15.11.2025 / Bibel heute

Der Lebensstrom aus dem Tempel

Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels. Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle des Tempels nach Osten; denn die vordere Seite des Tempels lag gegen Osten. Und das Wasser lief unten an der südlichen Seitenwand des Tempels hinab, südlich am Altar vorbei. Und er führte mich hinaus durch das Tor im Norden und brachte mich außen herum zum äußeren Tor im Osten; und siehe, das Wasser entsprang seiner südlichen Seitenwand. Und der Mann ging heraus nach Osten und hatte eine Messschnur in der Hand, und er maß tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen; da ging es mir bis an die Knöchel.[...]

Hesekiel 47,1–12

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Nach allem, was ich von Hesekiel bereits gehört und gelesen habe, sehe ich am Ende seines Prophetenbuches etwas ganz Besonderes, die sog. „Tempelvision“ – Höhepunkt im Buch Hesekiel. Der Prophet befindet sich immer noch im babylonischen Exil. Sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung hat er gewirkt und seinem Volk, dem Volk Israel, den Willen Gottes kundgetan, seine Forderungen, aber auch seinen Zuspruch und göttlichen Trost in schwerer Zeit. Die ihm von Gott geschenkte Vision hat nicht nur die Rückkehr des Volkes Israel aus der Verbannung im Fokus, sondern zeigt, dass Gott in seiner Herrlichkeit in einen neuen Tempel zurückkehren will, in dem er für immer mitten unter seinem Volk wohnen und es nie mehr verlassen wird.

Prophetische Worte haben meist verschiedene Zeitepochen, für die sie bedeutsam sind. So können die Menschen im babylonischen Exil sie anders verstanden haben, als wir heute, und auch mit unserem Verständnis ist die Prophetie nicht vollends erfüllt. Klar ist nur, dass es bei der Beschreibung des Tempels nicht um einen Bauplan für den Wiederaufbau geht, nach dem Modell des „ersten, des Salomonischen Tempels“, der im Jahr 586 durch die Babylonier zerstört worden war. Die Vision zeigt nicht einen neuen Tempel, sondern – wie es in Hesekiel 40,2 heißt: „ … etwas, das aussieht „wie der Bau einer Stadt“. Zwar wird in der Beschreibung die Vorstellung mit dem Salomonischen Tempel verbunden, aber es wird deutlich, dass es nicht um neue Mauern geht, sondern darum, dass Gott hier wohnen wird. Er ist das Zentrum, er selbst ist der neue „Tempel“, von dem Heil ausgeht. „Lebendiges Wasser“ und eine nie versiegende Quelle – das sind die Bilder für die „Heilsausschüttung“ eines gnädigen und barmherzigen Gottes über eine vergiftete und unheile Welt. Die Verbindung des Tempels mit einer Wasserquelle finden wir auch bei Joel, wenn er sagt: „Und es wird eine Quelle ausgehen vom Hause des HERRN“. (Joel 4,18)
Darüber hinaus wird ganz oft in der Bibel vom Wasser als „Quelle des Lebens“ gesprochen. Jesus, der Sohn Gottes, sagte Jahrhunderte später zu einer Frau in Samarien: „Wer von dem Wasser aus diesem Brunnen trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten.“ Und in der Offenbarung lese ich Worte, die der Vision des Hesekiel ganz ähnlich sind: „Er zeigte mir einen Strom des lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht, von dem Thron Gottes und des Lammes. Auf beiden Seiten des Stromes mitten auf der Gasse ein Baum des Lebens, der trägt zwölfmal Früchte und bringt seine Früchte alle Monate, und die Blätter des Baumes dienen zur Heilung der Völker.“

Die Tempelvision des Hesekiel ist mehr als ein Traum vom Paradies und weit mehr als die Perspektive für das niedergeschlagene Volk, das gerade keinen Ausweg sah. Sie führt uns vielmehr zum Ausgangspunkt des Lebens. Jeder, der sich nach Leben sehnt, muss hier hingehen, dahin, wo alles Leben entspringt. Hesekiel wird förmlich „mitgerissen“ mit diesem Strom des Lebens, der immer gewaltiger wird, zuerst knöcheltief, dann bis zur Hüfte. Am Ende so tief, dass der Prophet nur noch schwimmen kann. Was für ein wunderbares Bild auch für uns! Da gibt es nicht nur ganz neues Leben. Auch Altes wird wieder neu, Krankes wird heil, Totes lebendig.

Das Tote Meer hat einen Salzgehalt von über 30 %. Die Hebräer nennen es „Salzmeer“. Darin ist kein Leben möglich. Darum bezeichnen wir es meist als Totes Meer. Doch selbst dieses tote Meer soll zum Leben kommen. Von „sehr vielen Fischen“ ist die Rede, und „von aller Art, wie im großen Meer.“ „Alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben... Und alles soll gesund werden und leben, wohin dieser Strom kommt.“

Ob wir uns mitnehmen lassen von dieser gewaltigen Tempelvision? Ob wir uns hineinnehmen und einladen lassen in die Gegenwart Gottes? Ob wir uns mitreißen lassen von dem gewaltigen Gnadenstrom Gottes, der auf dem Berg Moria einst seinen Anfang nahm und später auf dem Berg Golgatha als „breiter Fluss“ zum Ausbruch kam, der immer noch fließt, bis heute? Hier müssen wir hin! Alle, die krank, kaputt, verzagt, schwach und matt und geistlich tot sind – sie alle sollen kommen!

Denn, so singe ich mit Georg Weissel:
„Hier ist der Mann, der helfen kann,
bei dem nie was verdorben.
Uns wird das Heil durch ihn zuteil,
uns macht gerecht der treue Knecht,
der für uns ist gestorben.“

Am letzten Tag des Laubhüttenfestes, so lesen wir im Johannesevangelium, trat Jesus auf, rief und sprach: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten“.

Da finde ich nun noch einen Grund, die Tempelvision des Hesekiel nicht auf irgendwelche Mauern, weder vom ersten salomonischen, noch von dem zweiten, später durch Herodes viel prunkvoller gebauten Tempel, zu beziehen. Gott selbst gibt uns durch seinen Heiligen Geist eine Vorstellung davon, dass der Tempel da ist, wo Gott wohnt. Darum sagt Paulus im 1. Korintherbrief: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr.“ (1. Korinther 3,16)

Sind wir ein Tempel Gottes? Bin ich es? Sind Sie es? Wohnt Gott in Ihnen? Wenn nicht: Suchen Sie seine Gegenwart! Vertrauen wir doch darauf, dass von diesem „Heiligtum“ Heil ausgeht, dass auch in Ihrem und in meinem Leben all das wieder gut werden kann, was nicht gut ist. „Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte“, sagt der Psalmbeter (Psalm 130,4). Und: „Bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht“ (Psalm 36,10).

Es geht um den „Gnadenstrom“, um das „lebendige Wasser“, das nur aus Gott kommt und an dem wir in Jesus teilhaben. Erst ganz zum Schluss, im letzten Satz des Prophetenbuches, wird der Name der Stadt genannt. Sie heißt nicht mehr Jerusalem, sondern: „Hier ist der HERR.“

Autor/-in: Pastor Markus Holmer