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23.09.2015 / Kommentar / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Christine Keller

Mehr Gerechtigkeit, bitte!

Warum gerechte Bildung dazu beitragen kann, Berufung zu leben. Ein Kommentar.

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"Du bleibst was du bist" ist im April 2015 in der Droemer Knaur Verlagsgruppe erschienen. Hier kommen Sie zum Buch. Bild: © Droemer Knaur.

Dieses Thema sollte in Deutschland schon längst abgeschlossen sein. „Bildungsgerechtigkeit“ klingt nach einem Problem in Ländern, in denen nicht alle Kinder zur Schule gehen dürfen – entweder weil sie arbeiten müssen oder Mädchen sind. Marco Maurer hat sich in seinem Buch „Du bleibst was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet“ mit dem Thema im Jahr 2015 auseinandersetzt. Und das hat gute Gründe: Die soziale Herkunft entscheidet bei Arbeiter- und Akademikerkindern in Deutschland noch zu stark über Bildungsabschluss und Beruf. Maurer geht es um Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung; für mich spielt Gott in diesem Zusammenhang aber eine ebenso zentrale Rolle.

Wer darf das Gymnasium besuchen?

Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Studium, von Nichtakademikerkindern sind es nur 23 (Seite 15). Diese Zahlen alarmierten Journalist und Arbeiterkind Marco Maurer. Er fragt sich, worin dieser große Unterschied begründet ist. Auf seiner Suche nach einer Antwort verfolgt er mehrere Ansätze; das deutsche Bildungssystem trägt in seinen Augen jedoch die Hauptverantwortung: Es unterteilt Schüler im Alter von 10 Jahren in potenzielle und nicht potenzielle Studenten. Die weiterführende Schule, über die die Grundschullehrer für die Schüler entscheiden, bestimmt nämlich zum großen Teil über den zukünftigen Lebensweg.

Es wird also über die Zukunft der 10-Jährigen entschieden, wenn sie noch stark von ihrem bildungsfernen oder -nahen Umfeld geprägt sind. Die Empfehlung des Pädagogen für eine weiterführende Schule nehmen nichtakademische Eltern oftmals hin, auch wenn sie mit der Einschätzung nicht übereinstimmen. Eltern mit Akademikerhintergrund setzen sich dagegen schneller zur Wehr, wenn ihr Kind nicht das Gymnasium besuchen darf.

Aus dem System ausbrechen

Kinder aus Nichtakademikerhaushalten haben außerdem stärker mit Zweifeln zu kämpfen und entscheiden sich eher für solide Berufe, um finanziell versorgt zu sein. Kinder aus Akademikerfamilien trauen sich öfter, einen riskanten Berufsweg einzuschlagen, der mehr Zeit kostet. Auf dem langen Weg dorthin können die Eltern sie finanziell unterstützen.

Maurer berichtet aber auch über Personen, die es geschafft haben, aus diesem System auszubrechen: Der amtierende Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Bahnchef Rüdiger Grube und nicht zuletzt Maurer selbst. Auf der anderen Seite lässt er Akademikerkinder zu Wort kommen, die von ihren Eltern unter Druck gesetzt wurden, studieren zu müssen – obwohl sie lieber eine Ausbildung machen wollten. Manche beugten sich dem Druck der Eltern, andere nicht.

Nicht nur Selbstverwirklichung, sondern Berufung

Wie schafft man nun eine bildungsgerechte Gesellschaft? Marco Maurer appelliert: Deutschland braucht ein anderes Bildungssystem. Es soll sicherstellen, dass Kinder den Weg einschlagen dürfen, der zu ihren Fähigkeiten passt. Unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Studium oder eine Ausbildung handelt. Eltern sind aufgefordert, ihre Kinder zu unterstützen und sie auf keinen bestimmten Weg festzulegen. Mit Mauers Forderung nach Gesamtschulen und Kitas für Kinder aus bildungsfernen Schichten muss man nicht unbedingt übereinstimmen.

Zu der Sekundarstufe II zählen in Deutschland die gymnasiale Oberstufe, die berufsbildenen Schulen und Weiterbildungsschulen für Erwachsene (Abendschulen und Kollegs).

Doch mit einer Aussage hat er ganz sicher Recht: Deutschland hat viel Arbeit vor sich, was Bildungsgerechtigkeit angeht. Laut OECD-Studie  liegt die Bildungsmobilität in Deutschland bei 2,2 Prozent – es studieren demnach lediglich 2,2 Prozent der Kinder, deren Eltern keinen Abschluss im Sekundarbereich II haben. In Spanien sind es 33,3 Prozent.

Was Gott mit diesem ganzen Komplex zu tun hat? Wenn man ihm die Rolle des Schöpfers zuspricht, der Menschen mit bestimmten Gaben und Talenten ausstattet, hat er einiges zu Bildungsgerechtigkeit zu sagen. Denn dann geht es bei diesem Thema um weit mehr als Selbstverwirklichung: Es geht um Berufung. Es geht darum, herauszufinden, welche Talente Gott einem mitgegeben hat. Und wie man einen Platz findet, an dem man diese Talente gut einsetzen kann. Diesen Platz zu finden, macht glücklich – weil Gott den Wunsch, diese Fähigkeiten einzusetzen, in jeden hinein gelegt hat. Geht man dem nach, freut sich auch Gott: Schließlich war es seine Idee, mit diesen Talenten auszustatten. 

Glücklich ist der Begabte

Ich merke allerdings schnell, dass ich bei all diesen schönen Gedanken an meine Grenzen stoße. Ich bin durch Kultur und Gesellschaft so geprägt, dass ich bestimmten Berufsgruppen mehr Respekt vor ihrer Leistung entgegenbringe. Vor dem,  der trotz hoher Anforderungen und viel Konkurrenz einen Studienplatz für Medizin ergattern konnte, ziehe ich den Hut. Und innerlich bemitleide ich denjenigen, der eine handwerkliche Lehre beginnt. Körperlich schwere Arbeit und wenig finanzielle Anreize – wer entscheidet sich bewusst für diesen Job?

Möglicherweise der, dem Gott zwei rechte Hände gegeben hat. Der aus einem Stück Holz ein Kunstwerk zaubert. Damit bereitet er nicht nur demjenigen Freude, dessen Raum das Kunstwerk ziert, sondern auch demjenigen, der dem Handwerker diese Fähigkeit gegeben hat. Bei Bildungsgerechtigkeit inklusive Berufswahl sollte es also weniger darum gehen, welche Berufe mit gesellschaftlichem Prestige überschüttet werden oder die besten Einkünfte bieten. Denn das macht nicht glücklich, wenn ich in diesem Bereich nicht begabt wurde. Neben Veränderungen in der Bildungspolitik braucht es eben auch das: Einen Blick durch die Brille des Schöpfers.

 Christine Keller

Christine Keller

  |  Redakteurin

Hat in der Redaktion von ERF Jess gearbeitet. Ist ansonsten als freie Journalistin auch online und hinter der Kamera unterwegs. Sie hat Hummeln im Hintern, was aber nicht weh tut. Sie liebt es, To-Do-Listen zu schreiben und abzuhaken. Wenn‘s doch mal entspannt sein soll, nimmt sie gern ein gutes Buch zur Hand.

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Kommentare (2)

Ich /

@ Jaques L.: ja genau!!!

Jaques L. /

Seit vielen Jahren wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es in Deutschland im Verhältnis zu anderen westlichen Ländern wenige Menschen mit Hochschulabschlüssen gäbe. Inzwischen wurde diese mehr

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