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© Gerth Medien

05.02.2016 / Porträt / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Theresa Folger

Ein Leben des Wartens

In "All die Jahre" erzählt Cathy LaGrow die bewegende Biografie ihrer Großmutter.

Wie müsste Ihr Leben aussehen, damit Sie am Ende sagen können: Es war glücklich und erfüllt? Einen Moment nachdenken – haben Sie’s? Jetzt addieren Sie zu dieser Lebensvorstellung schwere Arbeit als Kind, eine Vergewaltigung im Jugendalter und einen psychisch gestörten Ehemann. Nicht zu vergessen, dass Sie Ihre erstgeborene Tochter weggeben müssen und Ihr Leben lang um sie trauern. Welche Bilanz ziehen Sie dann für Ihr Leben?

Die inzwischen verstorbene Minka Disbrow aus Kalifornien würde sagen: eine gute - trotz allem. Und das ist für mich absolut faszinierend. Denn wie kann ein Leben mit so vielen Tragödien ein gutes Leben gewesen sein? Aber fangen wir vorne an, denn dies ist eine wahre Geschichte – aufgeschrieben in dem Buch „All die Jahre“ von Minkas Enkelin Cathy LaGrow. Und diese Geschichte endet mit einem großen Wunder.

Eine schwierige Kindheit

Minka wird 1912 in den USA geboren. Ihr leiblicher Vater ertrinkt, als sie noch ein Kleinkind ist. Die Mutter verdingt sich jahrelang als Haushälterin bei einem älteren Herrn, später heiratet sie neu. Minka und ihre Geschwister müssen von klein auf hart arbeiten. Dadurch verkrüppeln Minkas Hände. Sie schämt sich für ihr Aussehen und ihre mangelhafte Schulbildung und hat kaum Kontakt zu Gleichaltrigen.

Als Minka mit 16 Jahren zum ersten Mal auf einen Ausflug der Nähschule mitdarf, wird sie bei einem Spaziergang vergewaltigt. Das Mädchen ist nicht aufgeklärt und weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie weiß nur, dass der Unbekannte ihr schlimme Schmerzen zufügt. Sie schämt sich furchtbar. Keiner darf je von diesem Vorfall erfahren, beschließt sie.

Betty Jane: Ungewollt und doch geliebt

Doch lange währt dieser Vorsatz nicht, denn Minka ist schwanger. Ihre überforderte Mutter muss Minka nun erklären, dass nicht der Storch die Kinder bringt, wie sie Minka immer glauben ließ. Auch sagt sie, dass Minka das Kind nicht behalten kann. Dann schickt die Mutter ihre Tochter für einige Monate weit weg, damit niemand im Dorf von Minkas Schwangerschaft erfährt. „Wenn du wieder zurückkommst,“ sagt sie, „kannst du mit deinem Leben so weitermachen wie bisher.“ 

Minka möchte gerne daran glauben, doch je größer ihr Bauch wird, desto mehr Zuneigung entwickelt sie zu dem Ungeborenen. Als die inzwischen 17-Jährige ihre kleine Tochter schließlich in den Armen hält, spürt sie eine nie gekannte, grenzenlose Liebe für dieses hilflose Wesen. Für ihre Tochter Betty Jane. Von da an ist Minkas Leben zweigeteilt: Es gibt ein Leben vor Betty Jane und ein Leben danach.

Familiengründung 2.0

Und das Leben danach ist lang, denn schon nach fünf Wochen gibt Minka ihre Tochter schweren Herzens zur Adoption frei. Aus Liebe, denn als junge, ledige Mutter kann sie der Kleinen keine Zukunft bieten. Minka denkt später nicht mehr oft an das Verbrechen, das zur Zeugung ihrer Tochter geführt hat. Aber an Betty Jane denkt sie jeden einzelnen Tag. Der Schmerz über die Trennung begleitet sie von nun an ihr ganzes Leben.

Trotzdem geht ihr Leben weiter. Es besteht vor allem aus Arbeit. Mit Mitte Dreißig gründet Minka eine eigene Familie. Aber das Glück währt nur kurz, denn Minkas Ehemann Roy ist vom Krieg stark traumatisiert. Er wird psychisch krank, alkoholabhängig und gewalttätig. Minka muss ihren Mann verlassen, um sich und die Kinder zu schützen. Das bedeutet wieder einen Verlust. Denn auch ihren Mann hört Minka nicht auf zu lieben. Kurz bevor er stirbt, besucht sie ihn noch einmal im Krankenhaus. Wenig später verliert Minka auch ihren erwachsenen Sohn nach einem geplatzten Aneurysma. Noch ein Verlust.

Die Seelenqualen ins Gebet gelegt

Wie schafft es ein Mensch, der so viele Tragödien im Leben erfahren hat, nicht bitter zu werden? Wie schaffte Minka Disbrow es, nicht zu verzweifeln? Der Grund dafür wird im Lauf des Buches immer deutlicher: Minka schöpft eine unglaubliche Kraft aus ihrem Glauben. Ihre Trauer und den Schmerz über die verlorene Tochter fasst sie in Gebete. Täglich bittet sie Gott, dass er auf Betty Jane aufpasst. Diese tiefe Mutterliebe einer Frau zu ihrem ungewollten Kind ist sehr bewegend. 20 Jahre lang schreibt Minka Briefe an das Mütterzentrum, in dem sie entbunden hat. Sie erkundigt sich nach dem Ergehen ihrer Tochter und schickt eine Spende für das Weihnachtsessen. Doch sie erfährt so gut wie nichts über Betty Jane. Auch als sie aufhört zu schreiben, bleibt die unbekannte Tochter ein Teil von Minkas Leben.

Am 77. Geburtstag ihrer Tochter betet Minka spontan: „Gott, ich würde Betty Jane so gerne noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Bitte, Herr!“ Da ist sie 94 Jahre alt. Kurz darauf geschieht das Wunder, auf das Minka drei Generationen lang gewartet hat: Ihre Tochter meldet sich bei ihr und möchte sie kennenlernen. Einige Wochen später kann sie Betty Jane, die seit ihrer Adoption Ruth heißt, in die Arme schließen. Die beiden verbringen noch acht intensive Jahre miteinander, bis Minka mit 102 Jahren stirbt.

Gott hat’s genommen, Gott hat’s gegeben

Ihr ganzes Leben lang hat Minka erlebt, dass ihr Dinge genommen werden. Aber, so heißt es am Ende ihrer Biografie: „So unwahrscheinlich das auch scheinen mag, in all dem wurde ihr das feste Vertrauen in einen Gott gegeben, der liebevoll und gütig ist und seine Kinder nie im Stich lässt. […] Und dann kam die Zeit, in der Gott ihr geben konnte. Er gab ihr Kraft zum Arbeiten, die bis ins hohe Alter nicht abnahm. Er gab ihr die Gnade, ihrem Vergewaltiger zu vergeben und in der Tiefe ihrer Seele heil zu werden. Er stillte die Sehnsucht nach ihrem Kind und schenkte ihr eine Zeit der Freude und des Zusammenseins mit Kindern und Kindeskindern.“

Das Buch „All die Jahre“ lohnt sich in mehrfacher Hinsicht zu lesen: Zum einen ist es eine bewegende Geschichte, die Mut macht, in allen Umständen an Gott festzuhalten. Zum anderen das Buch hervorragend geschrieben. Cathy LaGrow hat ihre Großmutter wochenlang intensiv befragt und versucht, sich in ihre Gedankengänge und Gefühle hineinzudenken. Das ist für mich sehr gut gelungen: Als Leser leide ich mit der schüchternen Jugendlichen mit, die neben ihrer extrovertierten Schwester untergeht. Ich spüre die unendliche Mutterliebe der 17-jähirgen Minka, als sie ihre kleine Tochter in den Armen hält, und weine mit ihr, als sie die Tochter abgeben muss. Das ganze Buch hindurch habe ich den Eindruck, Minkas unsichtbarer Begleiter zu sein, der alle Stationen ihres Lebens mit ihr teilt. Auch wenn Cathy LaGrow den Wortlaut der einzelnen Dialoge erfunden hat, ist das Buch eine authentische Biografie: Minka Disbrow war jedenfalls mit dem Skript ihrer Enkelin sehr zufrieden. Welch größeres Lob könnte es geben.

 Theresa Folger

Theresa Folger

  |  Redakteurin

Diplomkulturwirtin und Redakteurin, beschäftigt sich vor allem mit den Themenfeldern „mentale Gesundheit“ und „Persönlichkeitsentwicklung“. Mit ihren zwei aufgeweckten Mädels entdeckt sie dabei regelmäßig neue spannende Aspekte.

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