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© Banter Snaps / unsplash.com

07.05.2019 / Porträt / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Christine Keller

Engel im Rotlichtmilieu

Dorothée Widmer wurde lange missbraucht. Heute ist sie unterwegs als Streetworkerin und Aktivistin gegen Menschenhandel.

 

„Warum gehst du nicht zu einer Prostituierten?“, schreit sie ihren Peiniger an. Er greift zu seinem Revolver. Sie rennt weg, er hinterher. Sie läuft bis ins nächste Dorf, versteckt sich in einem Garten. „Dorothée, ich finde dich. Dorothée, ich finde dich!“, hört sie ihn noch. Dann wird es ruhig. Ob sie weiterlaufen, endgültig abhauen soll? Sie weiß nicht wohin. Darum geht sie zurück. Zurück dahin, wo der Missbrauch weitergehen kann – und auch wird.

Doch was Dorothée Widmer zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen kann: Sie wird die schmerzhaften Jahre hinter sich lassen. Sie wird vergeben können – und sie wird im Rotlichtmilieu über die echte Liebe sprechen, die ihr das ermöglicht hat.

„Du darfst niemandem etwas sagen!“

Dorothée Widmer wächst in einer streng religiösen Familie auf. Der christliche Glaube spielt in der Familie eine große Rolle – doch leider war er geprägt von strengen Gesetzen und Regeln. Und halten sich die Kinder nicht an die Regeln, werden sie bestraft. Häufig in Form von körperlicher und seelischer Gewalt. Sie erwartet Schläge, wenn sie es nicht geschafft hat, während der Gemeindeveranstaltungen zwei Stunden lang ruhig auf ihrem Stuhl zu sitzen. Ruhig zu sitzen kennt sie ja schließlich aus dem Familienleben. 

Dann beginnt der erste Missbrauch. Dorothée teilt sich das Zimmer mit ihrem älteren Bruder. Er schleicht sich zu ihr, fasst sie überall an. „Du darfst niemandem etwas sagen!“, bläut er ihr ein. „Sonst verprügeln sie erst mich und dann dich!“ Dorothée schweigt und lernt mit Lügen zu leben.

Manchmal bricht der Schmerz aus ihr heraus

Sie zählt die Jahre, bis sie endlich ausziehen kann. Mit 16 ist es soweit: Sie beginnt ein Praktikum, danach eine Ausbildung. In der Nähe der Ausbildungsstätte wohnt ein befreundeter Pastor mit seiner Familie. Die Familie hat ein offenes Haus für Jugendliche, jeder ist willkommen und wird aufgenommen. So auch Dorothée. Sie fühlt sich angenommen, genießt die Aufmerksamkeit. In dem Pastor sieht sie eine Art Vaterersatz. Doch dann verändert sich etwas, Grenzen werden überschritten. „Es war ein schleichender Übergang“, sagt Dorothée. Erst küsst er sie auf den Mund. Dann bemerkt sie, dass er sie im Badezimmer beobachtet. Bald steht er nackt vor ihr. 

„Wenn du irgendjemandem etwas erzählst, zerstörst du alles: Meine Familie, meinen Dienst, meine Arbeit“, sagt ihr der Pastor. Sie hält den Mund. Ist es vermutlich gewohnt, zu schweigen, weil ihre Identität gebrochen wurde. Doch gibt es Momente, in denen der Schmerz herausbricht. Zum Beispiel, als sie im Gottesdienst sitzt und ihn predigen hört. Alles kommt ihr vor wie eine große Show und sie rennt schreiend aus dem Saal. 

Der Schmerz treibt Dorothée bis zu einem Suizidversuch

Der Missbrauch geht über mehrere Jahre und Dorothée bleibt nicht das einzige Opfer. Doch der seelische Schmerz bleibt und treibt sie bis zu einem Suizidversuch. Sie schluckt einen Cocktail aus Schmerz- und Schlaftabletten, will nur noch sterben. Plötzlich steigt die Angst vor dem Tod in ihr auf und sie ruft mit letzter Kraft ihre Mutter an. Diese ahnt nichts von den Missbräuchen und gibt ausgerechnet dem Pastor Bescheid – Dorothées Peiniger; dessen Taten sie überhaupt zu diesem Schritt getrieben haben. Er kommt, hat nur verurteilende Worte für sie übrig und gibt Dorothée Salzwasser zu trinken. Sie erbricht sich mehrere Tage lang. Weder er noch Dorothées Mutter rufen einen Arzt. Darum erhält sie keine professionelle Hilfe, die sie doch so dringend nötig gehabt hätte.

Doch in ihrem dunkelsten Moment schreit sie zu Gott: „Wenn es dich wirklich gibt, dann bitte komme jetzt in mein Leben!“ Später hat sie eine Vision, die ganz klar ist: Sie sitzt wie ein Kind bei Gott, dem Vater, in seinen Armen und er sagt zu ihr: „Dorothée, du bist bestimmt zum Leben und nicht zum Sterben. Dorothée, ich liebe dich. Ich liebe dich bedingungslos!“ Und in Dorothée erwacht die Hoffnung, dass es noch ein anderes Leben für sie gibt.

Dorothée, du bist bestimmt zum Leben und nicht zum Sterben. Dorothée, ich liebe dich. Ich liebe dich bedingungslos!

„Ich will nicht in das alte Leben zurück“

Und das lässt auch gar nicht so lange auf sich warten: An einem Sonntag hat sie den Eindruck, dass sie zum Gottesdienst gehen soll – obwohl sie schon länger nicht da war und auch nicht hingehen möchte. Sie tut es trotzdem. Ein Gast aus Amerika hält eine bewegende Predigt und betet anschließend für Dorothée. Obwohl sie kein Wort versteht – er betet auf Englisch – passiert etwas in ihr: Der ganze Schmerz, all die Verletzungen, die Wut, der Hass, alles kommt hoch. Es ist wie ein Kloß in ihrem Hals. Mit einem Schrei fällt sie zu Boden. Nach etwa 30 Minuten beginnt sie zu lachen, was jahrelang nicht mehr möglich war. „Das schwere Joch, das auf mir lag, wurde gebrochen“, beschreibt Dorothée. Sie wird freie und verändert sich positiv. Sie wird ein Mensch, der lacht, ein Mensch, der anderen freundlich begegnen kann.

Doch zwischendurch kommen die Schmerzen der Vergangenheit wieder hoch – und Dorothée spürt, welchen Kontrast sie zu dem Frieden bilden, den sie bei Gott gefunden hat. „Ich will nicht in das alte Leben zurück“, sagt sie sich. Dorothée spürt tief in ihrem Herzen, dass sie die Vergangenheit und die Schmerzen los lassen muss. Darum entscheidet sie sich zu vergeben. Es ist ein Kampf – sie spricht die Vergebung immer wieder aus, manchmal unter Tränen. Auch ihr Bruder, der sie früher missbrauchte, kommt und entschuldigt sich unter Tränen bei ihr. Kurze Zeit später stirbt er. Dieser Prozess der Heilung dauert mehrere Jahre, doch schließlich fühlt sich Dorothée frei.

Als Engel im Rotlichtmilieu unterwegs

27 Jahre nach ihrem Suizidversuch: Dorothée ist mit ihrem Mann Peter in Zürich unterwegs. Sie suchen Bordelle und Clubs auf, um mit den Menschen dortins Gespräch zu kommen. Sie bringen Hoffnung in die Dunkelheit des Rotlichtmilieus und begleiten Prostituierte, Freier und Zuhälter bei Veränderungsprozessen. Wenn der Gesprächspartner dies wünscht, erzählen sie ihre eigenen Geschichten. Dorothée erzählt, wie Gott ihr neues Leben geschenkt hat. Jeder Mensch ist wertvoll, wie ein Goldstück“ Weil Dorothée einen neuen Wert und einen anderen Lebenssinn erhalten hat. Sie macht mit ihrer eigenen Geschichte Mut und bringt Hoffnung an die dunkelsten Orte.

Dorothée Widmer zu Gast bei ERF Mensch Gott

 

 Christine Keller

Christine Keller

  |  Redakteurin

Hat in der Redaktion von ERF Jess gearbeitet. Ist ansonsten als freie Journalistin auch online und hinter der Kamera unterwegs. Sie hat Hummeln im Hintern, was aber nicht weh tut. Sie liebt es, To-Do-Listen zu schreiben und abzuhaken. Wenn‘s doch mal entspannt sein soll, nimmt sie gern ein gutes Buch zur Hand.

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