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© Hutomo Abrianto / unsplash.com

23.01.2015 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Theresa Folger

Fehlerlos unglücklich (2)

Warum Perfektionismus nicht nur unglücklich macht, sondern auch sinnlos ist.

Im gestrigen Artikel habe ich erläutert, wieso Perfektion für uns Menschen nicht zu erlangen ist und auch kein sinnvolles Ziel darstellt. Doch wie ist es möglich, sich aus angstbasiertem Perfektionismus zu befreien? „Einfach nicht mehr perfekt sein“ hilft wenig. Denn tief im Innern schlummern bestimmte Glaubensgrundsätze, die dem Zwang zur Perfektion ständig neue Nahrung geben.

Das können Sätze sein wie: „Du bist zu dumm zum Denken“, „Pass bloß auf dein Gewicht auf“, „Nur die Harten kommen in den Garten“ oder „Dich mag eh keiner“. Vielleicht haben wir solche Sätze von Eltern, Lehrern oder Bekannten gehört, vielleicht aber auch unbewusst Überzeugungen aus den Medien übernommen. Die Sätze sind unterschiedlich, doch sie bewirken dieselbe Schlussfolgerung: Wenn du nicht erfolgreich/ superdünn/ knallhart/ überall beliebt bist, bist du nicht okay. Nur wer in diesem Bereich perfekt ist, hat eine Existenzberechtigung.

Perfektionistische Lebenslügen bewusst ablehnen

Doch das stimmt nicht. Perfektionistisches Denken ist kein Schicksal. Es ist eine Lebenslüge, die ich aufdecken und damit enttarnen kann. Welche Sätze treiben mich innerlich an? Welche Lügen habe ich so sehr verinnerlicht, dass ich an ihrer Wahrheit keinen Moment zweifle? Ist es die Überzeugung, dass ich aufgrund meines Gewichts wertlos bin? Ist es die „Schande“, das Gymnasium nicht geschafft zu haben, sodass ich mich generell für dumm halte? Ist es die Angst, dass ich meine Arbeitsstelle nur verdiene, wenn jeder meiner Artikel brillant ist?

Perfektionistisches Denken ist kein Schicksal. Es ist eine Lebenslüge, die ich aufdecken und damit enttarnen kann.

Wenn ich erkenne, welche inneren Antreiber mich gängeln, kann ich sie bewusst hinterfragen. Ich kann mir bewusst machen, dass andere Menschen sich diese Ansprüche nicht setzen und trotzdem ein gutes Leben führen. Warum sollte dann ich auf diese Ansprüche festgenagelt sein? Ich kann ausprobieren, was passiert, wenn ich ihnen keinen Raum mehr gebe. Vielleicht übertrete ich sie auch einmal ganz bewusst: Ich lasse in der Wohnung ein paar Sachen herumliegen oder verpasse der Tortendeko extra eine kleine Delle. Ich komme drei Minuten zu spät zu einer Verabredung oder verzichte auf ein perfektes Make-up. Dann werde ich feststellen, dass der befürchtete Weltuntergang ausbleibt. So kann ich perfektionistische Lebenslügen entlarven, die mich unnötig unter Druck setzen.

Wenn ich erkenne, welche inneren Antreiber mich gängeln, kann ich sie bewusst hinterfragen. Ich kann mir bewusst machen, dass andere Menschen sich diese Ansprüche nicht setzen und trotzdem ein gutes Leben führen.

Sich nicht von den Ansprüchen anderer gängeln lassen

Vielleicht besteht die Lebenslüge auch darin, dem perfektionistischen Anspruch anderer Menschen genügen zu müssen – zum Beispiel der Mutter. Da müht man sich ein Leben lang ab und kann es ihr doch nie recht machen. Der Job ist zu schlecht bezahlt, die Wohnung zu chaotisch, der Partner zu unscheinbar. In diesem Fall richtet sich der Perfektionismus der Mutter nicht nach innen – gegen sie selbst –, sondern nach außen. Personen mit extrovertiertem Perfektionismus verdrängen eigene Fehler und versuchen stattdessen, die Personen in ihrem Umfeld zu perfektionieren. Daraus resultiert eine überkritische Haltung und ein enormes Anspruchsdenken gegenüber anderen, besonders gegenüber der eigenen Familie.

Personen mit extrovertiertem Perfektionismus verdrängen eigene Fehler und versuchen stattdessen, die Personen in ihrem Umfeld zu perfektionieren.

Als betroffenes Familienmitglied ist es hier ganz wichtig, Grenzen zu setzen und sich nicht zu stark von der perfektionistischen Person vereinnahmen zu lassen. Man kann sich bewusst machen, dass deren Ansprüche überhöht und unrealistisch sind. Diese Erkenntnis ist vielleicht schmerzhaft, wenn sie bedeutet, auf elterliche Anerkennung und Lob verzichten zu müssen. Doch die Zufriedenheit der Mutter darf niemals zum Maßstab für das eigene Leben werden. Der Preis ist zu hoch, wenn man sich dafür ständig verbiegen muss.

Eine neue Gelassenheit finden

Seine eigene Unvollkommenheit anzuerkennen und anzunehmen ist ein wichtiger Schlüssel, um Perfektionismus einen Riegel vorzuschieben. Denn das nimmt einen Riesendruck weg. Psychologe Bonelli nennt dies „Imperfektions-Toleranz“ und meint damit: Werde gelassen gegenüber der Unvollkommenheit in deinem Leben. Das heißt nicht, dass ich frustriert aufgebe und vor meiner Inkompetenz resigniere. Nein, Bonelli ermutigt zu einem neuen Selbstbewusstsein, nach dem Motto: Ich bin nicht perfekt und das ist gut so. Ich bin trotzdem liebenswert.

Seine eigene Unvollkommenheit anzuerkennen und anzunehmen ist ein wichtiger Schlüssel, um Perfektionismus einen Riegel vorzuschieben.

Diesen Gedanken zu verinnerlichen, braucht Zeit. Denn anfangs will mein Bauchgefühl mir ständig etwas anderes vermitteln. Aber ich kann mich auch einmal umgekehrt fragen: Erwarte ich von meinen Kollegen jeden Tag außergewöhnliche Leistungen, die sie permanent toppen müssen? Sehe ich nicht auch menschliche Schwächen bei den anderen und habe sie trotzdem gern – vielleicht gerade deswegen? Würde ich einen Kollegen verachten, nur weil er mir einen mittelmäßigen Artikel abliefert? Mit Sicherheit nicht.

Niemand erwartet Perfektion

Das Gleiche gilt für mich. Ich bin nicht inkompetent, wenn ich keine perfekte Leistung abliefere. Mein Kollege wird nicht auf mich herabsehen, wenn dieser Artikel nicht präzise genug ist oder er einen Kommafehler entdeckt. Er wird auch keine geheimen Hintergedanken haben, wenn er mir auf dem Flur begegnet: „Ah, die Kollegin mit dem Kommafehler im 3. Absatz links unten. Mit der will ich nichts mehr zu tun haben.“ Wenn ich mir das ausmale, fange ich sogar an zu lachen. Und so hat dieser Gedanke keine Macht mehr über mich.

Gott erwartet keine Vollkommenheit von mir. Andere Menschen in der Regel auch nicht. Wenn sie es doch tun, kommt es aus ihrer eigenen perfektionistischen Haltung heraus, der ich mich nicht länger beugen muss. Genauso wenig wie meinem eigenen perfektionistischen Anspruch.

Gott erwartet keine Vollkommenheit von mir. Andere Menschen in der Regel auch nicht.

Zugegeben, ich arbeite noch etwas an meiner Imperfektions-Toleranz. Denn diesem Artikel fehlt immer noch etwas. Zumindest mal das dicke Lob meines Kollegen, dass mir wieder ein sensationeller Artikel zu einem hochkomplexen Thema gelungen ist. Das hol ich mir jetzt. Und dann rahm ich es mir groß ein.


Die Anregungen für diesen Artikel stammen aus dem Buch „Perfektionismus: Wenn das Soll zum Muss wird“ von Raphael M. Bonelli (Pattloch Verlag, November 2014, 336 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3629130563). Bonelli erklärt darin, welche Wurzeln Perfektionismus hat und weshalb eine gesunde „Imperfektions-Toleranz“ ein erstrebenswerteres Ziel ist. 

 Theresa Folger

Theresa Folger

  |  Redakteurin

Diplomkulturwirtin und Redakteurin, beschäftigt sich vor allem mit den Themenfeldern „mentale Gesundheit“ und „Persönlichkeitsentwicklung“. Mit ihren zwei aufgeweckten Mädels entdeckt sie dabei regelmäßig neue spannende Aspekte.

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Kommentare (5)

Die Redaktion /

Sehr geehrte Frau T.
es freut mich, wenn der Artikel Ihnen ein wenig weiterhelfen kann. Ich bin gerade noch einmal das Buch im Schnelldurchlauf durchgegangen und habe nach den praktischen Tipps zu mehr

Sigrid T. /

Danke für den interessanten Artikel.
Er macht neugierig auf das empfohlene Buch.
Werden auch praktische Tipps weitergegeben,
wie man sich konkret gegen perfektionistische Familienmitglieder abgrenzen kann?

Dana L. /

Klasse, kommt genau zur richtigen Zeit! Theoretisch weiß ich das alles, und doch tappe ich immer wieder in diese "Ich darf keinen Fehler machen"-Falle. Ich werde mir den Artikel ausdrucken und öfter mehr

Gast2 /

Nein,nur bedingt.Wichtig ist das er uns annimmt und liebt wie wir sind

Gast /

Wichtig ist doch nur das der Herr bald wiederkommt! :)

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