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© Nathan Dumlao / unsplash.com

09.12.2020 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Micaela Kassen

„Ich hätte gerne einen älteren Bruder!“

6 Tipps zum Umgang mit dem erstgeborenen Kind.

Erstgeborene haben oft besondere Herausforderungen zu meistern, wenn sie jüngere Geschwister haben oder das Geschwisterkind gerade erst auf die Welt gekommen ist. Sie verhalten sich z.B. meist gewissenhafter und verantwortungsbewusster als ihre jüngeren Geschwister, was nicht selten zu Konflikten führt. Bei Streitereien lautet es schnell von den genervten Eltern: „Du weißt doch, dass dein kleiner Bruder das noch nicht versteht, gib einfach nach!“ Kein Wunder, dass sich da so manches ältere Geschwisterkind ungerecht behandelt fühlt.

In der Bibel wird dieses Phänomen bei Maria und Martha deutlich. Während Martha, die Älteste, arbeitet, schuftet und voller Sorge ist, setzt sich Maria einfach zu den Füßen Jesu, um ihm zuzuhören. Martha beschwert sich bei Jesus: „Herr, findest du es richtig, dass meine Schwester mich die ganze Arbeit allein tun lässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!“ (Lukas 10,40).

Die Reaktion von Jesus ist überraschend: Anstatt ihren Fleiß zu loben, lädt er sie liebevoll ein, ihr Verantwortungsgefühl für einen Moment abzulegen und sich stattdessen Zeit für eine Begegnung mit ihm zu nehmen. An Marthas Geschichte merkt man schon: Erstgeborene haben besondere Bedürfnisse, auf die Eltern schon im Kindesalter eingehen sollten.

Hier kommen 6 Tipps zum Umgang mit dem erstgeborenen Kind.

1. Zeit für ungeteilte Aufmerksamkeit geben

Das erste Kind genießt eine Zeit lang als Einzelkind die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Es verliert diese Aufmerksamkeit, sobald das zweite Kind zur Welt kommt. Der Psychoanalytiker Alfred Adler sprach in diesem Zusammenhang von einer „Entthronung“ des Kindes. Es steht nicht länger im Mittelpunkt und muss die erste Lebenskrise durchmachen.1

Dem ältesten Geschwisterkind kann ich in dieser Situation signalisieren, dass ich mich auf Zeiten freue, in dem ich etwas ungestört mit ihm unternehmen kann: „Dein Bruder/deine Schwester ist eingeschlafen. Jetzt können wir etwas zu zweit machen“. Wenn ich regelmäßig bewusst Zeit allein mit meinem ersten Kind verbringe, kann ich Eifersucht vorbeugen und dafür sorgen, dass es nicht das Gefühl bekommt, zurückgestellt worden zu sein.

Rituale, die ich mit dem ersten Kind eingeführt habe, sollte ich beibehalten – sei es eine Runde Uno nach dem Abendessen oder die Gute-Nacht-Geschichte vor dem Schlafengehen. Diese geben meinem Kind Sicherheit und Halt.

2. Zeit geben, um etwas in Ruhe zu machen

Wenn mein Großer von seinem kleinen Bruder genervt ist, klagt er manchmal: „Ich hätte gerne einen älteren Bruder!“ Dann wünscht er sich jemand, der ihm nicht seine Bügelperlen auf den Boden wirft oder sich aus Unachtsamkeit auf sein Lego- Haus setzt. Ein kleines Kind, das laut schreit, weil es sich über irgendeine Kleinigkeit ärgert, kann nicht nur den Eltern, sondern auch den Geschwistern den letzten Nerv rauben.

Die ältesten Kinder müssen viel erdulden und über sich ergehen lassen. Sie brauchen Zeit, um etwas in Ruhe zu machen: z.B. ungestört zu malen, zu basteln oder zu puzzeln. Diese Zeit kann ich schaffen, indem ich z.B. den Papa oder die Oma regelmäßig mal allein mit dem oder der Kleinen nach draußen schicke oder mein großes Kind – wenn möglich – gelegentlich vom Kindergarten abmelde, um etwas allein mit ihm oder ihr zu unternehmen. Es wird die Zeit genießen und sein jüngeres Geschwisterkind wahrscheinlich nicht vermissen.

3. Die Möglichkeit geben, um Ärger über das Geschwisterkind zu äußern

Wie bereits erwähnt: Die Ältesten müssen sehr viel einstecken. Anstatt sie mit Allgemeinplätzen wie „Dafür kann ich auch nichts!“ oder „Ich will, dass ihr euch vertragt!“ zu vertrösten, kann ich meinem Kind mit Verständnis begegnen. Wenn ich schimpfe, weil mich sein Frust nervt, fühlt es sich nicht verstanden und ungeliebt. Daher ist es wichtig, dass ich versuche zu verstehen, warum mein Kind so sauer ist und was man gegebenenfalls ändern kann, damit es nicht wieder zu so einem Konflikt kommt.

Allein dadurch, dass mein Kind merkt, dass mir seine oder ihre Probleme nicht egal sind, vermittle ich ihm bzw. ihr ein Gefühl von Geborgenheit.

Ich sollte von meinem Kind also nicht erwarten, seine Wut oder Ärger zu unterdrücken, sondern die Möglichkeit schaffen, die eigenen Gefühle zu äußern. Nur so können wir gemeinsam einüben, mit Frust und Konflikten umzugehen. Die Toleranz für das nervige Geschwisterchen kann außerdem bei meinem Kind wachsen, wenn es erlebt, dass ich auch seiner Wut mit Freundlichkeit und Respekt begegne.  

4. Das richtige Maß an Verantwortung übertragen

Wie bereits erwähnt: Erstgeborene Kinder sind häufiger gewissenhafter und verantwortungsbewusster als ihre jüngeren Geschwister. Dieses erhöhte Verantwortungsbewusstsein entwickelt sich vor allem da, wo sich ältere Kinder regelmäßig um ihre kleinen Geschwister kümmern und Aufgaben übernehmen, die normalerweise die Eltern erledigen. Sie trösten sie und passen vielleicht auch auf, dass der oder die Kleine keine Legoteile in den Mund nimmt.

Eltern – vor allem, wenn sie sich gerade überlastet fühlen – stellen manchmal Erwartungen an die Erstgeborenen, die sie nicht erfüllen können. Dann müssen sich die Ältesten oft Sprüche anhören wie „Du bist doch der/die Große!“ oder „Das kannst du doch schon allein!“.

Ich muss mich im Alltag daran erinnern, dass sich auch mein ältestes Kind überfordert fühlen kann, wenn meine Erwartungen zu groß sind. Ein zweijähriges Kind kann das Älteste sein, aber trotzdem darf ich dabei nicht vergessen: Es ist trotzdem noch klein.

Natürlich: Ich kann meinem erstgeborenen Kind ruhig zutrauen, Verantwortung zu übernehmen. Das stärkt sein Selbstwertgefühl. Wenn ich allerdings immer von meinem Kind erwarte, sich nicht von dessen kleinen Bruder oder Schwester ärgern zu lassen und es immer nur Rücksicht auf die anderen nehmen soll, begehe ich einen Fehler und mein Kind fühlt sich ungerecht behandelt.

Ich kann von beiden Seiten des Pferds herunterfallen: Ich kann meinem ersten Kind zu viel Verantwortung auferlegen, oder aber zu wenig. Denn auch zu viel Anteilnahme an der Rolle als großen Bruder oder große Schwester kann meinem erstgeborenen Kind auch schaden. Das passiert, wenn ich mein ältestes Kind zu sehr für seine Rolle bemitleide.

Viele ältere Geschwister gehen schließlich in der Rolle als „Verantwortlicher“ auf und genießen es, für ihre Geschwister da zu sein. Eine solche Vertrauensbeziehung kann bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Ich sollte als Elternteil also nicht zu stark in die Beziehung zwischen meinen Kindern eingreifen, sondern ihnen Raum geben, ihre eigene Rolle innerhalb der Geschwisterkonstellation zu entwickeln.

Es gilt ein gutes Maß zu finden zwischen Verantwortung übertragen und fürsorglich sein.

5. Privilegien einräumen

Ein Lob zu hören oder eine Belohnung zu erhalten tut jedem Kind gut – daher auch meinem erstgeborenen Kind. Ich kann meinem Kind regelmäßig Wertschätzung dafür zeigen, dass es so ein großer toller Bruder oder Schwester ist. Meinem Kind tut es gut, wenn ich ihm hin und wieder ein paar Privilegien einräume, wie z.B. etwas länger wach zu sein als sein Geschwisterchen und einen Film zu gucken.

Es tut meinem Kind auch gut, wenn es sich bewusst ist, dass es auch cool ist, der bzw. die Große zu sein und sich daran erinnert, was er in seinem Alter im Gegensatz zu seinem Bruder darf, wie z.B. früher den Schwimmkurs oder den Fußballverein besuchen.

6. Dem Kind in der Liebessprache begegnen, die es braucht

Erstgeborene haben vieles gemeinsam, was die Persönlichkeitsentwicklung betrifft, doch jeder Mensch besitzt eine eigene Liebessprache bzw. hat seine eigenen speziellen Bedürfnisse. Ich sollte mir die Frage stellen: „Wann fühlt sich mein Kind geliebt?“

Gary Chapman hat in seinem Buch „Die fünf Sprachen der Liebe für Kinder. Wie Kinder Liebe ausdrücken und empfangen können“ Möglichkeiten vorgestellt, wie man seinem Kind Liebe zeigen kann. Hierzu ein paar Anregungen:

  • Ist es ihm oder ihr wichtig, auf dem Schoß zu sitzen und gestreichelt zu werden?
  • Ist es ihr wichtig, zu hören, dass er oder sie geliebt ist?
  • Fühlt es sich geliebt, wenn ich ihm bzw. ihr hin und wieder ein kleines Geschenk mache, um meine Wertschätzung zu zeigen?
  • Oder fühlt es sich vor allem geliebt, wenn es unterstützt wird?
  • Was ist meinem Kind am wichtigsten?

 

Geschwisterbeziehungen sind etwas Einzigartiges, das uns bis ins Erwachsenenalter prägt.

 


Literatur

Prekop, Jirina, Erstgeborene: Über eine besondere Geschwisterposition, München 2000

Chapman, Gary/ Ross Campbell, Die 5 Sprachen der Liebe für Kinder. Wie Kinder Liebe ausdrücken und empfangen können, Marburg 2014
 

[1] Vgl. Prekop, Jirina, Erstgeborene: Über eine besondere Geschwisterposition, 95.

 Micaela Kassen

Micaela Kassen

  |  Freie Mitarbeiterin

Theologin, studiert derzeit Psychologie und ist auf Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Sie hat als Lerntherapeutin gearbeitet und ist aktuell als Sozialarbeiterin in einer intensiv-pädagogischen Einrichtung tätig. Redaktionell setzt sie ihre Schwerpunkte auf die psychische Gesundheit und Kindererziehung. 

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