Navigation überspringen
© luxorphoto /fotolia.com

08.05.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Ingrid Heinzelmaier

Wann ist man ein Mann?

Christoph W. Kiehne kämpfte jahrelang mit der Frage nach seiner männlichen Identität.

 

Alleine glücklich werden? Das konnte sich Pastor Christoph W. Kiehne lange Zeit nicht vorstellen. Obwohl er seit seiner Jugend homosexuell empfindet, ist er überzeugt, irgendwann zu heiraten und Kinder zu bekommen. Als er feststellt, dass diese Vorstellung nicht einfach eintreffen wird, beginnt er eine Therapie. Dort erkennt er: Was er in seinen homosexuellen Beziehungen gesucht hat, war seine eigene Männlichkeit. Auf der Suche nach seiner eigenen Identität beruft ihn Gott zum Pastorendienst. Heute lebt er bewusst ehelos und ist glücklich damit. Ein Interview.
 

Christoph W. Kiehne, heute Pastor
der Freien Evangelischen Gemeinde
Dautphetal-Holzhausen, über seine Suche nach männlicher Identität.
(Foto:privat)

ERF: Man sagt, dass Identitätskrisen oft mit negativen Erfahrungen in der Herkunftsfamilie zusammenhängen. Auch Ihre Beziehung zu Ihrem Vater war zwiespältig. Sie haben wegen ihm ein Theologiestudium begonnen, es aber wieder beendet. Wie sah die Beziehung zu Ihrem Vater aus?

Christoph W. Kiehne: Grundsätzlich habe ich mich als Kind mit meinem Vater sehr gut verstanden. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis ‒ auch körperlich. Wir haben viel gekuschelt. Der Bruch entstand erst in der Vorpubertät; zum Einen weil mein Vater als Pfarrer viel zu tun hatte, zum Anderen weil er entschieden hatte, dass er den körperlichen Kontakt zu mir einschränken muss, weil ich in die Pubertät komme. Doch das hat er mir damals nicht gesagt. Daher habe ich bei seinem Rückzug gedacht: „Mein Vater liebt mich nicht mehr. Ich muss ihm beweisen, dass ich liebenswert bin.“ Das war mein Grund, nach der Schule ein Theologiestudium zu beginnen. Das war mir damals aber nicht bewusst. Dass ich das Theologiestudium dann wieder abgebrochen habe, hatte weniger mit meinem Vater zu tun, sondern eher damit, dass ich merkte: „Das ist nicht das, was ich wirklich will.“
 

ERF: Sie erlebten im Folgenden eine Identitätskrise. Lange empfanden Sie homosexuell und für Sie persönlich lag das auch in Ihrer eigenen Lebensgeschichte begründet. Welche Gründe waren das ganz konkret?

Christoph W. Kiehne: Ich glaube nicht, dass der Bruch mit meinem Vater der ausschlaggebende Faktor dafür war, dass ich homosexuell empfunden habe. Das hatte noch weitere Gründe und begann schon viel früher. Ich habe zwei Brüder, die im Gegensatz zu mir sehr sportlich waren und kaum Angst hatten. Das war bei mir ganz anders. Soweit ich zurückdenken kann, habe ich immer Angst gehabt ‒ vor allem mir wehzutun. Ich bin weder auf Bäume geklettert noch habe ich Fußball gespielt. Dadurch entstand bei mir das Gefühl: „Ich bin nicht so wie meine Brüder.“ Das ging in der Schule weiter. Da war immer dieser Gedanke: „Ich gehöre nicht dazu. Ich bin nicht so wie die anderen Jungs.“ Später kam dann der Gedanke „Ich bin nicht so männlich wie die anderen“ dazu. Natürlich hat der Bruch mit meinem Vater dazu beigetragen, dass ich mich nicht geliebt fühlte. Aber mein homosexuelles Empfinden hing mehr mit der Ausgrenzung von den anderen Jungs und vor allem auch von meinen Brüdern zusammen.

„Mein homosexuelles Empfinden brachte mich nicht weiter“

ERF: Sie hatten einige Beziehungen zu anderen Männern. Wie schauen Sie darauf heute zurück?

Christoph W. Kiehne: Ich habe irgendwann gemerkt, dass es nicht das ist, was mich wirklich erfüllt. Dieses „Dazugehören-Wollen“ oder „So-Männlich-Sein-Wollen“ wie meine Brüder funktionierte nicht dadurch, dass ich Sex mit einem anderen Mann habe. Ich merkte: „Dadurch werde ich nicht stärker oder mutiger. Meine Persönlichkeit verändert sich dadurch nicht.“ Das ist mir im Laufe der Zeit bewusst geworden und ich entschloss, dass ich nicht so leben wollte. Ich war teilweise depressiv und spürte eine Leere in mir, weil ich noch nicht so war, wie ich eigentlich sein wollte oder könnte.
 

ERF: Sie stammen aus einem Pfarrhaus. Wann kam der Punkt, an dem Sie sich fragten, ob Ihre Art zu leben mit dem christlichen Glauben zusammenpasst?

Christoph W. Kiehne: Die Entscheidung, nicht homosexuell zu leben, hatte mit meinem Glauben erstmal gar nichts zu tun, sondern wirklich mit diesem Gefühl „Das ist nicht das, was mich weiterbringt“. Das liegt auch daran, dass ich in der Landeskirche Theologie studiert habe. Da gab es auch schwule Theologen, selbst wenn es noch kein großes Thema war. Mir hat keiner gesagt: „Das kannst du mit deinem Glauben nicht vereinbaren.“ Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen. Im Gegenteil: Ich habe an der Uni eher gelernt, dass man das annehmen und ausleben sollte.
 

ERF: Dennoch waren Sie unzufrieden. Gab es Menschen, mit denen Sie darüber sprechen konnten?

Christoph W. Kiehne: Ich habe mit 28 oder 29 Jahren das erste Mal mit jemandem darüber gesprochen. Vorher habe ich eigentlich nie viel darüber geredet, aber mir selbst auch keine großartigen Gedanken darüber gemacht, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich bin immer davon ausgegangen: Wenn ich die richtige Frau finde, heirate ich und gründe eine Familie. Da fiel erst mit Ende Zwanzig der Groschen bei mir, dass das nicht einfach so passieren wird und dass ich hundertprozentig homosexuell empfinde.

„Komm doch zu mir!“

ERF: Heute sagen Sie: Ich war homosexuell. Wie kam es dazu, dass Sie jetzt anders empfinden?

Christoph W. Kiehne: Erstmal dadurch, dass ich mir bewusst gemacht und angenommen habe, dass ich homosexuell empfinde. Ich habe nicht gleich angefangen, mich dagegen zu wehren. Ich war aber nicht glücklich damit. Ich habe noch weitere Beziehungen gehabt, doch dabei gemerkt: „Das ist es nicht.“ Dann habe ich die „Offensive junger Christen“ kennengelernt. Da hat mir zum ersten Mal jemand erzählt, dass es die Möglichkeit einer Veränderung gibt. Das war mir vorher nicht bewusst. Ich habe dort ein paar Seminare besucht und mich dann entschlossen, eine ganz normale Psychotherapie bei einer niedergelassenen Psychotherapeutin zu machen. Sie war keine Christin und hat auch gleich am Anfang gesagt, dass sie nicht meiner Meinung sei, aber sie meinen Weg mit mir gehen würde. Das war gut. Das war genau die Hilfe, die ich brauchte.
 

ERF: Welche Rolle spielte Gott in diesem Prozess?

Christoph W. Kiehne: Eine Begegnung mit Gott war ganz entscheidend. Ich habe in der Therapie gelernt, dass ich vor allem dann einen starken Mann an meiner Seite brauchte, wenn ich in Umbruchssituationen war. Meiner Meinung nach habe ich das, was in der Kindheit mein Vater war, in solchen Momenten auf andere Männer übertragen. Als ich mit 36 Jahren noch mal zum Theologiestudium berufen wurde und nach Ewersbach an das Theologische Seminar der Freien Evangelischen Gemeinden kam, war plötzlich alles neu. Damit kam ich erstmal überhaupt nicht klar. Ich habe wirklich jedem Mann hinterhergeguckt.

Eines Abends war ich auf dem Weg von Emden zu meiner Therapiegruppe in Göttingen. Auf dieser Fahrt habe ich die ganze Zeit überlegt: „Fahre ich zur Therapiegruppe oder fahre ich zu meinem letzten Freund?“ Ich bin an der ersten Ausfahrt in Göttingen vorbeigefahren und habe gerade noch so die zweite Ausfahrt genommen. Auf diesem Wegstück von der Ausfahrt bis zur Therapiegruppe habe ich zu Gott gesagt: „Ich kann das nicht mehr aushalten. Das macht mich kaputt. Wenn du jetzt nichts tust, werde ich die Beziehung zu dir und zur Therapiegruppe beenden und eine Beziehung mit einem Mann anfangen.“
 

ERF: Wie hat Gott darauf reagiert?

Christoph W. Kiehne: Am Sonntag gleich danach war ich bei der Abendmahlfeier in der FeG Göttingen. Ich wollte überhaupt nicht hingehen und habe die Lieder mehr so über mich ergehen lassen. Aber die Lieder sind doch bei mir angekommen und plötzlich sah ich Jesus vorne mit ausgebreiteten Armen stehen und er sagte zu mir: „Komm doch zu mir!“ Ich könnte es heute nicht mehr beschreiben, aber es war eine Art Vision. Und dann sagte ich mir: „Ja, das will ich.“ Danach war meine Zerrissenheit total weg. Das heißt nicht, dass ich nicht mehr homosexuell empfunden habe. Es war weiter meine Aufgabe, da in der Therapie dranzubleiben, aber ich musste nicht mehr dauernd den Männern hinterhergucken. Das war ein Stück Heilung von Gott. Dieses Erlebnis hat mich so stark gemacht, dass ich den Weg aus der Homosexualität heraus weiter gehen konnte.

Die Berufung zur Ehelosigkeit

ERF: Irgendwann haben Sie sich in eine Frau verliebt. Wie kam es dazu?

Christoph W. Kiehne: Das war, nachdem ich zum ersten Mal fühlte „Ich bin männlich“ und mir das nicht mehr nur vom Kopf her einredete. Da war diese Leere, die ich vorher gespürt hatte, plötzlich weg und ich merkte: „Jetzt habe ich meine Identität gefunden. So kann ich jetzt leben.“ Und es war interessant, dass ich mich vielleicht ein Vierteljahr später in eine Frau verliebte. Ich merkte dann: Das ist etwas ganz anderes als mit einem Mann zusammen zu sein.
 

ERF: Dennoch haben Sie nicht geheiratet, sondern sich wieder von der Frau getrennt. Wieso?

Christoph W. Kiehne: Das lag daran, dass sie keine Christin war. Ich habe zunächst gehofft, dass sie sich für Gott entscheidet, aber gerade in diesem Punkt, der mir so wichtig war, war kein Zusammenkommen möglich. Ich wollte Pastor werden und das wäre auch der Großteil meines Lebens gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit meiner eigenen Frau nicht darüber reden zu können. Ich habe mich daher von der Frau getrennt. Das hat mich ein Jahr Kampf mit Gott gekostet. Ich fragte Gott immer wieder: „Wieso lässt du zu, dass ich mich in eine Frau verliebe, wenn das dann nicht klappt, weil sie keine Christin ist? Das hättest du auch anders machen können.“ Darüber habe ich lange mit Gott gehadert. Aber dann ist mir klar geworden, dass Gott etwas anderes mit meinem Leben vorhat.

Gott hat mich gefragt: „Willst du mir wirklich mit deinem ganzen Leben dienen? Auch wenn das heißt, ehelos zu bleiben?“ Etwa drei bis vier Jahre dauerte es, bis ich mich ganz bewusst für die Ehelosigkeit entschieden habe. Ich habe mich dann auch für den Stand der Ehelosigkeit segnen lassen und trage einen Ring, in dem steht: „Jesus first - Markus 12,29-31“. Das ist für mich ein Bekenntnis, dass das mein Leben ausmachen soll – Gott und meinen Nächsten zu lieben. Damit wollte ich vor Gott und mir selbst festmachen: „Ich will ehelos leben und das Beste daraus machen, was man daraus machen kann.“ Heute bin ich sehr glücklich damit und lebe sehr zufrieden und erfüllt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es viele Vorteile hat, Single zu sein: Dass ich dadurch viele Freiheiten und viel Kraft für die Dinge habe, die ich gerne mache und für die Gott mich berufen hat.
 

ERF: Vielen Dank für das Interview.
 

 Ingrid Heinzelmaier

Ingrid Heinzelmaier

  |  Redakteurin

Eine Leidenschaft von Ingrid Heinzelmaier ist einfangen, was Gott rund um den Globus tut: Lebensgeschichten aus allen Kontinenten für „Jerusalem, Samarien und die Welt“ und „Glaube – global“. Außerdem will sie als Redakteurin und Moderatorin mit der Gebetsmotivationsreihe „Beten bringt’s“ anderen Mut machen für ihr persönliches Leben mit Gott.

Ihr Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Alle Kommentare werden redaktionell geprüft. Wir behalten uns das Kürzen von Kommentaren vor. Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.

Kommentare (4)

Petra P. /

Der Beitrag hilft mir sehr zu verstehen wie Homosexualität entstehen und wie sie sich mit einer veränderten Sicht auf die eigene Identität wieder verändern kann. Dadurch kann ich auch Gottes Sicht auf Homosexualität besser annehmen. Vielen Dank dafür!

Norbert /

Eine sehr interssante Geschichte.

Thomas /

Es geht nicht nur um Homosexualität, sondern auch um das Bild des Mannes im Umfeld, um Erwartungen, die die Gesellschaft und Kirche an die Männlichkeit sowie an die Männerrolle stellt. Das gilt mehr

Christian /

Gutes Interview, wie man sie sehr selten in der christlichen Szene findet. Danke für die offenen und differenzierten Worte!

Das könnte Sie auch interessieren