In unserer Talk-Sendung ERF MenschGott erzählt Esther davon, wie sie als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde. Missbrauchsopfer brauchen oft viele Jahre, um mit dem erlittenen Trauma umzugehen. Wir haben mit ERF Seelsorger Heino Welscher über das Thema Missbrauch gesprochen.
ERF: Wie wirkt sich Missbrauch auf den Selbstwert eines Menschen aus?
Heino Welscher: Bei Missbrauch muss man davon ausgehen, dass eine Person über die andere herrschen will. Es geht um Machtausübung und Erniedrigung. Derjenige, der missbraucht wird, fühlt sich in dem Moment erniedrigt, bestimmt und erlebt, dass diese andere Person Macht über ihn ausübt. Das kann auch schon bei kleinen Kindern passieren, unabhängig davon, ob sie es verbal äußern können. Trotzdem fühlt sich die missbrauchte Person in dem Moment wertlos. Weil man etwas mit ihr macht, was sie eigentlich nicht will. So entsteht ein mangelndes Selbstwertgefühl.
Ein Missbrauch früh in der Kindheit kann sogar dazu führen, dass die missbrauchte Person gar keinen Selbstwert entwickeln kann. In so einem Fall leidet die Person so lange unter dem Gefühl „Ich habe keinen Selbstwert. Ich bin nichts, ich kann nichts. Ich bin erniedrigt, andere haben Macht über mich", bis er oder sie daran arbeitet.
Missbrauch kann zu Misstrauen gegenüber Gott führen
ERF: Ändern sich die Beziehungen zu anderen Menschen durch eine Missbrauchserfahrung?
Heino Welscher: Ja, ganz stark. Und je enger die Beziehung zu der Person, die einen missbraucht – Vater, Onkel, Bruder –, desto mehr geht die Beziehungsfähigkeit kaputt. Denn eine Beziehung fußt auf Vertrauen.
Wenn dieses Vertrauen zerstört wird, ist ein Mensch nicht mehr beziehungsfähig. Er geht beispielsweise Beziehungen ein, die in der Regel scheitern werden. Oder er sagt von vornherein: "Ich habe Angst vor einer Beziehung, das darf mir nicht wieder passieren. Also gehe ich gar keine Beziehung mehr ein."
ERF: Wie beeinflusst denn Missbrauch den eigenen Glauben?
Heino Welscher: Das hängt einerseits mit dem Vertrauen zusammen. Andererseits damit, dass Gott als männlich dargestellt wird: Gott, der Vater. Je nachdem, welche Bezugsperson einen missbraucht hat, überträgt man diese Erfahrungen automatisch auf Gott. Dadurch entsteht auch in diesem Bereich eine Beziehungskrise. Das kann dazu führen, dass man gerade in Notsituationen Schwierigkeiten hat, Gott zu vertrauen. Viele stellen Gott auch die Frage: "Warum lässt Gott das zu?" oder "Warum hat er das damals zugelassen?" Das ist im Grunde eine Misstrauensfrage.
Email-Seelsorge ist empfehlenswert
ERF: Warum holen sich so viele Menschen trotz der schwerwiegenden Auswirkungen keine Hilfe?
Heino Welscher: Gerade bei sexuellem Missbrauch entsteht ein sehr starkes Schamgefühl. Man schämt sich einfach, es jemandem zu erzählen. Wenn es ein enger Verwandter war, kommt auch häufig noch die Drohung dazu: "Wenn du das einem sagst, kommt der Papa oder Onkel ins Gefängnis." So wird zusätzlich Druck aufgebaut. Und es gibt noch einen dritten Punkt, der uns immer wieder durch die Medien vermittelt wird. Man glaubt den Kindern oder der missbrauchten Person nicht.
ERF: Was sind Schritte, um sich aus einer solchen Spirale zu befreien?
Heino Welscher: Ein erster Schritt ist sicher das Gebet – gerade für Christen. Es geht darum, Gott zu bitten, mir Kraft zu geben. Der nächste Schritt ist, sich einer Person zu öffnen, der man vertraut, und ihr zu sagen, was passiert ist. Es ist hilfreich, den ersten Kontakt per Email herzustellen. Das haben wir bei uns in der Email-Seelsorge festgestellt. Da bleibe ich erst mal anonym. Der andere weiß nicht, wie ich heiße oder wo ich wohne. Aber ich kann die ersten Schritte wagen und beginnen, darüber zu sprechen.
Missbrauch hinter sich lassen
ERF: Wie kann ich ein solches Trauma erfolgreich bearbeiten, so dass ich wieder beziehungsfähig werde?
Heino Welscher: Das ist bei den meisten Personen ein längerer Weg. Das geht nicht von heute auf morgen. Ich glaube, man muss mit diesem „beherrscht-werden“ fertig werden. Als Missbrauchsopfer wurde man beherrscht. Man muss das überwinden und sich sagen: "Ich lasse mich nicht mehr beherrschen, ich werde nicht mehr beherrscht". Der Knackpunkt ist, sich mit dem beherrscht bzw. erniedrigt werden auseinanderzusetzen.
Wenn man dann noch erfährt, dass man vor Gott wertvoll ist – dass man Gott sozusagen einen Christus wert ist –, dann kann man lernen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aufarbeiten kann man so etwas im Grunde nicht. Man kann ja nichts rückgängig machen. Man kann nur einen Schnitt machen und nach vorne schauen und dann anders reagieren.
ERF: Missbrauch bedarf Seelsorge und Nachsorge. Wo finde ich denn diese Hilfe?
Heino Welscher: Ich würde eine Adresse angeben: das Weiße Kreuz in Kassel. Da kann man per Email hinschreiben oder man geht direkt auf die Internetseite des Weißen Kreuzes. Dort sind eine ganze Menge Beratungsstellen in Deutschland aufgeführt. Da wird man auch in der Nähe etwas finden. Das ist eine gute erste Anlaufstelle.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
Sie haben Missbrauch erlebt und denken an Suizid, machen sich um jemanden Sorgen oder haben einen Menschen aufgrund eines Suizidtodesfalls verloren? Hier finden Sie Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote.
Sie stecken in einer schwierigen Lebenssituation und suchen konkrete Hilfe? Schreiben Sie uns eine E-Mail oder nutzen Sie unser Seelsorge-Portal.
Ihr Kommentar
Kommentare (6)
Ich habe sehr viel und lange Jahre seelisch en, körperlich, geistlichen und sexuellen Missbrauch erfahren. Den sexuellen Missbrauch erfuhr ich von meinem leiblichen Vater. Mit Pausen, weil ich … mehreine
Zeitlang in einem Heim lebte bis zu meinem 14. Lebensjahr. Diese Erfahrungen gingen bis zu meinem 34. Lebensjahr. Damals fühlte ich mich Innerlich wie tot. Meine Gestalt war für alle sichtbar, aber in meinem Inneren war kaum noch Leben. Ich habe viele Jahre Therapie gebraucht um heute der Mensch zu sein der ich jetzt bin.
Heute kann ich aus ganzem Herzen sagen, das Gott es war, der immer auf mich aufgepasst und mich beschützt hat. Nicht die Menschen.
Natürlich war es für mich ein sehr schwerer Weg in der Therapie.
Ich habe seit über 10 Jahren eine super Therapeutin an meiner Seite.
Jetzt bin ich 60 Jahre und fühle mich Tag für Tag gesünder und glücklich.
Durch die Überschrift wurde ich neugierig und las den Artikel.
Heute danke ich Gott meinem Schöpfer dass ich leben darf und IHM ganz gehöre.
Dass war nicht immer so in meinem Leben.
Was für mich ganz wichtig geworden ist dass Gott es ist der mich heilt und gesund werden lassen kann. Die Menschen fühlen sich oft überforderte und können dadurch noch mehr Schaden an den verletzten Menschen anrichten. Ich habe es selber erleben müssen.
Gewalt, egal in welcher Form, zerstört Vertrauen. So fällt es schwer Vertrauen sowohl zu Menschen als auch zu Gott wieder herzustellen. Gewalt zerstört auch die Persönlichkeit, sodaß selbst eine … mehrBeziehung zu sich selbst nicht mehr vorhanden ist, es sei denn es findet Heilung und Wiederherstellung statt
Hallo,
Wie kann man den Kontakt zur Esther bekommen,um mit ihr ins Gespräch zu kommen als Selbstbetroffene???
vielen Dank für diesen wertvollen Artikel! Zum ersten Mal überhaupt ist mir dabei klar geworden, dass es bei Missbrauch um Machtausübung und Erniedrigung geht. Aus eigener Erfahrung weiß ich nur zu … mehrgut, dass einem vor allem im Verwandtenkreis ( wenn der Täter ein enger Verwandter ist) zum einen nicht geglaubt wird, aber schlimmer noch: es wird einem als Kind auch nicht geholfen. Diese Hilflosigkeit hätte mich damals fast in den Selbstmord getrieben.
Dank meiner liebevollen Großeltern - denen ich aus Scham ( wie oben im Artikel erwähnt) natürlich auch nichts erzählt habe - aber dennoch ihre beschützende Nähe gebraucht habe, bin ich schon als 12-jährige zum Glauben gekommen.
Gott als liebenden, beschützenden Vater, der mir immer und überall und bei allem, was ich sage, mag es auch noch so schlimm sein, zuhört, das war das größte Geschenk , das ich je erhalten habe.
Aber es steht so richtig im Artikel: Missbrauch lässt sich nicht "aufarbeiten", man muss oft jahrzehntelang neu lernen, wieder Selbstwertgefühl aufzubauen und auch heute noch, nach 30 Jahren, vertraue ich fast keinem einzigen Menschen.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung auf unseren Artikel zum Thema Missbrauch. Sie schrieben, dass die Überschrift falsch sei. Sie bezieht sich auf eine Aussage im Interview, die der Seelsorger im … mehrGespräch so gegeben hat. Allerdings macht er im Gespräch auch deutlich, dass man sehr wohl lernen kann, mit einem erlebten Missbrauch zu leben. Ich kann das aus persönlicher Erfahrung weder bestätigen noch widerlegen. Ich muss a der Kompetenz des Seelsorgers vertrauen.
Die Überschrift haben wir so gewählt, um erst einmal für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wer nur die Überschrift liest (und beispielsweise nicht die zweite Überschrift, in der es um die „Tipps für den Umgang“ mit Missbrauch geht) kann tatsächlich einen falschen Eindruck haben. Unsere Hoffnung war allerdings, dass die beiden Überschriften zusammen dazu führen, dass man den gesamten Text liest und dadurch deutlich wird, dass Missbrauch zwar nie völlig aufgearbeitet werden kann (es bleibt immer eine Narbe), dass man aber doch zu einem „normalen“ Leben finden kann. Ich kann allerdings Ihre Sorge bzw. Bedenken nachvollziehen. Aus rein journalistischer hatten wir die „Befürchtung“ dass eine Überschrift a la „Man kann mit Missbrauch leben lernen“ für die meisten Leser und Leserinnen gerade nicht zum Lesen des Interviews führt. Es war eine Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben. Wir werden uns in Zukunft bemühen, Überschriften zu finden, die weniger „missverständlich“ sind.
Die Überschrift ist falsch und führt leider dazu, daß sich Betroffene noch kleiner und hilfloser fühlen. Das ist ja wohl hoffentlich nicht der Sinn dieses Interviews. Jammerjammerschade!!!!!!!!!!!!!