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© LutzBruno / Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0

03.10.2014 / 25 Jahre Mauerfall – Glaube, der frei macht / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Christen unerwünscht

In der DDR durfte Caritas Führer wegen ihres Glaubens kein Abitur machen.

Trotz guter Noten durfte Caritas Führer kein Abitur machen und wurde zu keinem Studium zugelassen. Einziger Grund: Sie war Christin und ist in der DDR aufgewachsen. Dort wurden viele Christen bereits in der Schule benachteiligt. Bei der Autorin Caritas Führer platzte so der Traum vom Literaturstudium. Sie hat uns erzählt, wieso sie dennoch nicht verbittert ist und wie sie sich diesen Traum doch noch erfüllen konnte.

Wer Christ war, wurde nicht Jungpionier

1957 wird Caritas Führer in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) geboren. Als Pfarrerstochter erlebt sie früh, dass Christen in der DDR nur leidlich geduldet sind. Bereits als Kind bekommt sie bei ihren älteren Geschwistern mit, dass in der Schule Unterschiede zwischen Mitgliedern der Jungpionierorganisation und anderen Kindern gemacht werden. Bei ihrer Einschulung erfährt sie am eigenen Leib, wie stark der Kommunismus als Überzeugung bereits in den Schulen propagiert wird. Daher empfindet Caritas Führer ihre Schulzeit als sehr belastend. Es ist für sie eine Zeit der Angst und der Benachteiligung.

Zum einen stört Caritas Führer, wie die Organisation der Jungpioniere versucht, Schüler für die DDR und den Kommunismus zu begeistern. Eines der Gebote der Jungpioniere macht dies deutlich. Dort heißt es: „Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.“ Die Pionierorganisation führt daher auch den Titel „jüngste Helfer der Partei“. Wer nicht zur Pionierorganisation gehört, erlebt Nachteile in der Schule.

Für Caritas Führer steht schon vor der Einschulung fest: Sie wird keine Jungpionierin. Das bedeutet, dass sie wie ihre Geschwister Nachteile in der Schule ertragen muss. In der Pionierorganisation werden die Kinder nicht nur zum Kommunismus erzogen, sondern auch zum Atheismus. Das wollen Caritas‘ Eltern nicht unterstützen. „Die Pionierorganisation hatte eindeutig das Ziel, Kinder zum Atheismus zu erziehen, zur Abwendung von religiösen Inhalten und zur Abwendung von der Kirche. Es war völlig klar, dass in Pfarrersfamilien Eltern mit ihren Kindern solche Ziele nicht verfolgen konnten und wollten“, erzählt sie im Rückblick.

Caritas Führer als Kind (Bild: Manuela-Kinzel-Verlag)

Die Lüge der Chancengleichheit

Caritas Führers Schullaufbahn beginnt damit, dass sie als Pfarrerskind und Nicht-Mitglied der Pioniere abgestempelt wird. Schon da steht fest: In der DDR wird aus ihr nichts werden. Obwohl sie das weiß, macht Caritas diese offensichtliche Ungerechtigkeit sehr zu schaffen. Es macht sie wütend, dass zwar die Chancengleichheit aller Bürger propagiert wird, aber sie und ihre Geschwister trotz guter Noten benachteiligt werden.

Ein für sie eindrückliches Erlebnis ist, als sie im Klassenzimmer einen Artikel über Chancengleichheit in der DDR sieht. Dem jungen Mädchen platzt förmlich der Kragen. Noch heute ist ihr dieses Ereignis präsent: „Ich betrat das Klassenzimmer und mein Blick fiel auf einen Zeitungsartikel, in dem es darum ging, dass Christen und überhaupt alle in der DDR nach ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten lernen und arbeiten dürfen. Dass also jeder in unserem Staat entsprechend seinen Leistungen gefördert wird. Ich hab das gelesen und in mir ist Wut und Empörung aufgestiegen, weil ich wusste: Das ist Lüge. Meine Schwester war gerade mit einem Durchschnitt von 1,0 für den Besuch der erweiterten Oberstufe abgelehnt worden. Und als ich das las, habe ich laut in unsere Klasse gesagt: ‚Das ist Lüge, das stimmt nicht.‘ Und dann habe ich ohne zu überlegen den Artikel abgerissen.“

Nach diesem Ereignis wird das Mädchen noch in der Schule von der Stasi befragt. Jahre später wird auch sie – wie ihre Schwester ‒ nicht zur Oberstufe zugelassen. Eine Begründung dafür erhalten nur wenige Schüler. Caritas Führer erinnert sich: „Es wurde nicht immer schriftlich begründet. Wer nach der friedlichen Revolution eine schriftliche Begründung aufweisen konnte, hatte Glück, weil er damit eine Rehabilitation beantragen konnte. Im Fall meiner Schwester hieß es nur lapidar: ‚Diese Klasse ist schon besetzt mit Arbeiter- und Bauernkindern, es gibt keine weiteren Plätze mehr.‘ Oftmals gab es auch überhaupt keine Begründung, sondern es wurde oberflächlich gesagt: ‚Diese Schülerin entspricht nicht den gesellschaftlichen Anforderungen‘“.

Trotz guter Noten gedemütigt

Doch damit nicht genug. Auch die Notenvergabe im Schulunterricht der DDR ist nicht immer gerecht. Caritas Führer erinnert sich noch gut daran, dass sich hinter manchen Noten, etwa der Note „Gesamtverhalten“, eine Bewertung der eigenen Positionierung zum Staat verbarg. „Man hatte als Christ eigentlich keine Chance im Gesamtverhalten eine Eins zu bekommen, weil damit bewertet wurde, wie man zum Staat und zur sozialistischen Gesellschaft steht, wie aktiv man bei Jungpionieren oder der FDJ ist, ob man Jugendweihe gemacht hat oder machen will. Das alles versammelte sich unter dem Begriff Gesamtverhalten“, erzählt sie. Auch andere Dinge im Schulalltag stoßen dem jungen Mädchen negativ auf, etwa wie in allen Fächern immer wieder die sozialistische Idee propagiert wird.

Als Kind ist es für Caritas Führer besonders demütigend, dass sie und ihre Geschwister trotz bester Noten nie bei der „Straße der Besten“ ausgezeichnet wurden. Diese spezifische Auszeichnung wird in der DDR nämlich nur an die besten Jungpionieren vergeben, ganz gleich wie gut andere Schüler der Klassengemeinschaft sind. „Da hingen ausschließlich Kinder mit Pionierhalstuch. Das war eben das Groteske. Es konnte sein, dass man als Christ die besten Zensuren hatte, trotzdem wurde man aber nicht als bester Schüler behandelt wurde. Der beste Schüler war dann der Nächstbeste, der in der Pionierorganisation war. Ich habe es als Kind als große Kränkung empfunden, dass ich nie an dieser Tafel hing, auch keiner meiner Geschwister oder Freunde aus dem christlichen Umfeld. Das empfand ich als eine starke Demütigung“, erinnert sie sich.

Hartnäckigkeit zahlt sich aus

Dennoch ist Caritas Führer nicht über ihren Erfahrungen verbittert. Obwohl ihre Kindheit vom schulischen Alltag überschattet war, erinnert sie sich auch an viele schöne Ereignisse mit ihrer Familie und der Kirchengemeinde. Sie sagt heute dazu: „Das war kein enges Leben, wir haben auch eine unerhörte Weite gehabt.“ Nach der Schule wird Caritas Porzellangestalterin und heiratet den evangelischen Theologen Klaus-Michael Führer. Obwohl der Traum vom Literaturstudium ihr verwehrt bleibt, sieht sie ihr Leben als gelungen an.

Ein besonderes Glückserlebnis ist für Caritas, als sie 1981 ein Fernstudium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig machen darf. Doch dies wird nur wegen ihrer Hartnäckigkeit möglich, wie sie sich heute noch erinnert. Denn man brauchte für eine Zulassung entweder die Empfehlung eines sozialistischen Betriebes oder des Schriftstellerverbandes. Aber Caritas gibt nicht auf. Hartnäckig bittet sie einen ihr bekannten Schriftsteller, ihr eine Empfehlung zu schreiben: „Ich habe einen Schriftsteller gekannt und ihn bekniet, dass er mir diese Delegierung schreibt. Und er wollte das nicht. Aber ich habe nicht locker gelassen und dann hat er mir doch drei Zeilen geschrieben, dass er der Delegierung zustimmt.“ Und tatsächlich ‒ Caritas‘ Traum geht in Erfüllung, sie darf studieren. Später erfährt sie, dass dies nur möglich war, weil das Institut verpflichtet war, einen gewissen Prozentsatz an religiös gebundenen Autoren zu nehmen. Durch ihren Glauben, aufgrund dessen sie so oft benachteiligt wurde, kann Caritas nun studieren. Gott hat ihren geplatzten Lebenstraum doch noch wahrgemacht.

Caritas‘ heutige positive Einstellung zu ihrem Lebensweg liegt ihrer Ansicht nach darin begründet, dass sie von Anfang an durch ihre Geschwister wusste, was auf sie zukommt: „Wir haben von Anfang an gewusst, dass das unser Weg ist. Ich denke, das spielt eine wichtige Rolle, wenn man von Anfang an bereit ist, diesen Weg zu gehen. Ich fühle mich auch heute nicht als Opfer oder blicke zurück auf ein defizitäres halbes Leben. Sondern es ist mein Weg, auch mein Weg mit Gott gewesen. Ich kann diesen Weg bejahen, auch wenn ich das System, was den Weg vorgeschrieben hat, nicht bejahe.“

Caritas Führer heute (Bild: Manuela-Kinzel-Verlag)

Ohne Erinnerung keine Zukunft

Doch obwohl Caritas Führer mit ihrer Geschichte Frieden geschlossen hatte, kommt erneut Angst auf, als es um die Einschulung ihrer Kinder geht. Sie sagt selbst: „Es war für uns ein schwerer Gedanke, dass unsere Kinder wieder dasselbe erleben würden. Wir haben damals ernsthaft überlegt, aus der DDR rauszukommen, um der Kinder willen.“ Dennoch bleiben Caritas Führer und ihr Mann in der DDR und tatsächlich ‒ die Mauer fällt, bevor ihre Kinder in die Schule kommen. „Unser Sohn war einer der ersten im neuen Schulsystem“, erinnert sich Caritas Führer. Sie ist heute noch dankbar, dass sie und ihr Mann als Christen und Eltern den neuen Schulalltag mitgestalten und mitverändern konnten. Sie erinnert sich aber auch noch gut daran, wie die letzten Kämpfe durchgefochten werden mussten, bis sich der Machtwechsel endlich auch im Schulbetrieb vollzog.

Nach der Wende setzt für Caritas Führer ein Prozess der Vergebung ein. Sie weiß, ihr ist Schlimmes im DDR-System widerfahren. Sie konnte Chancen nicht nutzen und musste Träume begraben. Dennoch liegt ihr nicht an Rache oder Abrechnung. Sie weiß als Christin, dass nur Vergebung der Weg ist, ihre eigene Vergangenheit zu bewältigen. Das heißt für sie aber nicht zu vergessen, was war: „Wir dürfen einfach nicht vergessen, wie viele tausende von christlichen Kindern in der DDR gelitten haben; Ähnliches oder noch viel Schlimmeres wie ich durchmachen mussten, zerbrochen sind, krank geworden sind, in ihrer Seele geschädigt wurden.“ Um diese Erinnerung wach zu halten, schreibt Führer 1998 mit „Die Montagsangst“ ein Buch über ihre eigenen Schulerfahrungen.

Noch zehn Jahre später – 2009 – äußert sie in einem Interview, wie wichtig Aufarbeitung und Erinnerung ist. „Ich denke, die Zeit, dass darüber reflektiert wird und das aufgearbeitet wird, die ist wahrscheinlich noch nicht da. Es ist einfach noch ein zu kurzer Abstand. Es gibt so viele Themen, die noch unbedingt richtig aufgearbeitet werden müssen– und da brauchen wir Zeit. Wir brauchen die Erinnerung, denn wer keine Erinnerung an die Vergangenheit hat, der hat auch keine Zukunft“, so Caritas Führer. Dieses Credo Führers ist heute noch genauso aktuell und wichtig ‒ 25 Jahre nach dem Mauerfall.


Mehr Erfahrungen von Christen in der DDR auf unserer Projektseite "25 Jahre Mauerfall - Glaube, der frei macht".

 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Sie schätzt an ihrem Job, mit verschiedenen Menschen und Themen in Kontakt zu kommen. Sie ist verheiratet und mag Krimis und englische Serien.

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Kommentare (2)

Jaques L. /

Eine weitere Parallele zum gegenwärtigen System DDR 2.0. Auch heute werden bekennende Christen benachteiligt. Auf vielen Schulhöfen ist Christ ein Schimpfwort. Was mir zudem sofort in der mehr

Libby /

Was die Benachteiligung im Schulsystem betrifft, waren nicht nur Christen benachteiligt. Auch Kinder, deren Eltern Akademiker waren, wurden, um die Elitenbildung zu verhindern, für mehr

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