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© Jenn Evelyn Ann / unsplash.com

20.09.2018 / Kommentar / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Katrin Faludi

Kinder brauchen Freiräume

Warum wir Kinder frei lassen müssen, damit sie ihrer selbst sicher werden.

Das kleine blaue Fahrrad wackelte und schlingerte. Mein Sohn klammerte sich am Lenker fest, trat eifrig in die Pedale und blickte konzentriert geradeaus. Er fühlte sich sicher, denn Papa rannte ja hinter ihm her und hielt den Gepäckträger fest, damit das Rad nicht umfiel. Dachte er. Tatsächlich hatte Papa losgelassen. Als der Kleine begriff, dass er ganz alleine Rad fuhr und es konnte, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Wir freuten uns mit ihm und genossen seinen Stolz. Aber das war nur möglich, weil wir ihn losgelassen haben.

Natürlich hätte er das Gleichgewicht verlieren und hinfallen können. Er hätte sich verletzen können und wir wären mit ihm darüber traurig gewesen. Radfahren lernen Kinder aber nur, wenn man sie loslässt. Wenn man in Kauf nimmt, dass sie fallen. Sie müssen es allein schaffen.

Wer klettert heute noch auf Bäume?

„Kinder brauchen Freiräume!“ – so lautete einmal das Motto eines Weltkindertages. Dabei ist „Freiräume“ ein weit gefasster Begriff. Ich kann ihn auf den Raum beziehen, in dem Kinder sich frei bewegen können. Solche Räume werden insbesondere in den Städten immer knapper. Laut einer Studie, die 2015 von der Deutschen Wildtierstiftung in Auftrag gegeben wurde, sind 49% der Kinder zwischen 4 und 12 Jahren noch nie selbständig auf einen Baum geklettert. Nachdem ich die Zahl gestern gelesen hatte, habe ich meinen Vierjährigen und seinen Freund, der nachmittags zum Spielen da war, sofort auf das Apfelbäumchen hinterm Haus geschickt.

Laut einer Studie, die 2015 von der Deutschen Wildtierstiftung in Auftrag gegeben wurde, sind 49% der Kinder zwischen 4 und 12 Jahren noch nie selbständig auf einen Baum geklettert.

Früher war so etwas ganz selbstverständlich. Was bin ich selbst auf Bäumen herumgeklettert, während meine Eltern überhaupt keine Ahnung hatten, wo genau ich mich gerade herumtrieb? Gestern aber habe ich schon eine Sekunde lang überlegt: Ob das der Mutter des anderen Jungen überhaupt recht ist, wenn ich ihren Sohn da auf unserem hutzeligen Bäumchen herumkraxeln lasse? Ich habe es drauf ankommen lassen, denn ich kenne seine Mutter gut und weiß, dass sie keine der berüchtigten Helikopter-Mamas ist, die ihren Sprösslingen im Winter morgens die Klobrille warmföhnen (Lachen Sie nicht. Die gibt es wirklich!).

Die wichtigsten Freiräume öffnen sich in Kopf und Herz

Damit kommen wir zu den Freiräumen im Leben unserer Kinder, die ich für wichtiger halte als alle andere. Denn wenn wir ihnen diese Freiräume beschneiden, nehmen wir ihnen automatisch alle weiteren Möglichkeiten, sich im Leben zu entfalten. Ich meine die Freiräume in den Köpfen und Herzen unserer Kinder.

Behandelt eure Kinder nicht zu streng, damit sie nicht ängstlich und mutlos werden! (Die Bibel, Kolosser 3,21).

So ermahnte Paulus die Eltern in der Gemeinde in Kolossä. Nicht nur damals, auch heutzutage neigen Eltern dazu, ihren Kindern zu viele Grenzen zu setzen. Damit meine ich nicht, dass Grenzen ziehen grundsätzlich falsch wäre. Aber jede Beschränkung, die wir unseren Kindern auferlegen, sollte gut überlegt sein. Denn dort, wo eine Schranke zugeht, geht auch ein Freiraum verloren, in dem ein Kind das Leben erproben kann.  

Leben erfordert Raum. Mit jedem Atemzug erweitern wir das Raummaß unserer Lungen. Wenn ein Baby lernt, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, beginnt es, den Raum um sich herum zu erobern. Und wenn mein Sohn eines Tages den Schulweg allein meistert, während er an den Kolonnen der Taxi-Eltern am Schulhof vorbeigeht, weiß ich, dass er sich selbständig im öffentlichen Raum bewegen kann.

Die Kinder auf der Rückbank haben diesen Freiraum nicht. Und das Schlimme: Viele vermissen ihn bestimmt noch nicht mal. Wer zu oft eingeschränkt wird, arrangiert sich damit und verliert oft sogar den Sinn für Freiheit. Wie ein Tier in Gefangenschaft. Mancher Bequemlichkeit liegt in Wahrheit mangelnder Freiraum im Kopf zugrunde.

Wer zu oft eingeschränkt wird, arrangiert sich damit und verliert oft sogar den Sinn für Freiheit. Wie ein Tier in Gefangenschaft. Mancher Bequemlichkeit liegt ihn Wahrheit mangelnder Freiraum im Kopf zugrunde.

Druck von außen vernichtet Freiräume

Freiräume braucht auch das Herz. Ich habe einmal werdende Eltern erlebt, die ihrem ungeborenen Kind schon diverse Charaktereigenschaften zugeschrieben haben. Sie haben das kleine Wesen mit ihren Erwartungen aufgeladen. Ich dachte mir: Lernt euer Kind doch erst einmal in Ruhe kennen! Vielleicht ist es ganz anders als ihr glaubt?

Ich habe selbst erlebt, dass meine Eltern Charaktereigenschaften von mir erwartet haben, die gar nicht in mir angelegt waren. Kinder spüren so etwas. Die einen rebellieren dagegen. Andere geben dem Druck nach, verbiegen sich, werden zu Persönlichkeiten geformt, die gar nicht ihrem ureigenen Wesen entsprechen, und leiden ein Leben lang darunter. Ihnen wird der Freiraum genommen, sie selbst zu sein.

Wer nicht er selbst sein darf, kann sich seiner selbst auch nicht sicher werden. Statt neugierig und mutig seinen Lebensraum zu erkunden, wird er immer zaghaft und vorsichtig agieren. Statt sich zu fragen, was er für richtig hält, wird er versuchen, Erwartungen von außen zu erfüllen und nie seine vollen Möglichkeiten entfalten. Was für eine Verschwendung von Lebenspotenzial!

Wer nicht er selbst sein darf, kann sich seiner selbst auch nicht sicher werden. Statt neugierig und mutig seinen Lebensraum zu erkunden, wird er immer zaghaft und vorsichtig agieren.

Gott stellt unsere Füße auf weiten Raum

Die Freiräume in Kopf und Herz halte ich für die wichtigsten. Denn sie ermöglichen Kindern überhaupt erst, selbstbewusst und sicher genug zu sein, um sich dem Leben zu stellen. Ein Kind braucht Zutrauen in seine Fähigkeiten, Dinge selbst meistern zu können. Ich muss ihm die Möglichkeit geben, Räume zu erobern. Und ich muss es loslassen. Auch auf die Gefahr hin, dass es Wege einschlägt, die ich für falsch halte.

Ein Kind braucht Zutrauen in seine Fähigkeiten, Dinge selbst meistern zu können. Ich muss ihm die Möglichkeit geben, Räume zu erobern. Und ich muss es loslassen.

Gott tut mit uns nichts anderes. Er stellt unsere Füße auf weiten Raum und lässt uns das Leben selbst erfahren. Dabei lässt er zu, dass wir fallen, scheitern und uns weh tun. Wie gute Eltern auch, steht er uns zur Seite, wenn wir beim Raumerobern auf Widrigkeiten stoßen, und ermutigt uns, es noch einmal zu versuchen. Damit wir wachsen und leben.

 

 Katrin Faludi

Katrin Faludi

  |  Redakteurin

In Offenbach geboren, mit Berliner Schnauze aufgewachsen. Hat Medienwissenschaft und Amerikanistik studiert, ist danach beim Radio hängengeblieben. Außerdem schreibt sie Bücher, liebt alles, was mit Sprache(n) und dem Norden zu tun hat und entspannt gerne beim Landkartengucken. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wohnt sie in Bad Vilbel.

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Kommentare (1)

Eva /

Danke Frau Faludi!

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