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© Counselling / pixabay.com

22.03.2016 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Um Hilfe bitten erwünscht!

Seelische Probleme: Ab wann braucht es professionelle Hilfe? Ein Interview mit Dr. Oliver Dodt.

Einen Seelenklempner? Brauch‘ ich nicht. Das ist immer noch die Einstellung vieler Menschen. Zwar nehmen psychische Erkrankungen stetig zu, doch kaum einer spricht darüber. Gerade Christen tun sich oft schwer damit, den Schritt in eine professionelle Behandlung zu wagen, sagt Psychiater Dr. Oliver Dodt. Im Interview räumt er mit Vorurteilen gegenüber Psychotherapie und Psychiatrie auf und macht Mut dazu, sich auch als Christ bei psychischen Problemen rechtzeitig helfen zu lassen.

ERF: Herr Dodt, als Psychiater erleben Sie immer wieder, dass Menschen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt professionelle Hilfe suchen. Wieso ist das problematisch?

Oliver Dodt: Das ist wie bei jeder anderen Erkrankung auch. Desto länger man wartet, desto weiter schreitet die Erkrankung fort. Darunter leidet der Patient. Bei einem Menschen, der eine Depression hat, wird es immer schwieriger für ihn selbst, aber auch für die Angehörigen, die mit darunter leiden, dass es ihm schlecht geht. Die Lebensqualität ist vermindert. Und an manchen Stellen wird die Behandlung einfach schwieriger.

ERF: Oft denkt man vielleicht erstmal, dass man gerade nur eine schlechte Phase hat oder es an den Umständen liegt. Woran merke ich, dass ich mir professionelle Hilfe suchen sollte?

Oliver Dodt: Auf der einen Seite ist es schwierig, auf der anderen Seite hilft der gesunde Menschenverstand. Wenn ich schwierige Arbeitsumstände oder eine schwere Lebenssituation habe oder jemand aus dem Angehörigen- oder Freundeskreis verstorben ist, ist es völlig klar, dass ich traurig, niedergeschlagen und lustlos bin. Das ist eine gesunde und normale Trauerreaktion. Wenn aber alle anderen Trauernden nach ein mehreren Monaten wieder am normalen Leben teilnehmen, aber ich immer noch sehr niedergeschlagen bin, müsste man genauer hinschauen und prüfen: Ist die Trauer in eine Depression übergegangen? Auch bei schwierigen Arbeitsumständen, kann es vorübergehende Phasen mit schlechter Stimmung geben. Aber wenn das mit massiven Schlafstörungen einhergeht, wenn man ständig Ängste hat, zur Arbeit zu gehen, oder es Beeinträchtigungen im Alltag gibt, ist da mehr. Dann ist es Zeit, mit dem Hausarzt, mit einem Psychiater oder Psychotherapeuten darüber zu sprechen.

Gebet ist wichtig, führt aber selten allein zur Heilung

Dr. Oliver Dodt ist Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie. Er
arbeitet in der FeG Bingen und in
er Arbeitsgemeinschaft christlicher
Ärzte (www.acm.smd.org) mit.
(Bild: privat)

ERF: Sie machen gerade bei Christen oft die Erfahrung, dass sie sich schwer damit tun, sich bei psychischen Erkrankungen rechtzeitig Hilfe zu suchen. Welche Vorbehalte haben Christen gegenüber Psychologie oder Psychotherapie?

Oliver Dodt: Manchmal sind es die ganz normalen Vorbehalte, die auch wenig christlich geprägte Menschen oder Moslems haben. Man sagt: „Zum Psychiater möchte ich nicht gehen, denn ich habe doch keine psychische Erkrankung.“ Manche Menschen sind auch einfach unwissend oder haben Vorurteile gegenüber der Psychiatrie. Die Menschen sind oft noch auf dem Stand der 50er Jahre oder glauben, die Psychiatrie der 50er Jahre, die man aus irgendwelchen Filmen kennt, entspricht heute noch der Realität.

Aus christlicher Sicht gibt es auch Menschen, die glauben: „Der Psychiater oder Psychotherapeut redet mir den Glauben aus.“ Das stimmt meist nicht, denn der Psychiater wird sich um den Glauben wenig bemühen. Der Psychiater oder Psychotherapeut kümmert sich um die Depression, die Schlafstörung oder die Angsterkrankung und nicht um das persönliche Seelen- und Glaubensleben. Natürlich hat eine psychische Erkrankung auch massive Auswirkungen auf die Seele. Aber das ist etwas, mit dem ein Psychotherapeut gut umgehen kann. Ich habe eher den Eindruck, dass viele meiner Kollegen sagen: „Wir glauben zwar nicht. Aber wenn jemand glaubt, bietet das die Chance, das als Ressource in den Heilungsprozess miteinzubauen. Wenn die Gemeinschaft im Hauskreis, Kirchenchor oder Gottesdienst dem Patienten gut tut, sollte der Patient das wieder aufnehmen.“

ERF: Gibt es auch andere Glaubensgrundsätze, die hinderlich sein könnten, zum Beispiel der Gedanke, dass Gott durch Gebet heilt? Gerade bei psychischen Erkrankungen ist es vielleicht so, dass man es erstmal mit Gebet versucht und keinen Fachmann aufsucht. Erleben Sie das auch?

Oliver Dodt: Das ist sicherlich oft der Fall, denn eine psychische Erkrankung ist nicht so greifbar wie eine Blinddarmentzündung oder ein Beinbruch. Dann denkt man: „Das ist nicht greifbar. Also brauche ich auch nicht zum Arzt gehen.“ Das sind Vorbehalte wie bei anderen Menschen auch. Aber im christlichen Kreis wendet man dann vor allem Gebet an. Ich denke auch, Gebet ist wichtig. Und ich freue mich über jeden Patienten oder Angehörigen, der betet. Aber nichtsdestotrotz braucht es zusätzlich eine professionelle Behandlung. Depression ist in Deutschland ein großes Problem, da braucht es Profis, da braucht es Antidepressiva und Psychotherapie, damit der Mensch wieder Lebensqualität erhält. Es ist es gut, auf Gott zu vertrauen, und oft kann Gott auch durch einen Psychiater und durch Psychopharmaka heilen.

Psychopharmaka sind besser als ihr Ruf

ERF: Erleben Sie, dass Patienten vielleicht auch aus Vorbehalten gegenüber Psychopharmaka eine psychische Behandlung scheuen, weil sie denken: „Ich muss dann irgendwelche Glückspillen schlucken“?

Oliver Dodt: Ganz selten muss ein Patient Tabletten schlucken. Als Psychiater würde ich den Patienten beraten und sagen: „Das ist wahrscheinlich der beste Weg, eine schnelle Besserung zu erreichen.“ Das stärkste Vorurteil gegenüber Psychopharmaka ist, dass sie abhängig machen. Das gilt für die allermeisten Psychopharmaka aber nicht. Es gibt eine kleine Gruppe von Beruhigungsmitteln, die abhängig machen. Aber sie werden nur sehr selten und noch seltener dauerhaft verschrieben. Antidepressiva helfen erstmal das, was in der Depression die Persönlichkeit verändert und Schlafstörungen, Hoffnungslosigkeit und Antriebsminderung verursacht, zu verbessern. Antidepressiva wirken nicht schnell und helfen auch nicht allen Patienten. Aber sie verbessern für den Großteil der Patienten die Erkrankung. Die Nebenwirkungen bei modernen Antidepressiva sind deutlich geringer als noch vor 20 Jahren und auch besser bekannt und erforscht. Diese Nebenwirkungen kann und muss man als Arzt besprechen, aber die meisten Patienten spüren kaum etwas davon.

ERF: Manche Menschen suchen sich deshalb keine Hilfe, weil sie sich fragen: Was werden die anderen von mir denken? Wie kann man Menschen die Angst vor den Reaktionen anderer nehmen?

Oliver Dodt: Ich wünsche mir, dass in Gemeinden, Hauskreisen oder christlichen Werken eine offene Atmosphäre herrscht, in der man auch über psychische Erkrankungen sprechen kann − genau wie über körperliche Erkrankungen. Ich erlebe bei vielen Seelsorgern, dass sie sich da sehr gut und intensiv fortbilden, um zu erkennen: „Ist das ein seelisches Problem oder steckt da eine Depression, Angsterkrankung oder Zwangserkrankung dahinter?“ Gleichzeitig höre ich immer wieder Leute sagen: „Ich habe mich getraut, in meinem Bekanntenkreis darüber zu sprechen, dass ich in der Psychiatrie war − und siehe da, es haben sich zwei andere gemeldet, die auch schon in der Psychiatrie waren oder eine Psychotherapie gemacht haben.“ Oft führt erst die eigene Offenheit dazu, dass auch andere sich melden und über ähnliche Erfahrungen berichten.

Erste Anlaufstelle Hausarzt

ERF: Manche Betroffene wünschen sich Hilfe, haben aber nicht die Kraft, bei mehreren Psychiatern und Psychotherapeuten nach Terminen zu fragen und sich auf lange Wartezeiten einzustellen. Außerdem fehlen ihnen Informationen über die verschiedenen Behandlungsmethoden. Was raten Sie diesen Menschen?

Oliver Dodt: Wenn jemand keine Kraft hat oder sich alleine nicht traut, ist es gut, wenn es jemanden gibt, der sich unterstützend anbietet. Das kann jemand aus der Familie, aus dem Hauskreis oder der Gemeinde sein. Ich habe es schon erlebt, dass der Pastor mit einer Patientin mitkam und mir erzählte, welche Veränderungen er erlebt hat und warum er denkt, dass das eine psychische Erkrankung ist. Wir haben die Patientin behandelt und es ging ihr nach vier Wochen deutlich besser. Eine Person aus der Familie oder aus der Gemeinde kann gut jemanden zum Psychotherapeuten, zum Hausarzt oder Psychiater begleiten. Erster Ansprechpartner ist oft der Hausarzt, weil der aus Erfahrung sagen kann: „Das ist etwas für den Psychiater oder Psychotherapeuten.“ Vielleicht kennt er sich auch selbst mit Depressionen aus und kann schon mit der Behandlung anfangen, um die Wartezeit zu nutzen.

ERF: Dann stellt sich immer noch die Frage: Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut? Können Sie die Unterschiede kurz erklären?

Oliver Dodt: Ein Psychiater ist ein Arzt, der Medizin studiert hat und Medikamente verschreiben kann. Ein Psychologe hat Psychologie studiert. Psychiater und Psychologe können dann noch eine weitere Fortbildung machen zum Psychotherapeuten. Dementsprechend gibt es ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten. Ein Psychotherapeut bietet meist eine Gesprächstherapie an. Typischerweise läuft die so ab: 50 Minuten einmal die Woche über 10 bis 20 Sitzungen. Ein psychologischer Psychotherapeut kann keine Medikamente verschreiben. Aber je nach Erkrankung ist es sinnvoll, beides anzuwenden: Also Medikamente und Psychotherapie.

ERF: Wie findet man denn heraus, was man braucht? Und wie bekommt man schnell einen Termin?

Oliver Dodt: Dabei kann der Hausarzt eine erste Hilfe sein. Er weiß, wo es Psychotherapeuten in der Nähe gibt. Ansonsten haben die kassenärztliche Vereinigung oder die Bundesärztekammer entsprechende Links auf ihren Homepages. Manchmal helfen auch die Krankenkassen dabei, schneller einen Termin zu kriegen. Wer eine Gesprächstherapie machen will, muss relativ stabil sein. Von daher ist eine Wartezeit manchmal auch zumutbar oder sinnvoll, sodass der Patient dadurch seine Motivation und Ausdauer beweisen kann. Natürlich ist das in einer Krisensituation schwierig. Dafür ist der Psychotherapeut nicht die richtige Anlaufstelle. Manche Psychotherapeuten haben Krisensprechstunden, für die man schneller einen Termin kriegt. Aber das ist leider sehr selten. Ansonsten gibt es noch psychologische Beratungsstellen. Oder man wendet sich direkt an den Hausarzt da oder ruft selbst beim Psychiater an und erklärt, aus welchen Gründen man schnell einen Termin braucht. Je nachdem, wie groß die Krise ist, gibt es auch entsprechende Ambulanzen in der Psychiatrie.

ERF: Vielen Dank für das Interview.

 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Sie schätzt an ihrem Job, mit verschiedenen Menschen und Themen in Kontakt zu kommen. Sie ist verheiratet und mag Krimis und englische Serien.

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Kommentare (4)

Vera /

Auch wenn ich erst so spät auf dieses Interview gestoßen bin, so möchte ich noch einen Aspekt hinzufügen, der Menschen hindern kann, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben: Der Stand der mehr

Margot /

Ich habe nach der Geburt unseres dritten Kindes vermehrt unter Depressionen gelitten, habe sie aber schon seit meiner Jugend, und von meinem einfühlsamen Hausarzt damals eim gutes Medikament mehr

FranzX /

@Jan:
Ich hatte eine schwere psychische Erkrankung, und die zunächst v.a. medikamentöse Behandlung hat - nach längerer Wartezeit - mir geholfen, wieder normal und angemessen zu reagieren und dann mehr

Jan /

Also ich würde zur Vorsicht raten. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass solche Medikamente starke Nebenwirkungen haben und die Symptome nur verschoben oder gar verschlimmert werden. mehr

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