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27.08.2010 / Interview / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Michael Gerster

Weniger ist mehr: Leben im digitalen Zeitalter

Michael Kelly Suttons Leben passt in zwei Koffer, zwei Kisten – und auf mehrere Festplatten.

ERF.de: Herr Sutton, Sie haben fast Ihren ganzen Besitz verkauft. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Kelly Sutton: Ich habe mich letzten Sommer entschieden, all meine Sachen zu verkaufen. Ich war viel am Reisen, habe in Berlin und New York gelebt und hatte die meisten meiner Sachen in Los Angeles bei Freunden gelassen. Das waren ungefähr zehn Kisten. Als ich dann nach Los Angeles zurückkehrte, konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, was eigentlich in diesen zehn Kisten war. Und da ich vier Monate ohne diese Sachen gelebt hatte, entschied ich mich, alles loszuwerden, damit ich in Zukunft leichter reisen und auch leichter umziehen könnte. 
 

ERF.de: Was sagen Ihre Freunde zu Ihrem neuen Lebensstil?

Kelly Sutton: Viele sind der Ansicht, dass das ganz schön schräg ist. Dann wiederum schauen sie sich die Liste meiner Dinge an, dich ich verkaufen will und sagen: „Hey, ich brauch das. Kann ich das haben?“
 

ERF.de: Haben Sie den Eindruck, dass es im digitalen Zeitalter leichter ist, sich von materiellem Besitz zu trennen?

Kelly Sutton: Auf jeden Fall. Von CDs, DVDs und sogar von Bücher kann man sich leicht trennen, weil es möglich ist, sie nur noch in digitaler Form zu besitzen. Und durch das Internet ist es leichter, Leute zu finden, die genau die Dinge brauchen, die ich nicht mehr haben will.
 

ERF.de: Fehlt es Ihnen nicht manchmal, ein richtiges Buch in der Hand zu halten, anstatt es auf einem elektronischen Lesegerät, einem E-Book-Reader, zu lesen?

Kelly Sutton: Überraschenderweise nicht. Ich dachte zunächst, dass es mir fehlen würde, aber das war nicht der Fall. Wenn ich ein Buch lese, muss ich es nicht als Buch in der Hand halten.
 

ERF.de: Es gibt einige wenige Dinge, die sie behalten haben. Welche sind das und warum haben Sie die nicht auch verkauft?

Kelly Sutton: Ich behalte mein Bett, damit ich schlafen kann und einen Schreibtisch, damit ich von zu Hause aus arbeiten kann. Darüber hinaus habe ich einen Laptop, ein iPad, einen Kindle und noch ein paar externe Festplatten, damit ich all meine Daten speichern kann. Und natürlich Kleider, ich kann ja nicht nackt herumlaufen.
 

ERF.de: Kommt es vor, dass Sie manchmal in einem Geschäft stehen und denken: „Das will ich haben!“?

Kelly Sutton: Ich habe wirklich nur sehr, sehr selten das Verlangen. Ich frage mich immer zwei oder drei Mal: „Muss ich das jetzt wirklich haben?“. Dann löst sich das Problem meist von selbst. Impulskäufe kommen bei mir kaum noch vor. Es gibt nur noch ein paar Dinge, wie zum Beispiel das iPhone. Da wusste ich aber vorher schon, dass ich das kaufen werde.

Natürlich gebe ich immer noch Geld aus, zum Beispiel fürs Reisen oder für ein Konzert. Da geht es allerdings darum, eine Erfahrung zu machen und nicht darum, noch irgendeine Sache zu kaufen und sie in die Wohnung zu stellen.
 

ERF.de: Haben Sie einige der Dinge irgendwann vermisst, nachdem Sie sie verkauft oder verschenkt hatten?

Kelly Sutton: Es gab einige Dinge, die ich aus Versehen verkauft habe, weil ich sie auf meiner Webseite als „Zum Verkauf stehend“ markiert hatte. Als ich diese Sachen dann in ein Paket gepackt habe, um sie zu verschicken, war ich schon ein bisschen traurig. Aber heute kann ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, was das für Dinge waren.
 

ERF.de: Ihr ganzes Hab und Gut passt in zwei Koffer und zwei Kisten. Fühlen sie sich erleichtert oder eher nackt?

Kelly Sutton: Ich fühle mich sehr erleichtert. Denn jetzt, wo ich so wenig besitze, reise ich immer mit leichtem Gepäck. Egal, ob ich für ein Wochenende oder eine ganze Woche verreise. Und wenn ich umziehen muss, dann weiß ich, dass das vielleicht nur 2 Stunden dauern wird.
 

ERF.de: Sie haben eine Webseite, die sich „cult of less“ nennt. Ist das Teil einer Mission? Wünschen Sie sich, dass andere Ihrem Beispiel folgen?

Kelly Sutton: Im Moment mache ich das wirklich nur für mich. Aber mir ist aufgefallen, dass viele Menschen etwas Ähnliches machen. Sie verschenken zum Beispiel fünf Kisten Ihres Besitzes an eine Wohltätigkeitsorganisation. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie verzichten auf ihre Wohnung und leben nur noch aus dem Rucksack. Das wäre mir zu extrem. Nicht, weil ich meine Wohnung so mag, aber ich hätte dann das Gefühl, nicht mehr eigenständig zu sein und damit anderen zur Last zu fallen.
 

ERF.de: Würden Sie sagen, dass Sie jetzt glücklicher sind als vorher?

Kelly Sutton: Auf jeden Fall.
 

ERF.de: Bedeutet weniger Besitz automatisch weniger Sorgen und Ängste?

Kelly Sutton: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube, ich habe dieselben Sorgen und Ängste wie andere Menschen. Allerdings haben sie nichts mit materiellem Besitz zu tun. Für mich ist materieller Besitz nicht so wichtig. Ich glaube, wenn ich etwas von dem, was ich besitze, jetzt verlieren würde, könnte ich das ziemlich gut akzeptieren. Es ist einfach so, dass Dinge manchmal verloren oder kaputt gehen. So ist das Leben einfach.
 

ERF.de: Glauben Sie, dass der Trend, weniger besitzen zu wollen, nur etwas damit zu tun, dass es im digitalen Zeitalter leichter ist, sich von materiellem Besitz zu trennen? Oder ist es vielleicht auch ein Gegentrend zu einer Wohlstandsgesellschaft, in der wir uns in erster Linie durch unseren Besitz definieren?

Kelly Sutton: Ich glaube, es ist beides. Menschen in meinem Alter reicht es, nur noch digitale Dinge zu besitzen. Aber gerade in letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass ausgelöst durch die Wirtschaftskrise, viele Menschen die Nase voll davon haben, immer mehr Besitz anzuhäufen. Denn das meiste davon haben sie auf Pump gekauft. Und jetzt merken sie, dass sie die Kredite nicht zurückzahlen können und Dinge besitzen, die sie nicht wirklich brauchen.
 

ERF.de: Die Dinge, die uns gehören, spiegeln oft unsere Interessen, unsere Wünsche wider und lassen dadurch Rückschlüsse im Blick auf unsere Identität zu. Woran machen Sie Ihre Identität fest?

Kelly Sutton: Ich glaube, meine Generation gewinnt ihre Identität durch das, was sie in digitaler Form besitzt. In den USA besitzen viele zum Beispiel einen iPod und nutzen iTunes. Wenn sie dann auf einer Party sind, nehmen sie einfach mal den iPod von einem anderen in die Hand, blättern die Musiksammlung oder die iTunes-Bibliothek durch und bekommen dadurch ein Gefühl dafür, wer der andere als Mensch ist. Und obwohl das digitale Dinge sind, sind sie immer noch Teil der Identität dieser Person und vermitteln zum Beispiel den Eindruck: „Hey, dieser Typ ist ein Draufgänger!“
 

ERF.de: Herr Sutton, vielen Dank für das Interview.


Michael Kelly Sutton ist Softwareentwickler und lebt in New York. Über die Internetseite cultofless.com hat er fast seinen ganzen Besitz verkauft. Das gibt ihm das Gefühl, frei und abhängig zu sein. Sein Besitz passt in zwei Koffer, zwei Kisten und auf mehrere Festplatten.

Ihr Kommentar

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Kommentare (14)

Brazi /

Nach dem Umzug nach drei Jahren in Deutschland wieder nach Japan kam mir auch diese Idee. Wenn damals nur noch mehr Kommentare digitalisiert gewesen wären, hätten wir weniger Bücher schleppen müssen, vielleicht sogar Platz für Bücherschränke sparen können.Allerdings bin ich nicht der Ordnungstyp.

Bernd Schneider /

"Erwirb, soviel du kannst - spare, soviel du kannst - gib, soviel du kannst", sagte einst John Wesley. Ohne Menschen, die viel besitzen, aber auch viel spenden, gäbe es kein ProChrist, kein mehr

Michael Gerster /

Als Autor des Beitrags noch ein paar Gedanken, warum ich dieses Interview geführt habe: Es ist klar, dass Michael Sutton diesen Lebensstil nicht aus religiöser Überzeugung wählt. Dennoch fand ich es mehr

Michael Döbler /

Klingt nach Tim Ferres 4 Hour Workweek. Netter Gedanke zugegeben , aber sicher nicht mit dem christlichen Menschenbild vereinbar.

Uschi /

Ich gebe Ernst Recht. Was soll dieser Artikel für mich. Ja, als wir umgezogen sind, haben wir uns auch von älteren theologischen Büchern getrennt - fanden guten Absatz. Und wir könnten uns sicher mehr

soundso /

Ich habe auch die Frage, was dieser Artikel mit Gott und dem ERF zu tun hat? Hier ist ja schließlich nicht irgendein Nachrichtenforum. Wie steht es um Michael Kellys Glauben, treibt er Mission? Das wäre interessant

Johann /

Die Bibel gibt es auch in digitaler Form. Außerdem braucht man keine Konkordanz mehr - denn diese ist sozusagen die Suchfunktion aus Papier...:-) An Gott muß man glauben und ihn lieben - man kann ihn nicht "so einfach" besitzen... Den Glauben an Gott soll man versuchen, weiterzugeben...:-)

Ernst /

Wie geht das mit Familie? Wickeltisch, Kindersitz, Kinderbettchen, Spielzeug, Schaukelpferd etc.
Kochgeschirr, Herd und Waschmaschine ...
Alles digital?
Anregend? - Sicher!
Nachdenkenswert? - mehr

Peter /

Ich beziehe mich mehr auf die vorherigen Leserbriefe. Ich habe den Eindruck der Herr Sutton wurde falsch verstanden. Ich habe nicht den Eindruck das ich-bezogenheit bei ihm dahintersteht. Und ich mehr

Bernd Schneider /

Was hat dieser Artikel mit dem ERF zu tun?

marijke /

sorry, aber die kommentare zu diesem bericht verstehe ich gar gar nicht. genial, immer weniger besitzen zu wollen. seit meiner bekehrung mache ich diesen trend auch bei mir aus. mehr als die hälfte mehr

Roesger /

Dieser Bericht - nur schockierend! Dann begreife ich auch endlich, warum ich den Eindruck habe, die Menschen verlieren ihr eigenes Denken und Handeln.
Manipuliert und ferngesteuert! Ich kenne mehr

Alfred A. /

Jetzt, im mittleren Lebensalter, mag das ja alles ganz gut gehen, doch was wird sein, wenn er eine Krankheit - z.B. Zucker - bekommt und weitere Folgeerkrankungen? und regelmäßig Medizin nehmen mehr

Natty /

"Kelly Sutton: Ich glaube, meine Generation gewinnt ihre Identität durch das, was sie in digitaler Form besitzt..."
IST GOTT DIGITAL?

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