Navigation überspringen
© Joseph Gonzalez / unsplash.com

12.09.2017 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Timo König

„Kinder dürfen nicht sexuell überflutet werden"

Sexuelle Selbstbestimmung und verwirrte Kinder: Gespräch mit einer Therapeutin.

Männer sind raubeinig, mögen Waffen und schnelle Autos, Frauen sind eher feingeistig, kochen Pudding und schnuppern den Rest des Tages an Gänseblümchen. Den meisten ist klar, dass diese Klischees die Realität nur sehr grob wiedergeben, wenn überhaupt. Während man sich früher jedoch zumindest darauf verständigen konnte, dass es ein männliches und ein weibliches Geschlecht gibt, wird heute sogar das angezweifelt. Die Welt ist schrecklich kompliziert geworden. Wie können wir da den Überblick behalten und wie können Eltern ihren Kindern eine gesunde sexuelle Entwicklung ermöglichen? Wir haben bei Therapeutin und Sexualberaterin Christine Günther von der Beratungsstelle standUp e.V. nachgefragt.
 

ERF: In Ihren Seminaren sprechen Sie von Schutzräumen, die Gemeinden und Familien Kindern bieten sollten, um ihre sexuelle Identität zu finden. Was meinen Sie damit?

Christine Günther: Identität ist nichts, was urplötzlich da ist. Sie entwickelt sich. Früher hat man gesagt: Man ist dieses oder jenes. Aber heute herrscht die Tendenz, zu sagen: Ich entscheide selbst, welche sexuelle Identität ich habe. Das macht vieles komplizierter. Kinder, die in christlichen Familie aufwachsen, werden nicht nur durch ihre Eltern beeinflusst, sondern auch durch Erfahrungen, die sie außerhalb ihrer Familie machen: Nach den neuen Lehrplänen lernen sie jetzt schon im Kindergarten, dass alle sexuellen Identitäten gleichwertig sind.

Christen haben dazu eine andere Meinung. In der Schule strömen weitere Informationen auf die Kinder ein und sie machen persönliche Erfahrungen, die sie beeinflussen. Eine Schülerin hat mir erzählt, dass eine ihrer besten Freundinnen sich als lesbisch geoutet hat. Das hat sie verwirrt. Sie sagte mir, wenn sie ganz tief in sich selber forscht, könnte sie sich vorstellen, sowohl hetero- als auch homosexuell zu sein.

Auf einmal steht für sie die Frage im Raum: Ist es mit der sexuellen Identität letzten Endes gar nicht so einfach, wie ihre Eltern es ihr als Kind beigebracht haben? Jugendliche müssen erst in sich selber forschen, müssen sich vergleichen und müssen Entscheidungen treffen, was sie sein wollen. Und ich bin der Meinung: Gerade Kinder dürfen nicht so früh sexuell überflutet werden. Das überfordert sie.

Kinder vor sexueller Verwirrung schützen

ERF: Sehen Sie eine Gefahr darin, dass Kinder immer früher, sogar schon im Kindergarten mit dieser Frage konfrontiert werden?

Therapeutin Christine Günther
Christine Günther. Foto: Privat.

Gefahr ist ein großes Wort. Ich würde eher sagen, dass es nicht gut ist. Ob es gefährlich ist, hängt auch davon ab, wie beeinflussbar der Mensch ist. Unsere Identität entsteht zum Teil auch durch Zuschreibungen. Die Reaktionen auf diese Zuschreibungen können unterschiedlich sein: Manche nehmen alles eins zu eins auf, andere reagieren mit Protest.

Es ist gut, das Gespräch mit den eigenen Kindern immer wieder zu suchen. Eltern wollen Kinder schützen. Doch Kinder brauchen auch eigene Erfahrungen. Deswegen protestieren Kinder auch gegen elterliche Werte. Eltern sollten Ihnen dann etwas Raum geben, sie im Hintergrund begleiten, denn irgendwann müssen Kinder gelernt haben, was für sie und ihr Leben gut ist und selber entscheiden.

Aber es ist gut, dass das erst in der Pubertät stattfindet und nicht schon mit vier oder fünf Jahren. Deswegen halte ich es für wichtig, dass auch für die sexuelle Entwicklung ein gewisser Schutzraum da ist. Damit Kinder nicht gleich in frühen Jahren mit sexuellen Eindrücken überflutet werden und wie ungeschützte Bücher sind, in die jeder hineinschreiben kann.
 

ERF: Aber wie will man das heute noch verhindern? Wer das Kind vom Sexualkundeunterricht abmeldet, kriegt unter Umständen Probleme.

Christine Günther: Ich meine auch nicht, dass Eltern ihre Kinder von allem fernhalten müssen. Ich bin eher dafür, dass in Familien früh über solche Dinge gesprochen wird. Genauso wie Eltern die Aufklärung ihrer Kinder nicht jemand anderes überlassen sollten, ist es wichtig, über verschiedene Lebensweisen in unserer Gesellschaft zu reden. Wenn es schon ganz früh im Kindergarten anfängt, heißt das für christliche Eltern: Sie dürfen mit Gespräch und Aufklärung nicht warten, bis die Kinder 15 sind. Da ist der Zug längst abgefahren. Sie sollten früh damit anfangen. Und zwar kindgerecht.

Manche Probleme erledigen sich von selbst

ERF: Was für ein Alter würden Sie vorschlagen?

Christine Günther: Ich würde das nicht an einem bestimmten Alter festmachen. Das hängt vom Kind und von der Situation ab. Wir sagen nicht: „Kind, setzt dich mal her. Ich muss dich aufklären.“ Das geht sicher daneben. Viel sinnvoller ist es, genau hinzuschauen, was das Kind gerade beschäftigt. Viele Kinder haben zum Beispiel eine Phase, in der sie eigene Geschlechtsorgane entdecken und damit spielen. Das sind Phasen, in denen man spontan sagt: „Jetzt mal langsam. Das macht man nicht in der Öffentlichkeit.“

Das sind kleine Alltagssituationen, in denen man seine Kinder beeinflusst. Auch mit der Reaktion darauf, wenn Kinder mal mit ihren Geschlechtsorganen spielen. Wenn Eltern da sagen: „Um Himmels willen! Das ist böse!“ Dann kriegen die Kinder die elterliche Angst oder ihr Entsetzen sofort mit. Da können Eltern an sich arbeiten, dass sie da etwas gelassener werden. Es ist durchaus normal, dass ein Kind seine Geschlechtsorgane erkundet, ohne dass es deswegen eine ungute sexuelle Entwicklung nimmt. Und sexuelle Dinge sind keine Tabu-Themen mehr, Eltern können den Kindern vermitteln, angemessen darüber zu reden

Biologische Merkmale können täuschen

ERF: Sie haben davon gesprochen, dass Menschen sich ihre sexuelle Identität und auch ihr Geschlecht häufiger selbst aussuchen. Aber gibt es nicht biologische Merkmale, an denen es nichts zu rütteln gibt?

Christine Günther: In der Schwangerschaft ist das das Erste, wonach gefragt wird, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Hat das Kind einen Penis oder nicht? Mehr sieht man im Ultraschall ja nicht. Aber sexuelle Identität ist nicht nur an solchen äußeren Merkmalen festzumachen. Bei sexueller Identität spielen auch die Psyche, Rollenerwartung  und -verhalten und später dazu unser sexuelles Begehren eine Rolle.

Wenn wir uns umschauen, sehen wir jede Menge Frauen mit kantigen und harten Gesichtszügen, es gibt auch Frauen mit Ansatz von Bartwuchs. Das vertuschen sie meistens, weil die gesellschaftlichen Ideale für eine Frau anders sind. Oder: Es gibt ebenfalls Männer, die weiche Gesichtszüge und runde Körperformen haben. Dies würde man einem Mann nicht zuschreiben, wenn man klischeehaft denkt. Man würde ihm jedoch Unrecht tun, wenn man ihn zwingt, es zu verbergen.

Ich wehre mich ein wenig dagegen, dass man von äußeren Merkmalen, also Bartwuchs, bestimmter Größe, breiten Schultern, schmalen Hüften auf besondere Männlichkeit schließt. Oft sind es optische Einflüsse durch Filme und Schauspieler, die uns dazu bringen, so zu denken.

Gottes Sicht auf das Thema

ERF: Was ist, abgesehen von zuweilen überzogenen Rollenvorstellungen Ihre Vorstellung zu sexueller Identität?

Christine Günther: Nach dem biblischen Bericht hat Gott uns als Mann und als Frau geschaffen. Und aus dem Schöpfungsbericht entnehme ich, dass wir ein menschliches Gegenüber brauchen. Das ist die Vision, die Gott für uns Menschen hat. Gott gibt uns dazu Raum für unser Leben. Aber er setzt diesem Raum Grenzen durch seine Gebote.

Im Neuen Testament steht im Korintherbrief, dass vieles möglich, aber nicht alles gut für uns ist. Da lese ich heraus, dass verschiede sexuelle Orientierungen in uns Menschen möglich sind, aber nicht alles davon gut für uns ist.
 

ERF: Welche Rolle spielt diese Vision Gottes in Ihrer Seelsorge? Ist das eine Zielvorgabe, auf die man hinarbeitet?

Christine Günther: Als Seelsorgerin gebe ich nie das Ziel selber vor. Ich höre zu: Was ist das Thema, Welche Frage beschäftigt mein Gegenüber. Ich ermuntere den Anderen, sich auf die Suche zu begeben. Dabei kann ich Gesprächspartner sein. Ich kann Antworten auf die Suche für den Anderen nicht geben. Ich kann nur an der Seite des Anderen bleiben, damit er diese Antworten für sich und sein Leben findet. Das ist genau wie bei der Sinnfrage im Leben. Keiner kann diese Frage für einen Anderen wirklich beantworten. Aber wir können einander helfen, uns auf der Suche nicht zu verlaufen und immer wieder dranzubleiben.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 

 Timo König

Timo König

Ihr Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Alle Kommentare werden redaktionell geprüft. Wir behalten uns das Kürzen von Kommentaren vor. Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.

Kommentare (1)

Alwina N. /

Ich bin der Meinung, dass bestimmte Aussagen von Frau Günther kritisch zu betrachten sind.
Es wird immer behauptet, dass im jüngeren Schöpfungsbericht die Aussage steht: Gott schuf den Menschen als mehr

Das könnte Sie auch interessieren