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© Alex Boyd / unsplash.com

14.01.2021 / Kommentar / Lesezeit: ~ 3 min

Autor/-in: Andreas Odrich

Hilfe zum Überleben nicht zum Sterben gefragt

Kommentar von Andreas Odrich zur Debatte um denkbare Sterbehilfe in Pflegeeinrichtungen.

 

 

Hochrangige evangelische Theologen haben sich gegenüber der FAZ am Wochenende für die Möglichkeit von Sterbehilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtungen ausgesprochen. Zu ihnen gehören laut FAZ der Hannoverscher Landesbischof Ralf Meister und der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie.

Die Einrichtungen sollten eine „bestmögliche medizinische und pflegerische Palliativversorgung sicherstellen“. Gleichzeitig dürften sie sich aber dem „freiverantwortlichen Wunsch einer Person nicht verweigern, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen“. Damit stellen sie sich nicht nur gegen die offizielle Meinung der evangelischen und katholischen Kirche, es ist auch der völlig falsche Zeitpunkt für diese Debatte, meint Andreas Odrich in seinem Kommentar.
 

Krankenwagen, die mit Corona-Patienten vor der Notaufnahme Schlange stehen, Kühlcontainer und Krematorien, in denen sich Särge stapeln – mitten hinein in diese Bilder kracht die Meldung darüber, dass sich evangelische Theologen eine aktive Sterbehilfe in kirchlichen Pflegeeinrichtungen „durchaus vorstellen“ können.

Federführend der Hannoversche Bischof Ralf Meister und Diakoniepräsident Ulrich Lilie. Ich möchte den beiden nur gute Absichten unterstellen. Zynismus war sicherlich nicht ihr Ziel. Denn es gibt wirklich Menschen, die eine so grässliche Krankheit haben, dass sie nicht mehr können. Diese Menschen kommerziellen Sterbehelfern zu überlassen, ist keine Lösung, da gebe ich Meister und Lilie recht.

Jetzt ist Hilfe zum Überleben gefragt

Und dennoch halte ich diesen Beitrag in der aktuellen Situation verfehlt. Pflegekräfte und Mediziner ringen bis ans Ende ihrer Kräfte um das Leben schwersterkrankter Corona-Patienten, während die Zahl der Corona-Toten klettert. Die Telefonseelsorge berichtet, dass bei ihr die Leitungen glühen, weil Menschen vereinsamen und Angst vor dem Corona-Tod haben. Derweil suchen Impfzentren nach freiwilligen Helfern und die Anmeldehotlines zum Impfen brechen zusammen.

Darüber müsste Kirche diskutieren, das muss jetzt oberstes Ziel sein, um Lösungen zu schaffen und Menschen zu mobilisieren, die helfen, helfen, helfen.

Klarheit tut not

Stattdessen diskutiert Kirche jetzt angestoßen durch zwei führende Repräsentanten über aktive Assistenz beim Suizid. Dankenswerterweise werden dadurch auch Positionen deutlich. Caritas-Präsident Neher distanziert sich von dieser Idee und auch die EKD sieht sich genötigt, klarzustellen, dass sie die Haltung von Meister und Lilie nicht unterstützen kann.

Abgekoppelt von der Wirklichkeit

Was folgt daraus: Auch wenn ich das eine gegen das andere nicht ausspielen möchte – das kirchliche Führungspersonal scheint abgekoppelt von der Wirklichkeit. Angesichts schrumpfender Mitgliederzahlen ist Kirche damit beschäftigt, sich klein zu sparen. Wo bleibt das kirchliche Ja zum Leben, die bundesweite kirchliche Plakat- und Werbeaktion mit einer Hoffnungstelefonnummer und einem Socialmedia-Auftritt, an die sich Menschen in Corona Zeiten wenden können; erschöpfte Eltern im Homeschooling, Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen, Senioren, die unter Einsamkeit leiden.

Jetzt ist es Zeit, den Lebenden beizustehen, den Kranken beim Überleben zu helfen, und den Helfern zu helfen. Und übrigens: Wo bleibt die hitzige kirchliche Debatte um die bessere Bezahlung von Pflegekräften in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen der Diakonie und die Gewinnung neuer Pflegekräfte für einen der ehrenwertesten Berufszweige?

An der Basis viel Engagement

Aber vielleicht braucht es gar keine Kirchenleitung und keinen kirchlichen Apparat. Die Menschen selbst wissen am besten, was zu tun ist. Auch in der Kirche. Da sind Gemeinden und Pflegeeinrichtungen, die mit Fantasie das beste aus der Situation machen, Pfarrer, die ihre Gottesdienste vom LKW aus im freien halten, Seelsorger, die nah bei den Corona-Patienten sind, christliche Künstler, die in Socialmedia-Angeboten für ihr Publikum da sind, oder die christliche Regionalzeitung, die Hoffnungspostkarten verschickt mit praktikablen Tipps, wie wir uns seelisch vor Corona schützen, oder Menschen, die sich als Christen ehrenamtlich in der Pflege engagieren. Die Liste ist Gott sei Dank! lang, wir haben im ERF immer wieder über sie berichtet.

Die letzte Chance für die Institution Kirche

Wahrlich, jetzt ist die Zeit, nicht darüber zu diskutieren, wie wir Menschen beim Sterben assistieren, sondern wie wir Todkranke im Leben halten.

Jetzt braucht es alle Kraft, damit wir uns gegenseitig beim täglichen Überleben mit unseren Sorgen, Nöten und Ängsten engagiert zur Seite stehen in einer Pandemie, die uns letztlich alle überfordert. Damit könnte Kirche noch eine letzte Chance haben – aber hier geht es gar nicht darum eine Institution, sondern darum aktiv Leben zu gestalten und vor allem zu retten.

 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

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Kommentare (4)

Michael S. /

Danke! So ist es. Ich, an ALS erkrankt und noninvasiv beatmeter, sehe das genauso!

Hanne Gr. /

Ja, danke für diese klare Sicht, bzw. Aussage.
Es ist ein großer Kummer, wie immer wieder die Landeskirche, besser "Hirten" (eigentlich) seiner Kirche weggehen von Gottes Wort u.a.m. Bitten wir unseren Gott immer wieder um sein Erbarmen und Eingreifen, aber auch dass wir uns rühren wo es dran ist.

Henning P. /

Danke für diese klare, differenziert argumentierende Ansage! Und ich freue mich, dass der ERF sich so mutig positioniert! Auch innerhalb einer Evangelischen Kirchenlandschaft, in ja schon lange Gottes Wort und Weisungen relativiert werden. - Weiter so!

Gerhard B. /

Ich frage mich: Kennt denn der Landesbischhof Meister die Bibel nicht? Wie kommt ein Gottesmann zu solch einer Einstellung?

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