ich ganz nah an ihm dranbleiben. Dann ist er meine erste Kraftquelle und meine Zuflucht. Ich schaffe Dinge nicht aus meinem Können oder Wissen heraus, sondern weil Gott mir die Kraft dafür gibt. 

Die Rechnung unterschätzt

Ich habe Hoffnung, weil ich glaube, dass Gott gute Dinge vorhat – in meinem Leben und in dem der Menschen um mich herum. Daran möchte ich Anteil haben. Dafür muss und darf ich wachsen und dafür werde ich gereinigt. Damit ich Frucht tragen kann. 

Früher habe ich immer gesagt, dass ich mal weise werden will. Ich habe mir vorgestellt, wie ich als Oma in einem Ohrensessel sitze und über alle Dinge Bescheid weiß. So ein bisschen wie ein Orakel. Um dahin zu kommen, wollte ich alles wissen und alles in mich aufsaugen. Ganz oft habe ich gebetet, dass Gott mir Weisheit schenken möge. Die Rechnung habe ich aber unterschätzt. Er sagt nämlich: „Weisheit beginnt damit, dass man dem HERRN mit Ehrfurcht begegnet.“ (Psalm 111,10 Neue Genfer Übersetzung)

Vielleicht ist genau das mein Lernfeld und meine neue Wuchsrichtung. Ich freue mich, die Gewissheit zu haben, dass Gott da ist. Ich freue mich darauf, zu sehen, was Gott in und mit meinem Leben vorhat. Und ich vertraue darauf, dass er es gut meint. Auch wenn es hier und da weh tut, werde ich gesünder wachsen können.

Dieser Text von Marie Wandelt wurde zuvor auf www.keineinsamerbaum.org veröffentlicht.