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© Conlan Lee / unsplash.com

01.01.2021 / Andacht / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Katrin Faludi

Wie ein Grashüpfer in der Hand

Wahrheiten loslassen, um Wahrheit zu finden. Eine Andacht.

Lange Zeit glaubte ein großer Teil der Menschheit, wir säßen im Zentrum des Universums. Geschmeichelt von der Vorstellung, Gottes Ebenbild zu sein, stellte sich der Mensch in den Mittelpunkt der Schöpfung und betrachtete das jahrhundertelang als Wahrheit. Bis Kopernikus, Galilei, Kepler und wie sie nicht alle hießen das Gegenteil behaupteten. Da half auch alles sture Beharren der katholischen Kirche mit ihrer Inquisition nicht weiter.

Nach der erdrückenden Beweislage musste auch sie zugeben, dass das geozentrische Weltbild nicht länger haltbar war. Das, was lange Zeit als Wahrheit gegolten hatte, war mit einem Satz dahin wie der Grashüpfer von der Handfläche. Man kann sich noch sehr wünschen, dass er possierlich dort sitzen bleibt – irgendwann springt er doch.

Ähnlich ist es einem aufstrebenden jüdischen Aktivisten namens Saulus gegangen. Er lebte streng nach der Lehre der Pharisäer. Ihre Weltsicht hielt er für unumstößlich wahr. Er war so davon überzeugt, im Recht zu sein, dass er Abweichler im Sinne seiner Wahrheit bestrafen wollte.

Sein Zorn traf die ersten Christen, die Jesus als den verheißenen Erlöser und Gottes Sohn anbeteten, was die Pharisäer für undenkbar hielten. In der Apostelgeschichte 9,1 steht dazu folgendes: „Währenddessen wütete Saulus gegen die Anhänger des Herrn und setzte alles daran, sie zu vernichten“.

Woher kam diese Wut? Warum „schnaubte“ Saulus immer noch „Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn“, wie es eine andere Übersetzung beschreibt? Offenbar fühlte Saulus die Wahrheit, an die er glaubte, in ihrer Existenz bedroht. Ähnlich wie 1.500 Jahre später die Inquisition, die Galilei für das Rütteln an der vermeintlichen kosmischen Wahrheit bestrafte.

Saulus Wahrheit lautete: Der versprochene Erlöser ist noch nicht gekommen. Wer etwas anderes behauptet, muss bekämpft werden.

Wahrheit ist nicht mein Besitz

Mitten im blindesten Verfolgungseifer wurde Saulus von einer neuen Wahrheit ergriffen. Jesus, auf dessen Anhänger er Jagd machte, ergriff Besitz von Saulus. Er wirkte in einer Art und Weise auf diesen Mann ein, dass der nicht anders konnte, als Jesus als Herrn anzuerkennen.

Saulus hat die Wahrheit nicht etwa aktiv erlangt, sondern sie stellte sich ihm in den Weg, blendete ihn und verunsicherte ihn derart in seinen Grundfesten, dass er blind und hilflos dort liegen blieb, wo er eben noch voll entschlossener Wut vorangeprescht war. 

Saulus Geschichte illustriert das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“. Denn es ist nichts anderes als hochmütig, sich im Besitz einer Wahrheit zu wähnen. Wer Wahrheit besitzen will, verteidigt sie mit allen Mitteln gegen jene, die etwas anderes behaupten. Saulus schnaubte, drohte und tötete. Er wollte Recht behalten.

Damit kam er in seiner persönlichen Entwicklung zum Halt. Er wurde starr und unflexibel, besessen und kleinlich. Das kennen wir auch heute noch von Menschen, die „die Wahrheit gepachtet haben“. Sie entwickeln sich nicht weiter, sehen sich bedroht und können sehr unangenehm werden.

Wahrheit ist Gottes Hand

Die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus veränderte den Menschen Saulus von Grund auf. Er widmete sein Leben dieser neuen Wahrheit, die ihn ergriffen hatte:

„Alle, die ihn hörten, wunderten sich. ‚Ist das nicht derselbe Mann, der die Anhänger von Jesus in Jerusalem so hart verfolgt hat?‘, fragten sie. ‚War er denn nicht gekommen, um sie auch hier in Fesseln zu legen und vor die obersten Priester zu führen?‘ Doch Saulus predigte immer überzeugender“ (Apostelgeschichte 9,21-22a).

Seine Lebenswende machte Saulus auch daran deutlich, dass er sich nun Paulus nannte – „der Kleine.“ Er hörte auf, Wahrheit besitzen und verteidigen zu wollen. Er erlebte Wahrheit als etwas völlig Neues. Sie war keine menschliche Philosophie, kein Konzept, keine Lehre, der es unbedingt zu folgen galt. Die Wahrheit war nicht einmal Gottes Wille, mit dem Saulus sie stets verwechselt hatte. Die Wahrheit ist nicht Gottes Wille, sie ist Gott selbst.

In der Gestalt von Jesus hat Gott sich – die Wahrheit – für Saulus erstmals sichtbar gemacht. Nicht begreifbar, nicht erfassbar, nicht voll verständlich. Denn so wenig wie Gott Teil dieser Welt ist, kann es diese Wahrheit sein, die er selbst ist.

Die Wahrheit, die Gott ist, kann niemand besitzen. Man kann sie suchen, sich ihr nähern, ihr folgen, sich von ihr verändern lassen. Und manchmal ergreift sie einen Menschen.

Wer nach dieser Wahrheit sucht, ihr folgt oder sogar von ihr ergriffen worden ist, handelt in ihrem Sinne. Er hat Hände und Geist frei, denn er muss sich nicht an der Wahrheit festklammern. Er kann sich voll Vertrauen von ihr tragen lassen, weil sie Gottes Hand ist. Er muss nicht be- und verharren, sondern ist frei, Neues zu entdecken, sich zu entwickeln und seine Perspektive ständig zu erweitern.

Er verlässt seinen Standpunkt und macht sich auf den Weg. Er lässt das Kleinliche hinter sich, weil er über unermessliche Größe staunen lernt. Und er wächst über sein kleines Selbst hinaus, denn er ist in der Wahrheit nicht allein, sondern ist in ihr und durch sie mit der Schöpfung Gottes verbunden.

Wer diese Wahrheit kennengelernt hat, wendet sich nicht mehr in blindem Eifer gegen andere Menschen, wie Saulus es getan hat. Er handelt wie Paulus, indem er der Wahrheit dient und in ihrem Sinne Menschen prägt. Er tut, wozu Jesus in der neuen Jahreslosung auffordert: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6, 36). Wahre Worte.

 Katrin Faludi

Katrin Faludi

  |  Redakteurin

In Offenbach geboren, mit Berliner Schnauze aufgewachsen. Hat Medienwissenschaft und Amerikanistik studiert, ist danach beim Radio hängengeblieben. Außerdem schreibt sie Bücher, liebt alles, was mit Sprache(n) und dem Norden zu tun hat und entspannt gerne beim Landkartengucken. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wohnt sie in Bad Vilbel.

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Kommentare (1)

Walter H. /

Vielen Dank für Ihren wertvollen Beitrag

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