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© Arren Mills / unsplash.com

06.06.2014 / Unheilbar krank / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Redaktion

Gekommen, um zu gehen

Mögliche erste Schritte bei einer todbringenden Diagnose in der Schwangerschaft

In der 14. Schwangerschaftswoche wird bei dem Sohn von Constanze und Tibor Bohg eine unheilbare Hirnschädigung festgestellt. Ohne Vorwarnung sieht sich das Paar vor die harte Frage gestellt, was wirklich das Beste ist für ihr Kind, das nicht lebensfähig sein wird: Austragen oder die Schwangerschaft beenden? Viereinhalb Wochen ringt das Paar mit der Entscheidung. Mit sich selbst. Mit Gott. Dann haben sie Gewissheit: Constanze Bohg wird ihr Kind Julius Felix austragen.

Ihre Erfahrungen schreibt sie in ihrem Buch „Viereinhalb Wochen“ (Pattloch) nieder. Einige der folgenden Gedanken haben sie und ihren Mann zu einer reifen Entscheidung geführt. Allgemeingültige Ratschläge sind sie nicht. Denn der Verlust jedes Kindes ist neu, tragisch und kann keinem Schema folgen. Es sind erste Anhaltspunkte, die der Weg von Constanze und Tibor Bohg aufzeigt.

Entscheiden ohne Druck und Zeitzwang

Sie können sich sicher sein: Der Druck, sein nicht lebensfähiges Kind doch abzutreiben, kommt automatisch. Einige Ärzte raten schnell zu einem Abbruch, denn je früher ein Abbruch stattfindet, desto einfacher ist er. Hinzu kommt vielleicht der Partner, die Familie, Freunde. Und manche sagen: „Das muss doch nicht sein!“ Nein, muss es nicht. Aber es kann. Und vielleicht ist es die beste Lösung, das Kind auszutragen.

Deshalb machen Sie sich frei von den Erwartungen anderer. Sorgen Sie für die Ruhe, die Sie brauchen, um der Frage ins Gesicht zu sehen. Gehen Sie nicht ans Telefon, lesen Sie keine E-Mails, fahren Sie weg. Wenn möglich mit ihrem Partner. Zeitdruck haben Sie keinen.

Es braucht Zeit, eine gereifte Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, auf die Sie auch nach 50 Jahren noch zurückblicken und von ganzem Herzen sagen können: Alles zusammengenommen, war es so am besten.

Mit schlimmen ersten Tagen rechnen

Die ersten Tage nach der tödlichen Diagnose für Ihr Kind sind unvorstellbar. Alles, was Ihnen je Halt gegeben hat, kann in sich zusammenfallen. Ihre Partnerschaft, ihre Freundschaften, nicht zuletzt Ihr Gottesbild. Sie sind wie verrückt, es dreht sich alles im Kopf.

Sie müssen eine Entscheidung treffen, können und wollen aber nicht. All diese Gedanken, all die Gefühle sind normal. Sie sind nicht verrückt, Sie haben schlicht eine übermenschlich große Aufgabe vor sich.

So hart es ist, es bleibt nichts übrig, als der Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie können nicht weg, nicht raus, den Kelch nicht weiterreichen. Sie müssen eine Entscheidung treffen. Niemand anders kann es für Sie tun. Sie können sich aber sicher sein: Irgendwann, nach ein paar Tagen, ist der erste schwere Schock vorbei. Sie werden sich wieder ein wenig fangen und haben wieder Momente, in denen Sie in Ruhe nachdenken können. Dann können Sie sich einer Entscheidung nähern, die trägt.

Psychologische Hilfe in Anspruch nehmen

Kümmern Sie sich nicht um das fragwürdige Verhältnis von uns Deutschen zur Psychologie. Sie befinden sich in einer schweren Ausnahmesituation. Kein Mensch bewältigt das mit links. Und nur wenige alleine. Sie brauchen die erfahrene Sicht von außen. Jemand der Ihnen hilft herauszufinden, was jetzt gut für Sie ist. Alleine sind Sie viel zu voll von unsortierten Gefühlen.
 

Buchtipp: Gute Hoffnung jähes Ende“

Die Autorin Hannah Lothrop hat während der Schwangerschaft ein Kind mit Turner-Syndrom verloren. Das war der Anstoß für die Psychologin, ein Ratgeber-Buch für betroffene Eltern zu schreiben: "Gute Hoffnung jähes Ende".

Das erstmals 1990 veröffentlichte Buch ist neutral und etwas pragmatisch geschrieben. Trotzdem nimmt die Autorin werdende Sterneneltern liebevoll an die Hand und bietet eine Reihe von guten Gedanken, den Verlust des eigenen Kindes durchzustehen.

Es kann gut sein, dass Sie nicht selbst die Kraft haben, einen guten Berater zu finden. Fragen Sie nach, ob Ihr Arzt mit jemandem zusammenarbeitet oder jemanden kennt. Und machen Sie sich keine Gedanken übers Geld. Es gibt Vereine und von Städten und Landkreisen unterstützte Angebote mit Experten, die Sie kostenlos in Anspruch nehmen können.

Ganz klar: Ob die psychologische Beratung hilfreich ist, hängt stark von der jeweiligen Person ab, der Sie sich anvertrauen. Eine Beratung kann auch nichts bringen oder sogar hinderlich sein. Wenn Sie aber ernst genommen werden und spüren, dass Sie richtig sind, ist solch eine Beratung Gold wert.

Kontakt zu anderen verwaisten Eltern suchen

Sie brauchen Unterstützung. Ihre Situation ist aber so außergewöhnlich, dass es nur wenige Menschen gibt, die Ihnen wirklich weiterhelfen können. Ihr normales Umfeld ist ebenso überfordert wie Sie. Die falschen oder gar keine Ratschläge sind nutzlos für Sie. Sie brauchen Menschen, die Sie wirklich verstehen. Die nachvollziehen können, was Sie gerade durchmachen. Menschen, die auch ein Kind verlieren oder schon verloren haben, so genannte Sterneneltern. Von ihnen gibt es mehr als man denkt.
 

Und es gibt eine Reihe von Vereinen, meist gegründet von verwaisten Eltern, die andere Mütter und Väter in derselben Situation unterstützen wollen. Auch gibt es Angebote für Trauernde, die ein guter Ort sein können für Eltern, die ein Kind verlieren. Zum Beispiel angegliedert an den örtlichen Friedhof. Im Internet gibt es Webseiten und Foren, wo man sich die Seele vom Leib schreiben kann und konkrete Hilfestellung und praktische Tipps bekommt. Wo man sich nicht erklären muss, sondern verstanden wird. Es kann gut sein, dass Sie im Kontakt mit diesen Eltern vieles finden, was Ihnen weiterhilft.

Behutsam mit dem Partner umgehen

Ein Kind zu verlieren ist tragisch. Für Sie. Und für Ihren Partner. Ohne Frage, dieses finstere Tal wird zur Belastungsprobe ihrer Beziehung.

Es braucht neue Wege, miteinander umzugehen. Die bisherigen passen oft nicht mehr. Sie brauchen Zeiten, in denen Sie vielleicht stundenlang miteinander weinen. Ebenso wollen Sie oder Ihr Partner auch mal stundenlang allein sein. Manchmal werden Sie viele Dinge besprechen, dann einen Abend lang stumm sein. Die überwältigende Trauer wird zum Dauergast Ihrer Beziehung werden, die nicht nachfragt, ob es gerade passt.

Gehen Sie also behutsam miteinander um. Fragen Sie nach, ob jetzt eine Zeit zum Reden ist oder nicht. Erschrecken Sie nicht, wenn Ihr Partner in Tränen ausbricht, sondern nehmen Sie ihn in den Arm. Lassen Sie Ihrem Partner die Freiheit, die er braucht. Geben Sie einander den Freiraum, dass jeder für sich zu einer gereiften Entscheidung kommen kann. Und gestehen Sie es sich und ihrem Partner ein, wenn Sie den anderen brauchen. Die Zeit ist hart und sie kann lange andauern. Tief drin bietet sie aber die Chance, dass Ihre Ehe vertieft wird und Sie enger zusammenrücken.

Gott nicht loslassen – er tut es auch nicht

Sie brauchen Gott jetzt mehr den je. Und tatsächlich: Ihr Glaube kann Sie durch diese Zeit durchtragen. Es ist aber ganz nor

mal, wenn ihr Gottesbild in 1000 Teile zerschellt und Sie bei null sind. Dieser Prozess kann heilsam sein und Sie frei machen von allem Herkömmlichen, was Sie gelernt haben. An Grundwerten und Überzeugungen von Gesellschaft oder institutionalisierter Kirche und damit oft von Leuten, die noch keine wirklichen Krisen erlebt haben. Mehr und mehr können Sie einen neuen Blick auf Gott bekommen, eine neue Offenheit für ihn und seine Unterstützung.

Nehmen Sie sich Trosttexte der Bibel zur Hand. Die Psalmen, manche Propheten und Hiob sind gute Adressen. Oder das Gedicht „Spuren im Sand“. Gott wird auch schweigen – und vielleicht trotzdem klar machen: Gerade jetzt lässt er Sie nicht los. Mit ihm können Sie das alles durchstehen. Er wird Ihnen nicht den Rücken zukehren, daher müssen Sie es auch nicht.

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