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21.04.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Hannes Rudolph

Wenn es Kindern zu viel wird

Jugendpsychiater Dr. Michael Schulte-Markwort über Burnout bei Kindern.

Nach einer Studie aus dem Jahr 2010 leidet etwa jeder vierte Deutsche unter dem Burnout-Syndrom, einem anhaltenden Zustand geistiger und emotionaler Erschöpfung. Jugendpsychiater Dr. Michael Schulte-Markwort warnt: Nicht nur Erwachsene sind von diesem Syndrom betroffen, auch Kinder leiden mitunter an dieser Erschöpfung. Im März 2015 ist sein Buch "Burnout-Kids: Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert" erschienen, das zu einem gesellschaftlichen Umdenken anregen möchte. Wir haben mit Dr. Michael Schulte-Markwort gesprochen. 
 

Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Michael Schulte-Markwort
© Nina Grützmacher

ERF Online: Beim Stichwort ‚Burnout‘ denken viele zuerst an überarbeitete Erwachsene. Sie beobachten Burnout-Symptome aber immer häufiger auch bei Kindern. Sollte sich das nicht eigentlich ausschließen?

Dr. Schulte-Markwort: Ich habe bis vor 5 Jahren auch gedacht, dass sich Burnout bei Kindern ausschließt. Allerdings habe ich mich seitdem mit Erschöpfungszuständen von Kindern beschäftigt. Die Kinder selbst haben mir gezeigt, dass eine Burnout-Erkrankung tatsächlich auch schon im Kindesalter möglich ist.

Eltern muten Kindern zu viel zu

ERF Online: Burnout verwenden Sie synonym mit Erschöpfungszuständen statt Burnout. Weshalb sind unsere Kinder heutzutage so erschöpft?

Dr. Schulte-Markwort: Der Stundenplan von Kindern ist heutzutage so gefüllt, dass er sich manchmal nicht vom Terminkalender eines Managers oder dem ihrer eigenen Väter unterscheidet. Die Kinder stellen sich teilweise selbst so hohe Leistungsanforderungen, dass sie von vornherein das Gefühl haben, ihnen gar nicht gerecht werden zu können.
 

ERF Online: Woher kommt dieses hohe Anspruchsdenken?

Dr. Schulte-Markwort: Offensichtlich saugen unsere Kinder die „durchdringende Ökonomisierung des Lebens“, wie ich es nenne, schon mit der Muttermilch auf. Man muss sich heute weniger Gedanken darüber machen, ob sie genug lernen, sondern sie eher dahingehend bremsen, dass sie nicht zu viel machen.
 

ERF Online: Das tun Eltern in der Regel nicht. Sie tun eher das Gegenteil. Auch wenn sie es gut meinen, entwickeln die Kinder als Reaktion einen Burnout. Was machen diese Eltern falsch?

Dr. Schulte-Markwort: Ich werde oft gefragt, ob das nicht auch mit den Helikopter-Eltern zusammenhängt. Meiner klinischen Erfahrung nach ist das nicht der Fall. Die meisten Eltern sind besorgt und kommen oft genauso wenig aus der Mühle raus wie ihre Kinder.

Gemeinsame Aktivitäten in der Familie sind wichtig

ERF Online: Das heißt, sie merken selbst gar nicht, dass ihre Kinder überfordert sind?

Dr. Schulte-Markwort: Manchmal merken Eltern zu spät, dass sie ihren Kindern zu viel zumuten. Eigentlich wollen sie nur das Beste für ihre Kinder. Aber häufig bemühen sich Eltern auch darum, die Anforderungen an ihre Kinder zu minimieren. Allerdings wissen sie oft gar nicht, welche Aktivitäten sie aus dem Kalender der Kinder streichen sollen, weil ihnen alle Aktivitäten als sinnvoll und notwendig erscheinen.
 

ERF Online: Wie kann man als Elternteil erkennen, dass das eigene Kind Burnout-gefährdet ist?

Dr. Schulte-Markwort: Ich appelliere immer an das Expertentum der Eltern, denn sie sind die Experten für ihre Kinder. Wenn Zustände wie Erschöpfung, Traurigkeit, Verzweiflung oder andere Symptome länger als vier Wochen durchgängig anhalten, sollten Eltern mit ihrem Kind zum Kinder- und Jugendpsychiater zu gehen.
 

ERF Online: Sie haben geschrieben, dass die Werteorientierung einer Familie entscheidend für das Stresslevel eines Kindes ist. Was meinen Sie damit?

Dr. Schulte-Markwort: Nach meiner klinischen Beobachtung wachsen Kinder heute damit auf, dass es häufig um materielle Werte und um die Frage geht, welchen Gegenwert sie für einen Wert bekommen. Sie lernen früh, dass das, was die Eltern repräsentieren, nicht ausreicht, sondern dass man mehr machen oder besser werden muss. Es gibt Familien, die das Leistungsprinzip selbst aktiv leben und es entsprechend an ihre Kinder weitergeben. Auch wenn die Eltern versuchen, anders zu leben, richten sich die Kinder danach.
 

ERF Online: Wie kann man einem Kinder deutlich machen, dass es nicht allein auf Leistung ankommt, damit es geliebt ist?

Dr. Schulte-Markwort: Man muss den Kindern vorleben, welche Werte, abgesehen von materiellen Werten, in der Familie von Bedeutung sind. Wo sind Inseln der Gemeinsamkeit? Wo trifft sich die Familie noch miteinander, ohne dass die Smartphones brummen und ohne die Frage nach Leistung? Hilfreich ist da gemeinsames Essen, Spielen oder auf andere Art gemeinsam Zeit zu verbringen.

Gesellschaftlicher Umgang mit Kindern neu diskutieren

ERF Online: Für Sie spielt auch die Schule eine entscheidende Rolle, weil die Kinder dort einem sehr hohen Leistungsdruck ausgesetzt sind. Wieweit kann ich das als Elternteil beeinflussen und Druck rausnehmen?

Dr. Schulte-Markwort: Ich appelliere immer sehr an Eltern, den Dialog mit den Lehrern zu suchen und Dinge zu hinterfragen, Zum Beispiel, ob Hausaufgaben tatsächlich in dieser Form und in diesem Umfang notwendig sind, welchen pädagogischen Wert die Inhalte haben und mit welchen pädagogischen Strategien man Kindern das Wissen am besten vermittelt.
 

ERF Online: Welche Freizeitaktivitäten können einen Gegenpol zum alltäglichen Leistungsdenken bilden?

Dr. Schulte-Markwort: Freizeitaktivitäten sind immer dann ein Gegenpol, wenn sie mit Eustress - also gutem Stress - einhergehen. Eltern sollten sehr genau darauf achten, wann dieser Eustress in Distress - also stressigen Stress - umschlägt, denn dieser Stress ist kontraproduktiv. Aber es gibt natürlich immer Freizeitaktivitäten, die die Kinder gerne machen, in denen sie sich wertgeschätzt fühlen und die eine Gegenwelt zum stressigen Schulalltag sind.
 

ERF Online: Wie müsste sich die Gesellschaft ändern, damit die Burnout-Fälle bei Kindern zurückgehen?

Dr. Schulte-Markwort: Wir brauchen dringend eine Diskussion darüber, welche Lehrer und welche Pädagogik unsere Kinder eigentlich haben wollen. Ganz am Ende steht die Frage, welche Kinder wir in unserer Gesellschaft produzieren wollen. Ich habe den Eindruck, dass wir uns darüber viel zu wenig Gedanken machen, sondern die Kinder den Prozessen einfach nur ausliefern.
 

ERF Online: Haben Sie das Buch geschrieben, um zu dieser Diskussion beizutragen?

Dr. Schulte-Markwort: Meine vorrangige Motivation war, dass ich mich schützend vor jugendliche Patienten stellen wollte, weil ich so erschrocken darüber war, wie erschöpft sie eigentlich sind.
 

ERF Online: Vielen Dank für das Gespräch.

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