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© Goldmann Verlag

09.03.2011 / Rezension / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Peter Strauch

Die Kunst, kein Egoist zu sein

Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält. So heißt es im Untertitel des neuen Buches von Precht. Peter Strauch stellt es vor.

Lenin kam nur bis Lüdenscheid, eine Aussage, die selbst für Lüdenscheider überraschend sein dürfte. Aber genau so lautet der Titel eines Buches bzw. Films über die Kindheit des Philosophen Richard David Precht. Aufgewachsen in Solingen in einem marxistisch geprägten Elternhaus wurde ihm und seinen Geschwistern die DDR als erstrebenswerter Traum vor Augen gemalt. Folglich gab es nach der „Wende“  1989 ein Problem. Der Traum war geplatzt.

Ho, Ho, Ho-Chi-Minh

Precht erzählt seine Geschichte unterhaltsam und mit einem gewissen Schmunzeln aus dem Blickwinkel des Kindes. Coca-Cola und Comics waren zu Hause verpönt. Ketchup kam nicht auf den Tisch. Wenn er durch Solingen lief, rief er: „Ho, Ho, Ho-Chi-Minh“, denn seine Mutter hatte ihm gesagt: „So kannst du schneller laufen!“ Precht: „Als Kind glaubte ich, dass alle Amerikaner böse sind – mit Ausnahme der Neger.“ Heute kann er mit dem Schema Links-Rechts nichts mehr anfangen. Den Kommunismus hält er für überholt, und der Kapitalismus sei zwar das bisher erfolgreichste Wirtschaftssystem, aber er benötige von Zeit zu Zeit eine gründliche Korrektur. Richard David Precht ist überzeugt, dass sich in unserer Gesellschaft grundlegend etwas ändern muss, aber wie? „Wie kann es sein, dass alle Menschen, die ich kenne, sich für gut halten und es trotzdem so viel Unrecht in der Welt gibt?“ Damit sind wir beim Kernthema seines Buches: „Die Kunst kein Egoist zu sein.“ Im Untertitel: „Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält.“ 

Im Scheitellappen unseres Großhirns...

Richard David Precht ist konsequenter Evolutionist. Folgerichtig beschäftigt er sich im ersten Teil seines Buches mit dem Moralverhalten von Schimpansen und Kapuzineraffen. Zwar seien sie nicht unsere nächsten Verwandten, aber sie zu beobachten gebe wichtige Einsichten in unser Sozialverhalten. Er kommt zu dem Schluss, dass unser Empfinden für Fairness weniger eine Folge unserer Kultur und des menschlichen Überlegens ist, es sei uns bereits von der Natur in die Wiege gelegt. Ohne diese „uralten moralischen Empfindungen“, die wir mit Menschenaffen und Kapuzineraffen teilen, sei die menschliche Moral schlichtweg nicht zu erklären (Sie kann nicht vom Himmel gefallen sein). Auch unsere Weltanschauungen, moralischen Urteile usw. seien eine Folge davon. Precht zitiert in diesem Zusammenhang den amerikanischen Professor Jonathan Haidt (Virginia University): „Vernunft allein gebiert keine Moral. Soziale Gefühle wie: Liebe, Zuneigung, Respekt, Mitleid, Furcht, Unbehagen, Ablehnung, Ekel, Scham usw. kennt unsere Vernunft nicht. Sie weiß nicht, was Gut und Böse ist.“ Konsequenterweise wird die Herkunft der Moral sogar im Körper lokalisiert. Den Gerechtigkeitssinn vermutet Precht im Scheitellappen unseres Großhirns, das Mitgefühl weitgehend im Stirnhirn. Zitat: „Menschen, die keine moralische Intuition haben, weisen häufig Schädigungen im Stirnhirn auf, vor allem in der ventromedialen Region des Schläfenlappens…“ Das erinnert an Forscher, die auch ein „Gottesgen“ in dieser Gegend orten und jegliches spirituell- religiöse Empfinden darauf zurückführen. Was für ein Geschenk, dem gegenüber als Christ zu wissen: Ich bin eine von Gott gewollte, erschaffene  und geliebte Persönlichkeit (1. Mose 1, 27). Allerdings: Die Gemeinschaft mit Gott ist zerbrochen! So mögen wir das Gute zwar erkennen und doch nicht tun (Römer 7, 18+19). Genau diese Diskrepanz zwischen Wollen und Tun ist es, die auch Richard David Precht beschäftigt: „Wir können Phantasien ausbrüten wie eine „Verantwortlichkeit für die Menschheit“, eine „globale Ethik“, eine „universelle Moral… aber das alles steht in keinem Verhältnis zu dem, was wir in unserem Leben tatsächlich spüren, begreifen und folglich umsetzen können.“

Schwarmverhalten und Demokratie-Theater

„Was leitet uns wirklich?“ fragt Precht und kommt (auch im Rückschluss aus Tierbeobachtungen) zu dem Schluss: Unser Schwarmverhalten (Wir ahmen nach, was unsere nächsten Artgenossen tun), die Anerkennung vonseiten anderer (Um gut anzukommen und nicht dumm aufzufallen, sind wir bereit unser Verhalten zu verändern) und unser Selbstbild (Mein Gehirn belohnt mich, wenn ich mich fair verhalte). Folgerichtig geht es im Weiteren darum, wie wir diese Antriebskräfte nutzen können. Precht plädiert für einen sozialen Patriotismus und meint damit unseren „sozialen Instinkt“, unseren Nachahmungstrieb und unser Verantwortungsgefühl für die „Horde“, der wir uns zugehörig wissen.

Man mag das alles für unsinnig halten, aber was dann folgt, ist wirklich spannend und des Nachdenkens wert. Richard David Precht ist davon überzeugt, dass Bürger und Bürgerinnen viel stärker in die Verantwortung genommen werden müssen. Mit der Eigenverantwortlichkeit würden auch die sozialen Antriebskräfte gestärkt. Aber leider ist „aus unserer Demokratie weitgehend ein Demokratie-Theater geworden,“ schreibt Precht. Die Entfremdung von Politik und Bürgern sei heute größer als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Dies zehre unsere Moral auf und damit die Stabilität unseres politischen Systems (Wir fühlen uns nicht mehr verantwortlich). Dabei plädiert Precht keineswegs einseitig für eine sogenannte Basisdemokratie. „Wir brauchen mehr Verantwortung von oben und unten. Ich wünsche mir keine grundsätzlich andere Demokratie, aber wir müssen die gegenwärtige verbessern, um nicht zuzusehen, wie sie ihr eigenes Fundament untergräbt.“

Zeit und Liebe oder Besitz?

Nach Prechts Worten haben wir damit keine Zeit zu verlieren, denn „wenn wir so weitermachen wie bisher, werden die uns nachfolgenden Generationen vor allem mit Überlebensstrategien zu kämpfen haben…“ Nach seiner Beobachtung ist es vor allem eine Wirtschaft jenseits aller moralischer Bindungen, ein radikaler Individualismus und menschenverachtender Wirtschaftsfundamentalismus, der unsere Situation so bedrohlich macht.  Ein Beispiel: Im Jahr 2007 lag das durchschnittliche Jahreseinkommen eines DAX-Vorstands beim 52-fachen (3,33 Millionen Euro) eines normalen Angestellten. Und während im Jahr 1989 kein deutscher Topmanager mehr als eine Million DM im Jahr verdiente, liegt sein Jahresgehalt im Jahr 2007 beim 369-fachen eines Arbeiters. Es ist die Gier (Geiz ist geil), die die Situation so bedrohlich macht, und Richard David Precht beobachtet sie in allen Schichten der Bevölkerung. Er schreibt:  „Für viele Menschen gerät man leicht in den Verdacht, esoterisch oder weltfremd zu sein, wenn man davon redet, dass ein Mehr an materiellem Wohlstand nicht sein muss und nicht sein darf. Man steht als naiv da, als schöngeistiger Idealist. Denn man weiß ja, der Mensch ist eben nicht so. Er ist auf Wachstum programmiert…Doch selbst wenn es stimmen sollte, dass unsere Gier nach Befriedigung uns nie zur Ruhe kommen lässt, so muss das Ziel meines Strebens ja nicht zwangsläufig ein Mehr an Geld und Gütern sein. Wie aus den viel zitierten Statistiken ersichtlich, sehnen sich die Menschen in der Bundesrepublik stärker nach einem Mehr an Zeit, Liebe, Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Zufriedenheit als nach einem Mehr an Besitz…“ Wem fällt da nicht Jesus ein, der in der Bergpredigt sagt: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie Motten und Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist euer Herz!...Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon…Ist das Leben nicht mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?!“ (Matthäus 6). Allerdings befürchte ich, dass auch wir Christen viel stärker von dem beschriebenen Wachstumswahn infiltriert sind, als wir es wahrhaben und auch zugeben wollen. Richard David Precht glaubt an die Wirkung von Vorbildern, auch wenn sie zunächst Unverständnis ernten. Er zitiert Schopenhauer, der davon spricht, dass ein gesellschaftliches Problem zunächst verlacht, dann bekämpft und am Ende von allen als selbstverständlich angesehen wird. Könnte es im Blick auf eine soziale Bewegung authentischer und Jesus nachfolgender Christen nicht ähnlich sein?


 

 Autor: Richard David Precht

 Titel: Die Kunst kein Egoist zu sein

 Untertitel: Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält

 Gebundene Ausgabe: 544 Seiten

 Verlag: Goldmann Verlag (Hier bestellen)

 Preis: 19,99 €

Bild: Goldmann Verlag

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