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© Kelly Sikkema / unsplash.com

05.06.2020 / Andacht / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Die Seele mit auf eine Reise nehmen

Warum manches alte Kirchenlied ein echtes Schätzchen für den Glauben ist.

Vor einigen Jahren besuchte ich gemeinsam mit meiner Mutter einen Gottesdienst, der mit einem Problem begann: Alle waren da – nur der Pfarrer nicht. Er hatte zuvor bereits in einer anderen Kirche einen Gottesdienst zu halten gehabt und es nicht geschafft, pünktlich zu Beginn anwesend zu sein. Küster und Organist lösten die missliche Lage, indem sie kurzerhand einen alten Choral mit vielen Versen singen ließen. Irgendwann im Laufe des Liedes würde der Herr Pfarrer schon eintreffen. So war es auch: bei Strophe sechs oder sieben kam der Geistliche mit großen Schritten und wehendem Talar in den Kirchenraum gelaufen und wir beendeten den Gesang.

Ich muss bis heute schmunzeln, wenn ich an dieses Erlebnis denke – und besonders häufig passiert mir das, wenn ich einen der etwas längeren Psalmen lese. Viele dieser alten Gebete und Lieder aus der Bibel beschreiben ebenfalls über mehrere Seiten, wie Gott in der Geschichte Israels gehandelt hat. Wer weiß, vielleicht brauchten die Leiter der Synagogen damals auch ihre Zeit, um sich für den Gottesdienst vorzubereiten?

Ein musikalischer Spaziergang für die Seele

Spaß beiseite – manchmal frage ich mich, warum aus den Federn biblischer Liederdichter und den Griffeln der Kirchenmusiker ellenlange Texte geflossen sind, während viele der heutigen Lobpreislieder verhältnismäßig kurz sind und aus mehrfachen Wiederholungen bestehen. Allerdings bin ich selbst Kind meiner Zeit und habe offen gestanden Mühe damit, fünf, sechs oder mehr Strophen eines Liedes im doch sehr getragenen Ton und altertümlichem Deutsch zu singen.

Was mich aber an manchen der alten Choräle trotzdem fasziniert, ist die Geschichte, die darin entfaltet wird. Paul Gerhardt nimmt in seinem Lied „Befiehl Du Deine Wege“ die Seele des Sängers mit auf eine ganze Reise zwischen Sorgen, Schwierigkeiten, Zweifeln und Gottvertrauen. Insgesamt zwölf Strophen braucht Gerhardt dafür. In seinem Frühlingslied „Geh aus mein Herz und suche Freud“ verpackt er in fünfzehn Versen einen Spaziergang durch die blühende Natur, staunt über ihre Schönheit und wünscht sich für seine Seele, dass sie genauso aufblüht, wie die Schöpfung um ihn herum.

Auch unsere Zeit heute kennt solche Lieder. Ich denke beispielsweise an „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ von Dietrich Bonhoeffer. Oder, kirchenmusikalisch sozusagen noch ein Baby, der Song „Gott hat uns nicht vergessen“ von Hans Werner Scharnowski und Christoph Glumm.

Wenn ich diese Lieder singe oder ihre Texte lese, erlebe ich, wie auch meine Seele auf eine Reise geschickt wird. Sie lässt sich auf Bilder und Gedanken ein, und ist am Ende dieses Weges oft getröstet oder zuversichtlicher und mutiger als zuvor.

Glaube braucht Geschichte(n) – auch in der Musik

Trösten, Mut machen, Hoffnung und Vertrauen für die Gegenwart wecken – eine ähnliche Absicht hatte sicher auch der Texter und Komponist des 105. Psalms. In 45 Versen lässt er die frühe Geschichte des Volkes Israels vor dem inneren Auge der Zuhörer Revue passieren. Psalm 106 führt diesen Gedankengang dann geschichtlich noch weiter – in 48 Versen.

Ob die Synagogenbesucher damals von dieser Ausführlichkeit immer so begeistert waren? Oder ging es ihnen dabei eher so wie mir, wenn ich diese langen Texte lese: Ich gehe flüchtig darüber hinweg, schließlich sind mir diese alten Geschichten seit dem Kindergottesdienst bekannt und vertraut.

Das ist schade, denn diese alten Texte wollen den Leser nicht mit längst bekannten Geschichten langweilen. Ganz im Gegenteil: Sie wollen zu einer Begegnung mit dem lebendigen Gott einladen. Psalm 105 beschreibt das selbst so:

„Singt und musiziert ihm zur Ehre, sprecht von all den Wundern, die er getan hat! Seid stolz, dass ihr seinen heiligen Namen kennt und anrufen dürft! Von ganzem Herzen sollen sich alle freuen, die den Herrn suchen. Ja, fragt nach dem Herrn und nach seiner Stärke, kommt immer wieder vor sein Angesicht, sucht seine Nähe!“ (Psalm 105, 2-4

Gott da begegnen, wo ich mich an Texten reibe

Ich kann die alten biblischen Texte, die Choräle der letzten Jahrhunderte oder neuere Glaubenslieder als bloße Aneinanderreihung von theologischen, lyrischen oder geschichtlichen Gedankengängen verstehen. Oder ich kann sie als eine Aufforderung für mein persönliches Leben sehen: „Wo findest Du Gott darin? Wo findest Du ihn nicht, weil das Geschriebene nicht Deiner Erfahrung entspricht? Was macht das mit Dir? Wie kannst Du mit Gott über diese Gedanken und Empfindungen ins Gespräch kommen?“

Dann werden alte Psalmen oder auch neuere Lieder plötzlich lebendig. Dann kann meine Seele Gott in ihnen begegnen: staunend, fragend, suchend, hoffend. Dann bekommt meine Seele Impulse, die ihr helfen, den Glauben auch im Alltag zu gestalten und zu leben.

Gar keine Frage: Moderne, geistliche Lieder dürfen kurz und mit vielen Wiederholungen sein. Auch der kürzeste Psalm, Psalm 117, ist ein Loblied und kommt mit genau einer Strophe aus, um über Gott zu staunen und ihn zu loben. Genauso braucht die Kirche, brauchen Gläubige und nach Gott suchende Menschen aber auch Lieder, die die Seele mit auf Reise nehmen und eine Geschichte erzählen. Ich wünsche uns als Christen wieder ganz neu solche Lieder – nicht nur damit der Pfarrer vor seiner Predigt noch einmal kurz durchschnaufen kann, wenn er zu spät kommt. Auch unsere Seele wird es uns danken! 

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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