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17.03.2017 / Interview / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Michael Klein

„Ein Etappensieg für die Sterbehilfe“

Palliativstiftung kritisiert jüngstes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Am 2. März 2017 hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über einen heiklen Fall entschieden. Eine Frau wollte die Genehmigung zum Kauf einer tödlichen Dosis Betäubungsmittel bekommen, um sich selbst zu töten. Die zuständige Behörde verweigerte das. Die Frau ging zum Suizid in die Schweiz. Ihr Ehemann zog die Klage durch alle Instanzen durch und bekam in Leipzig recht. Die Behörde darf unter bestimmten Umständen ein solches Ansinnen nicht abweisen, urteilte das Bundesverwaltungsgericht.
Was dieses Grundsatzurteil für die Praxis bedeutet, darüber hat Michael Klein mit einem medizinischen Fachmann gesprochen. Dr. Thomas Sitte ist Anästhesist und Palliativmediziner und Vorsitzender der Deutschen Palliativstiftung, die sich für die fachlich kompetente Begleitung von Menschen einsetzt, die unheilbar krank sind und große Schmerzen ertragen müssen.

ERF: Herr Dr. Sitte, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes besagt, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht grundsätzlich Nein sagen darf, wenn jemand Narkosemittel haben will, mit denen er sich selber töten kann. Zugleich definiert das Gericht ganz enge Rahmen­bedingungen, unter denen diese Genehmigung erteilt werden soll. Was ändert sich durch dieses Urteil für die ärztliche Praxis?

Dr. Thomas Sitte:
Für die ärztliche Praxis und auch besonders für die Begleitung sterbenskranker Menschen, die schwer leiden, ändert sich überhaupt nichts. Das Gericht hat einen reinen Verwaltungsvorgang überprüft.

Die Frage lautete: Ist hier irgendeine Verwaltungseinheit befugt, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder bestimmte Dinge zu verbieten? Nicht geprüft wurde, ob hier wirklich Bedarf bestanden hat für diese Patientin und ob ein Tiertötungsmittel hätte genehmigt werden müssen. Ein solches Mittel ist für den Gebrauch am Menschen übrigens überhaupt nicht zugelassen. Also brauchen wir diese gerichtliche Entscheidung für die Praxis überhaupt nicht.

Keine Selbsttötung ist totsicher

ERF: Dass ein Mittel aus der Tiermedizin für einen Suizid verwendet werden soll, ging aus der bisherigen Diskussion um das Urteil nicht hervor. Das ist aber doch ein wichtiges Detail, oder?

Dr. Thomas Sitte:
Ja, die sogenannten Sterbehelfer sagen, das sei das sicherste Mittel. Aber es ist ganz klar: Keine Selbsttötung ist totsicher. Es gibt immer ein Restrisiko. Und es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Sterbehilfevereine Dignitas, Exit, Sterbehilfe Deutschland, oder der Sterbehelfer Dr. Arnold sagen: „Am liebsten hätten wir dieses Medikament.“ Aber es werden in Deutschland ständig auch andere Mittel zur Selbsttötung eingesetzt. Deswegen behaupte ich, es gibt gar keinen Bedarf für dieses Medikament.

Es geht nicht darum, Leben zu verkürzen

ERF: Wie beurteilen Sie aus der Perspektive des Palliativmediziners und engagierten Lebensschützers dieses Urteil? Welches Signal hat das Gericht mit dieser Entscheidung in die Gesellschaft ausgesendet?

Dr. Thomas Sitte:
Aus meiner Sicht ist das ein Desaster, ein ganz wichtiges politisches Signal hin zu einer Öffnung für die organisierte geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung. Es ist letztlich auch das, was meine Gegner fordern für die Tötung auf Verlangen, für die Euthanasie in Deutschland, die ja auch in Holland, Belgien, Luxemburg üblich ist. Und was in diesem konkreten Fall völlig unter den Tisch gefallen ist: Man hätte einfach das Sterben zulassen müssen bei dieser Patientin – wie bei vielen anderen auch.

Es geht nicht darum, dass wir Leben verkürzen. Sondern es geht darum, dass wir Menschen, die unter einer Krankheit unerträglich leiden und auch Behandlungen nicht mehr ertragen wollen, palliativ gut begleiten und ihre Leiden lindern. Und wenn sie nicht mehr behandelt werden wollen, müssen wir ihnen auch das ermöglichen. Denn nichts anderes hätte man tun müssen bei dieser Patientin aus Braunschweig, die auch in Hamburg lange behandelt worden ist. Man hätte eigentlich die Beatmung abstellen müssen. Dann hätte sie in Hamburg im dortigen Krankenhaus sterben können. Das hat man widerrechtlich nicht gemacht.

Dieser Umstand ist überhaupt nicht bedacht worden und im Urteil geprüft worden. Gegenstand des Urteils war ja eigentlich eine Straftat. Man hat diese Frau gegen ihren Willen am Leben erhalten. Und jetzt sagt das Bundesverwaltungsgericht, man hätte ihr ein Tiertötungsmittel geben müssen. Das ist für mich völlig absurd.

Anfragen zur Sterbehilfe nehmen ungeheuer zu

ERF: Die Palliativmedizin ist im öffentlichen Bewusstsein noch ein relativ junger Zweig der Medizin - aber ein Zweig, in dem sich inzwischen viele Alternativen auftun. Was wären die Alternativen aus Ihrer Sicht?

Dr. Thomas Sitte:
Also in genau diesem Fall, den ich ein bisschen kenne, weil ich Menschen kenne, die Jahre lang die Patientin begleitet haben, wäre zwingend geboten gewesen, sie nicht gegen ihren Willen zu beatmen. Man hätte ihr ein leichtes Schlafmittel geben können, damit sie keine Atemnot hat. Und dann hätte man die Beatmung nicht weiter fortgeführt.

In den allermeisten anderen Fällen ist es zwingend geboten, dass wir den Patienten ihr Leben erleichtern, ihre Schmerzen nehmen, ihre Atemnot nehmen, ihre Wunden gut versorgen und vieles mehr. Das Ziel wäre, sie wirklich wieder zum Leben zu verleiten. Das Ziel ärztlicher Kunst wäre es, dem Patienten zu ermöglichen, mit viel weniger Stress, mit viel weniger Beschwerden, wieder Luft zu schöpfen und weiterleben zu wollen.

Ich habe schon weit über hundert konkrete Beratungen zur Selbsttötung oder zur Tötung auf Verlangen gemacht, um die Patienten gebeten hatten. Und in all diesen Fällen konnte ich es erreichen, dass die Patienten letztlich gesagt haben: „Aha, so wie es jetzt geht, mit diesen medizinischen Möglichkeiten, da will ich weiterleben.“

Sie hatten ja auch gefragt nach den Folgen des Urteils. Ganz konkret aus meiner Arbeit kann ich sagen: Die Anfragen nehmen derzeit sehr stark zu. Aber das Angebot schafft die Nachfrage. Ich werde jetzt jede Woche mehrfach gefragt: „Ja, kann man denn da nichts machen? Tieren gibt man auch die Spritze. Pferden gibt man den Gnadenschuss. Muss der Mensch so leiden? Wollen wir nicht eine Spritze geben?“

Das ist ein Signal, das von diesem Urteil ausgegangen ist. Ein Signal hin zur geschäftsmäßigen Beihilfe. Ein Signal, dass vielleicht in einigen Jahren auch in Deutschland die Tötung auf Verlangen kommt. Ich möchte das so lange verhindern, wie es nur geht.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 

 

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Kommentare (2)

Peter Puppe /

Richtig, es gibt viele Mittel und mehrere findet man in 'Sanfte Sterbehilfe ohne Arzt. Der sanfte Tod HEUTE.'
Peter Puppe

Alfred A. J. /

Ich denke, dass man Menschen sterben lassen sollte, wenn sie es wirklich wollen, wie auch diese Frau. Man hätte die Beatmung nicht weiter fortführen sollen.
Zudem wird sehr oft nicht bedacht, mehr

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