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26.09.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Marie-Christin Eckel

„Leute, das ist nicht meiner!“

Seit 17 Jahren nimmt Familie Wolf regelmäßig Pflegekinder auf. Da wird es auch mal abenteuerlich.

Anita und Rüdiger Wolf haben neben ihren drei eigenen Kindern zusätzlich 21 andere Kinder über unterschiedlich lange Zeiträume betreut. Als Bereitschaftspflegefamilie nehmen sie Kinder in akuten Krisensituationen auf. Rüdiger Wolfs Beruf als Pilot wird dabei mehr und mehr zur Nebensache. Ein Interview.

ERF Online: Wie sind Sie zur Bereitschaftspflegefamilie geworden?

Anita Wolf: Vor siebzehn Jahren haben wir eine Freundin unserer Tochter als Pflegekind aufgenommen, weil es der Mutter sehr schlecht ging. Das Mädchen ist für zehn Jahre in Dauerpflege bei uns geblieben. Einige Zeit später hat uns das Jugendamt gefragt, ob wir ein Kind in Tagespflege aufnehmen könnten. Dieses Kind war ein halbes Jahr bei uns. Danach haben wir mit der Bereitschaftspflege angefangen. Es war ein langer Weg, bis wir uns bewusst dazu entschieden hatten.

ERF Online: Wie alt sind die Kinder, die zu Ihnen kommen, und wie läuft die Vermittlung ab?

Rüdiger Wolf: Wir nehmen grundsätzlich Kinder von null bis zwölf Jahren auf. Die meisten sind aber jünger als fünf Jahre. In diesem Alter kommt es in den Familien am meisten zu Problemen. Wir bekommen dann einen Anruf, ob wir die Kapazität für ein Pflegekind haben. Oft muss so etwas sehr schnell entschieden werden. Einmal hatten wir nur eine Vorlaufzeit von zwei Stunden. Es ist auch schon passiert, dass ich von einer Tour nach Hause gekommen bin und wir ein neues Kind hatten. Da hat meine Frau völlig freie Hand. Wenn es geht, versuchen wir das aber vorher gemeinsam abzustimmen.

ERF Online: Aus welchen Gründen wird ein Kind aus seiner Familie genommen?

Rüdiger Wolf: Oft sind es junge, manchmal sogar minderjährige Mütter, die überfordert sind. Andere Eltern haben psychische Erkrankungen. Zum Teil kommen die Kinder auch aus Patchwork-Familien, wo jedes Geschwisterkind einen anderen Vater hat. Da herrschen völlig desolate Zustände. Dann gibt es Fälle von Gewalt und Missbrauch. Vor einiger Zeit bekamen wir ein dreimonatiges Baby mit lebensgefährlichen Verletzungen, das zwei Jahre bei uns geblieben ist. Das war schon sehr schwierig.

„Für die Kinder sind wir die sozialen Eltern“

ERF Online: Für welchen Zeitraum bleiben die Kinder bei Ihnen?

Rüdiger Wolf: Die Kinder bleiben im Schnitt sechs Monate bei uns. Solange dauert es in der Regel, bis ihre Perspektive geklärt ist. Wenn es zu einem Sorgerechtsverfahren vor dem Familiengericht kommt und Gutachten erstellt werden müssen, sind die Kinder auch schnell länger als ein Jahr hier. In einem Fall waren es sogar zwei Jahre. Grundsätzlich ist Pflege immer auf Rückführung in die eigene Familie angelegt. Es kommt darauf an, ob das Jugendamt die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie als tragbar ansieht. Von unseren Pflegekindern sind aber nur etwa vierzig Prozent in die eigene Familie zurückgekehrt. Die anderen gehen in die Dauerpflege.

ERF Online:  Was ist im Umgang mit Pflegekindern anders als bei eigenen Kindern?

Rüdiger Wolf: In die Pflegekinder stecken wir deutlich mehr Energie. Sie kommen aus ganz schwierigen Verhältnissen und sind teilweise traumatisiert. Alle haben Bindungsstörungen. Meistens sehen wir nach einem Monat deutliche Besserungen – allein durch die Tatsache, dass sie in einer normalen Familie mit geregelten Strukturen sind: Aufstehen, waschen, anziehen, gemeinsam frühstücken, das kennen die Kinder oftmals nicht. Da geht es ihnen schon nach kurzer Zeit besser.

ERF Online: Wie vermitteln Sie einem Pflegekind, dass es nur vorübergehend bei Ihnen ist?

Rüdiger Wolf: Das ist ein Spagat. Einerseits sollen wir - soweit das möglich ist – zum Wohl des Kindes eine Bindung zu ihm aufbauen,. Aber auf der anderen Seite müssen wir ihm auch vermitteln, dass das hier nicht die letzte Station ist. Je länger man ein Kind hat, desto mehr wird dieses Kind emotional wie das eigene. Da wird das Abschiednehmen besonders schwer.

Das Schwerste dabei ist aber nicht unsere eigene Trauer, sondern der Gedanke: Was tun wir dem Kind an? Denn für das Kind sind wir die sozialen Eltern. Und wenn es dann gehen muss, nehmen wir ihm die Eltern weg und traumatisieren das Kind wieder. Aber verstandesmäßig wissen wir, dass das der einzige Weg ist, den Kindern zu helfen. Wir können nicht jedes Kind behalten, und nur durch die Bereitschaftspflege können wir Kinder schnell aus desolaten Verhältnissen herausholen.

Pflegeeltern sein ist eine Lebensaufgabe

Ehepaar Wolf mit eigenen Kindern.    © privat

ERF Online: Wie hat sich Ihre Familie dadurch verändert?

Anita Wolf: Von Anfang an war klar, dass wir das nur gemeinsam machen können. Jeder in der Familie muss ein „Ja“ dazu finden. Wenn es für die eigenen Kinder eine Überforderung ist, muss man sich überlegen, was dran ist. Die eigenen Kinder sind in diesem Fall wichtiger.

Rüdiger Wolf: Im Rückblick hat es unseren Kindern sehr gut getan. Wir haben mit drei eigenen Kindern nur drei Kinderzimmer, aber jedes Zimmer ist mit mindestens einem zusätzlichen Bett ausgestattet. Unser Jüngster war vier Jahre alt, als das erste Pflegekind kam. Die Kinder sind damit großgeworden, dass sie auf den Komfort eines eigenen Zimmers verzichtet haben, um einem anderen Kind eine Chance zu geben. Sie haben dadurch viel soziale Kompetenz bekommen und gehen jetzt beruflich selbst in diese Richtung.

ERF Online: Mittlerweile sind Ihre eigenen Kinder erwachsen, aber Sie betreuen weiterhin Pflegekinder. Dazu sind Sie, Herr Wolf, berufstätig und Ihre Frau nimmt andere Betreuungsaufgaben wahr. Wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?

Rüdiger Wolf: Vor einiger Zeit habe ich für die Pflegekinder beruflich auf 80% reduziert. Ansonsten müssen wir uns mit Haut und Haaren auf diese Arbeit einlassen. Sie erfordert viel Organisation und ist eine Lebensaufgabe, die mittlerweile wichtiger ist als mein Beruf. Geistlich gesehen ist das Gottesdienst pur für mich. Das ist Glaube am Montag, obwohl es mit der Kirche gar nichts zu tun hat. Aber wir drehen für die Kinder an den ganz großen Rädern. Es ist einfach toll zu sehen, wenn kleine geschundene Kinderseelen wieder zu leuchten beginnen. Das ist ein ganz tolle Sache.

Vieles muss man mit Humor sehen

ERF Online: Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie in Ihrer Rolle als Pflegeeltern?

Rüdiger Wolf: Es ist eine echt spannende Arbeit, aber sehr herausfordernd. Manche Situationen überschreiten das, was Herz und Kopf aushalten können. Wir haben oft mit ganz schwierigen Familienkonstellationen zu tun, wo wir im Kontakt mit den Eltern jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen. Zum Teil fahre ich auf dem Heimweg Umwege und schaue, dass mir niemand folgt. Manche Eltern sollen nicht wissen, wo ihre Kinder jetzt wohnen.

Ich finde es auch sehr wichtig, dass wir aufeinander aufpassen. Denn die Arbeit ist psychisch und nervlich oft grenzwertig. Wir müssen vom anderen wissen, wo seine Grenzen sind und diese Grenzen respektieren. Anita kann zum Beispiel viel mehr Chaos zuhause ertragen. Ich dagegen kann besser mit schwierigen Situationen bei den Eltern umgehen. Mit der Zeit lernen wir einander und uns selbst immer besser kennen.

ERF Online: Wie geht es Ihnen mit den Pflegekindern in der Öffentlichkeit?

Rüdiger Wolf: Vieles muss man mit Humor nehmen und es darf einem nicht mehr peinlich sein. Ich denke da an einen dreijährigen Jungen, den wir zur Pflege hatten. Auf dem Marktplatz rannte er plötzlich auf einen vollen Mülleimer zu und leckte ihn ab, weil da ein weggeworfenes Eis heraustropfte. Da habe ich über den ganzen Marktplatz geschrien: „Leute, das ist nicht meiner.“

Außerdem haben wir mal einen fünf Tage alten Jungen aufgenommen, dessen Mutter aus Sri Lanka stammte und der ziemlich dunkelhäutig war. Es hat richtig Spaß gemacht, die Reaktionen der Leute zu beobachten, wenn mein Frau mit unserer ältesten Tochter und dem Kleinen unterwegs war. In den Köpfen der Leute ratterte es wahrscheinlich: „Wer ist die Mutter, und was ist da schiefgelaufen?“

Anita Wolf: Der Junge ist nach vierzehn Monaten in eine Pflegefamilie gekommen und ist jetzt sechs Jahre alt. Mit ihm haben wir viel Kontakt. Es ist schön zu sehen, dass es ihm richtig gut geht. Wir sind seine engsten Freunde und gehören zu seinem Leben dazu.

ERF Online: Halten Sie generell den Kontakt zu Kindern, die früher bei Ihnen waren?

Rüdiger Wolf: Das ist unterschiedlich. Wenn die Kinder zu den Eltern zurückgehen, ist meistens kein Kontakt mehr da, weil sie uns als Konkurrenz sehen. Wenn die Kinder in die Dauerpflege gehen, haben wir manchmal noch Kontakt. Wir wissen zumindest, was aus ihnen geworden ist.

Die eigene Motivation prüfen

ERF Online: Was sollte man mitbringen, um Kinder in Pflege zu nehmen?

Rüdiger Wolf: Man sollte ein Herz für Kinder und Erfahrung mit ihnen haben. Auch die Familienplanung sollte abgeschlossen sein. Das genaue Verfahren regelt dann jeder Landkreis für sich. Wir haben uns beim Jugendamt beworben und mussten einen Aufnahmekurs machen. Darin lernt man die wichtigsten Dinge über die Betreuung von Pflegekindern und kann herausfinden, ob das wirklich etwas für einen ist. Manche Paare wollen über die Pflege ihre Familie vervollständigen oder ihren Kinderwunsch erfüllen. Doch es sind nie die eigenen Kinder und man hat immer mit der Herkunftsfamilie zu tun. Das bedeutet viel Arbeit und schwierige Verhältnisse. Steht die Motivation im Vordergrund, den Kindern zu helfen, wird man in so einem Seminar gut ausrüstet. Außerdem bekommt man in der Bereitschaftspflege regelmäßig Schulungen und Informationen.

Anita Wolf: Ich empfehle jedem, der sowohl die Kapazität als auch die Motivation dazu hat, Pflegekinder aufzunehmen. Es ist auf jeden Fall eine Bereicherung für die Familie. Ich würde es jederzeit wieder machen.

ERF Online: Vielen Dank für das Gespräch.

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