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© Feliphe Schiarolli / unsplash.com

10.11.2020 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Micaela Kassen

Krankhafte Nächstenliebe

Helfen kann zur Sucht werden: Wege aus der Falle des Helfersyndroms.

Nächstenliebe zu leben ist eine der schönsten und wichtigsten Entscheidungen, die wir als Menschen treffen können. Hilfsbereit zu sein ist ein gesundes Bedürfnis des Menschen – wir sind soziale Wesen und brauchen einander! Deswegen ist es gut und hilfreich, Empathie zu besitzen. Doch immer nur in der Rolle des Helfers aufzutreten, kann falsche Gründe und negative Auswirkungen auf mich und mein Umfeld haben.

Psychologen sprechen dann von dem sogenannten Helfersyndrom. Das Helfersyndrom ist ein häufiges Problem in sozialen Berufen. Besonders unter Sozialarbeitern, Therapeuten, Ärzten u.a. verbreitet. Folgen können Erschöpfung, Burnout, Angst oder Depressionen sein.

Was ist ein Helfersyndrom?

Das Helfersyndrom ist laut Duden eine „auf der Unfähigkeit, seine Bedürfnisse zu äußern, beruhende psychische Störung, die sich in einem übertriebenen Bedürfnis zu helfen zeigt“. Wie auch bei anderen psychische Erkrankungen bedarf es bei Betroffenen oft um Begleitung und Therapie, um das Helfersyndrom abzulegen.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer veranschaulicht in seinem Buch „Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer“, was ein betroffener Mensch tut:

Der hilflose Helfer gleicht einer überbeschützenden Mutter, die ein Kind, das längst essen kann, immer noch füttert. Wenn es sich weigert und selbst den Löffel führen möchte, versorgt sie lieber das arme hungrige Geschöpf mit einer Magensonde, als die eigene übermäßige Fürsorge in Frage zu stellen.1

Das von Schmidbauer gezeichnete Bild ist krass, zeigt aber deutlich: Übertriebene Hilfe schadet sowohl dem, der Hilfsbereitschaft zeigt als auch demjenigen, dem die Hilfe zukommt.

Das Perfide am Helfersyndrom: Es mag erst einmal wie Nächstenliebe aussehen, ist es aber nicht. Denn Nächstenliebe fokussiert auf die Bedürfnisse des Anderen, während es beim Helfersyndrom vor allem um meine eigenen Wünsche und Gefühle geht. Langfristig kann es dem Hilfsbedürftigen sogar zusätzlich schaden, wenn er Überfürsorglichkeit erlebt, da es ihn in seiner Selbstständigkeit und persönlichen Lebensentfaltung beschränken kann.

Warum entwickeln Menschen ein Helfersyndrom?

Die Ursache des Helfersyndroms liegt in einem schwachen Selbstwertgefühl. Helfer mit krankhafter Nächstenliebe wünschen sich Anerkennung, Aufmerksamkeit und Dankbarkeit, um ihre Minderwertigkeitsgefühle auszugleichen. Sie wollen gebraucht werden.

Doch wenn sich dieses Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ zur Sucht entwickelt, brauchen sie jemanden, der auf sie angewiesen ist: Einen Schwachen, dem sie helfen können. Nur so können sie die innere Leere, die sie fühlen, überwinden. Ihr Selbstwertgefühl ist damit von den Beziehungen abhängig, in denen sie durch ihre übermäßige Hilfe meinen, Bestätigung zu finden. Langfristig ist das sowohl für den Helfer, als auch für den Hilfsbedürftigen belastend.

Wohlgemerkt: Viele Menschen, die unter einem Helfersyndom leiden, haben durchaus gute Absichten. Sie sehen die Herausforderungen des Anderen und wollen Not lindern. Problematisch ist, dass sie ihr eigenes Selbstbild von ihrer Rolle als Helfer abhängig machen.


Doch was kann ich tun, wenn ich spüre, dass ich dazu neige, mich zu stark über meine Helfertätigkeiten zu definieren? Hier folgen einige konkrete Schritte, wie man aus der Falle des Helfersyndroms aussteigen kann:

1. Mir die Frage stellen: Wie sieht es mit meinem Selbstwertgefühl aus?

Wodurch definiere ich meinen Selbstwert? Fällt es mir schwer, Hilfe anzunehmen, weil ich damit meine eigenen Schwächen preisgeben würde? Stelle ich meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse immer für Andere zurück? Der erste Schritt ist es, mir einzugestehen, an welchen Stellen ich Defizite habe. Ich darf mir bewusst machen: Ich bin wertvoll und liebenswert so, wie ich bin. Ich brauche die Bestätigung anderer Menschen für mein positives Selbstbild nicht.

2. Mir die Frage stellen: Warum helfe ich eigentlich? Welche Motive stecken dahinter?

Ein weiterer Schritt ist es, meine Motive zu reflektieren, wenn ich andere unterstütze. Fällt es mir zum Beispiel schwer, „Nein“ zu sagen? Habe ich hauptsächlich nur Beziehungen, in denen ich der Gebende bin? Reduziere ich meine Hilfsbereitschaft auch nicht, wenn andere Menschen sie nicht mehr brauchen? Entdecke ich nur durch das Helfen einen Lebenssinn? Beantworte ich diese Fragen mit einem „Ja“, sollten bei mir alle Alarmglocken läuten.

Ich kann mir bewusst machen: Selbstaufopferung ist schädlich. Ich vergesse mich dabei selbst. Ich möchte helfen, um anderen zu helfen und nicht um mir selbst zu helfen. Helfe ich ohne Grenzen – ohne Rücksicht auf mich selbst – werde ich früher oder später massiv darunter leiden. Eine gesunde Motivation, Menschen zu helfen, ist es, wenn ich es aus der Liebe zu Gott tue (Vgl. Matthäus 25,40; Epheser 5,2).

3. Gesunde Nächstenliebe üben

Gesunde Nächstenliebe zeigt sich in der Bibel, indem die Ressourcen in anderen Menschen geweckt werden, sodass sie sich befähigt fühlen, ihr Leben zu meistern. Das hat auch Jesus Christus getan, als er Menschen von ihren Leiden befreite. Ein Beispiel dafür steht in Markus 3,3. Er heilte einen Menschen und dann sagte er: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“.

Dafür zu sorgen, dass den Schwachen, Kranken und Unterdrückten geholfen wird, ist durchaus richtig. Doch dabei kann ich wissen: Ich bin nicht dafür verantwortlich, wie andere Menschen ihr Leben gestalten und für welche Wege sie sich entscheiden. Gute Hilfe ist oft Hilfe zur Selbsthilfe: In manchen Fällen muss man zwar akut Not lindern, langfristig sollte jedoch mein Ziel sein, den Anderen zu befähigen, sein Leben wieder selbstständig zu gestalten.

Das beste Ergebnis als Helfer erreiche ich dann, wenn ich mich selbst überflüssig mache.

Ich darf akzeptieren: Ich bin nicht in der Lage, andere Menschen am Leben zu halten. Ich kann helfen, aber ich bin nicht allmächtig. Es gibt Bereiche, in denen ich helfen kann und Bereiche, die mir unmöglich sind. Absolute Selbstlosigkeit anzustreben, ist keine gesunde Lebenseinstellung. Ich muss Grenzen setzen bzw. ein gesundes Maß zwischen Helfen und Rücksichtnehmen auf mich selbst finden. Ich möchte meine Mitmenschen in Liebe ertragen und sie aufbauen (Vgl. Epheser 4,2.16), aber auch mich selbst lieben (Vgl. 3. Mose 19,18).

 

Ich mache mir deutlich, dass ich in Zukunft darauf achten will, eine Balance zwischen Fürsorge für meinen Nächsten und der Fürsorge für mich selbst zu finden. Die Nächstenliebe, zu der Jesus Christus mich auffordert, soll letztlich gesund sein und mich nicht krank machen.


Literatur

Schmidbauer Wolfgang, Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer, 2007, 3. Auflage, Hamburg 2017


[1] Schmidbauer, Wolfgang, Das Helfersyndrom. Hilfe für Helfer, 15.

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Theologin, studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. 

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Kommentare (1)

Chris E. /

Vielen Dank für diesen sehr hilfreichen Beitrag.

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