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06.12.2010 / Säkulare Bestseller im Fokus / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Peter Strauch

Ingrid Betancourt: "Kein Schweigen, das nicht endet"

Sie war über 6 Jahre in Geiselhaft. In ihren Haft-Erinnerungen erzählt Ingrid Betancourt von Hass, Hoffnung und davon, wie sie beten lernte.

„Mit erhobenem Finger kam er langsam näher. Erschrocken folgte ich seinem Blick. Ich drehte den Kopf ein bisschen und erblickte eine riesige conga mit haarigen Beinen und glänzendem Panzer. Sie hatte die Mundwerkzeuge in Angriffsstellung gebracht und verharrte so – wenige Millimeter von meiner Wange entfernt…Es war sicher das Klügste zu warten, bis Marc mich von dem Untier befreite. Was er trotz meines Zitterns langsam und mit Bedacht erledigte. Als seine Finger das Vieh von meiner Schulter schnippten, gab es einen hohen Ton, und es prallte wie ein Geschoss gegen den nächsten Baum…“

Es ist Ingrid Betancourt, die das erzählt. Eine unvorstellbar lange Zeit von 6,5 Jahren verbrachte sie als Geisel im kolumbianischen Dschungel, umgeben von solchen Riesenameisen, Skorpionen, Hornissenschwärmen und anderem Getier. Nach ihrem dritten Fluchtversuch wird sie angekettet. Hilflos ist sie den Schikanen ihrer Bewacher ausgesetzt: „Pepiolo kam mit dem Schlüsselbund…Er öffnete das Schloss und zog die Kette enger um meinen Hals. Ich konnte kaum noch schlucken.“ Quälend langsam verging für sie die Zeit, eine endlose Abfolge von Mahlzeiten und grenzenloser Langeweile. Eindrücklich beschreibt die Autorin, wie sie mehr und mehr jede Antriebskraft verliert. Selbst die gewöhnlichsten Verrichtungen des Alltags fallen ihr unendlich schwer: „Irgendwann hörte ich auf, mich zu waschen. Ich blieb einfach liegen und dachte apathisch: Ich werde sterben.“ Zuletzt muss sie einen erschreckenden Anblick geboten haben. Sie schreibt: „Eines Morgens bemerkte ich den entsetzten Blick eines Mitgefangenen, der vor mir in der Schlange stand. Beunruhigt drehte ich mich um und hielt nach dem wilden Tier Ausschau hinter mir. Doch er sah mich an. Ich hatte ein kleines Bruchstück von einem Spiegel, das ich kaum noch benutzte. Ich konnte darin nur einen kleinen Ausschnitt sehen: ein Auge, die Nase, ein Stück Wange, den Hals. Ich war grün im Gesicht, hatte tiefviolette Augenringe, wie Brillengläser, und meine Haut war trocken…“

Ingrid Betancourt, 1961 in Bogota geboren, studierte in Paris Politik. Mit ihren Kindern kehrte sie 1994 nach Kolumbien zurück und saß als Abgeordnete im Repräsentantenhaus. 2002 ließ sie sich als Präsidentschaftskandidatin aufstellen. Sie sagte der Korruption in ihrem Land den Kampf an und galt auch im Ausland als Hoffnungsträgerin. Doch im Februar 2002 wird sie von der linksgerichteten Rebellenarmee FARC entführt. Mit ihrer Wahlkampfmanagerin Clara Rojas verschleppt man sie tief in den Dschungel. Bis 2008 ist sie in der Hand der Rebellen, eine Zeit, die sich aus wochenlangen Lageraufenthalten und tagelangen Märschen durch den lebensfeindlichen Dschungel zusammensetzt. Ingrid Betancourt schildert diese Geiselhaft mit unglaublicher Präzision. Wie verhält sich ein Mensch in einer solchen Extremsituation? Wie verhalten sich die Gefangenen untereinander? Es ist auch ihre große literarische Begabung, die dieses über 700 Seiten umfassende Buch so lesenswert macht.

Etwa 1,5 Jahre verbringen die beiden Frauen allein in ihrer Gefangenschaft. Dann kommt ein weiterer Gefangener hinzu. Auch er ist Abgeordneter im Repräsentantenhaus und wurde ein halbes Jahr vor Ingrid Betancourt entführt. Später tauchen amerikanische Soldaten auf. Sie sind über dem Dschungel mit ihren Maschinen abgestürzt und nun ebenfalls Gefangene der FARC. Aufgrund der räumlichen Enge kommt es zu Spannungen der Gefangenen untereinander. Ingrid schreibt: „In der Weite dieses Dschungels, in der es an allem fehlte, nur nicht an Platz, beliebte es den Guerilleros, uns auf engstem Raum einzusperren und damit Streit und Ärger anzufachen.“ Und weiter: „Wie in primitiven Gesellschaften wurde der Raum zum unverzichtbaren, grundlegenden Besitz jedes Einzelnen…Wer über mehr Platz verfügte, empfand sich als wichtiger.“

Kaum vorstellbar, wie die Gefangenen ihr Leben fristen, der brütenden Hitze und tagelangen Regenfällen hilflos ausgesetzt. Während des Lagerlebens verbringen sie ihre Zeit auf Plastikplanen und bei den langen Märschen brechen sie unter den Befehlen der Rebellen bereits in der Dunkelheit auf, um bis zum späten Nachmittag durchzumarschieren. Später ist Ingrid Betancourt diesen Märschen nicht mehr gewachsen. Junge Guerilleros übernehmen ihr Gepäck und tragen sie schließlich selbst auf ihren Rücken. Manchmal dauern die Märsche bis zu zwei Monaten - Tag auf Tag. Die einzige Verbindung zur Außenwelt besteht übers Radio, dort erfahren die Gefangenen, was in der Welt geschieht, und ob man weiterhin nach ihnen sucht. Auch Ingrid Betancourt hört auf diesem Weg die Stimmen ihrer Familie, die liebevolle und ermutigende Botschaften an sie richtet. Über eine alte Zeitung, die eher zufällig in ihre Hände kommt, erfährt sie vom Tod ihres Vaters, zu dem sie eine besonders enge Beziehung hatte. Detailleiert beschreibt die Autorin in ihrem Buch Empfindungen, Gedanken und Gespräche während ihrer Geiselhaft. Nicht alle FARC-Mitglieder verhielten sich aggressiv, es gab auch Mitgefühl und eine gewisse Achtung vonseiten der Rebellen.

Immer wieder kommt die Autorin auch auf ihre Gebete zu sprechen. Sie ist katholisch aufgewachsen, allerdings ohne eine persönliche Beziehung zu Gott. Als ihr nach Monaten angeboten wird, persönliche Wünsche zu äußern, bittet sie u.a. um eine Bibel. Wochenlang liest sie darin. Später hört sie im Radio „zufällig“ die Sendung eines Pfarrers von der amerikanischen Westküste. Sie schreibt: „Immer wieder hörte ich in die Sendung hinein, aber ich war sehr skeptisch…Eines Tages jedoch überwand ich mich und hörte ihm wirklich zu. Er analysierte eine Bibelstelle, zu deren Auslegung er mit hoher Sachkenntnis griechische und lateinische Textfassungen heranzog. Jedes Wort erhielt einen tieferen, präzisen Sinn. Es war, als würde er vor meinen Augen einen Diamanten schleifen. Er sprach über einige Verse aus dem zwölften Kapitel des zweiten Paulusbriefes an die Korinther: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig…“ Daraufhin zog ich mich ganz in mich selbst zurück…Ich las, ich hörte Radio, ich meditierte und betrachtete alle Begebenheiten meines Lebens im Licht dieser neuen Erkenntnis. Meine Beziehung zu Gott wandelte sich. Ich brauchte keinen Mittler mehr, um zu ihm zu gelangen, auch keine Rituale…“ Später schreibt sie: „Ich hatte meinen Frieden mit Gott gemacht. Ich hatte gelernt, mein Leid anzunehmen. Ich hasste Enrique (einer der Rebellenführer), aber in gewisser Weise wusste ich auch, dass ich den Hass loslassen konnte…“

Am 2. Juli 2008 wird Ingrid Betancourt - zusammen mit drei US-Staatsbürgern und elf kolumbianischen Soldaten - in einer spektakulären Aktion befreit. Ein als zur FARC gehörig getarnter Helikopter nahm sie auf. Erst in der Luft erfahren die Gefangenen, dass es sich um eine Aktion der kolumbianischen Armee handelt: „Meine Mitgefangenen sprangen in einer Art Siegestanz um die Leiber von Cesar und Enrique (zwei Rebellenführer) herum und stießen laute Schreie aus…Der Hubschrauber wird abstürzen, dachte ich…Ein großer Mann mit einer weißen Kappe stand vor mir. Er hob mich aus dem Sitz und drückte mich an sich, wie ein Bär. „Ich bin Major der kolumbianischen Armee“, sagte er und nannte mir seinen Namen...Ich dankte Gott…Ein tiefer Friede überkam mich. Alles war gut.“

Offen gesagt ging mir beim Lesen dieses Buches immer wieder die Familie Hentschel durch den Kopf. Sie wurde am 12. Juni 2009 im Jemen entführt, zusammen mit zwei Pflegehelferinnen aus Niedersachsen, einem Briten und einer Südkoreanerin. Die beiden deutschen Pflegehelferinnen (Anita Grünwald, Rita Stumpp) und die Südkoreanerin wurden später totaufgefunden. Zwei der entführten Kinder (Lydia und Anna) kehrten im Mai dieses Jahres nach Deutschland zurück. Doch von Johannes und Sabine Hentschel, ihrem kleinen Sohn Simon und dem Briten, fehlt seitdem jede Spur. Viele beten darum, dass auch dieses Schweigen endlich endet und Gott Gewissheit schenkt, was mit ihnen ist – so oder so.


Ingrid Betancourt: Kein Schweigen, das nicht endet
734 Seiten, gebunden Ausgabe
Droemer/Knaur 09/2010
22,99 € bei Amazon.de
 

Ihr Kommentar

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Kommentare (3)

Philippus /

Hallo, eine ganz andere Sicht auf das Buch bietet ein Artikel auf Spiegel-Online.

Ehemalige Farc-Geisel
Betancourt kämpft für ihre Wahrheit:
Sechs Jahre lang wurde Ingrid Betancourt im mehr

Christian Semrad /

Lieber Bruder Strauch! Danke für diese Buchbeschreibung. Ja, Gott kann in Menschenleben hineinsprechen und ER tut es auch heute noch.Dafür können wir Jesus nur danken! Auch wir in unserer Gemeinde in Salzburg beten für Familie Johannes und Sabine Hentschel und für die Angehörigen.

Joachim Knoll /

Danke, Herr Strauch, dass Sie mich auch wieder an Familie Hentschel erinnern und daran, was Menschen Menschen antun können. Hatte schon vergessen zu beten. Ich will mich bessern.

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