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09.01.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Nelli Bangert

Das Tempo ist nicht mehr zu bremsen

Warum Produktionen am Sonntag eingestellt werden sollten. Ein Interview mit dem Zeitethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach

Alles wird schneller: Rasante Kommunikation über Smartphone und Email. Die Fahrtzeiten werden gekürzt durch ICEs und Flüge. Permanent werden Prozesse in Unternehmen optimiert und beschleunigt. Doch das hat fatale Konsequenzen auf die Gesellschaft. Immer mehr Menschen leiden an Erschöpfung und Burnout. Wie dieser Kreislauf durchbrochen werden kann, verrät der Jesuit und Zeitethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach im Interview mit ERF Online.

ERF Online: Bringt das unsere Gesellschaft tatsächlich weiter, wenn alles schneller wird? 

Friedhelm Hengsbach: Wenn das Tempo dem persönlichen Lebenstempo moderner Menschen entspricht, dann ist es in Ordnung. Doch es gibt auch Menschen, die unter dem hohen Tempo leiden. Gerade in der Arbeitswelt fühlen sich viele Arbeitnehmer gestresst, weil sie in derselben Zeit die doppelte Menge an Arbeit schaffen müssen. Die Unternehmen sagen den Lieferanten Termine zu, die die Produktion nicht einhalten kann. Die Mitarbeiter leiden dadurch an Schlafstörungen, innerer Unruhe, dauernde Erregung und permanenter Erschöpfung. Viele von ihnen werden ernsthaft krank.

Die Wurzel der Beschleunigung

ERF Online: Wieso steigert sich das Tempo der Gesellschaft immer weiter?  

Friedhelm Hengsbach: Die Finanzmärkte lösen sich stetig mehr von der Realwirtschaft ab und machen damit einen viel größeren Bereich in der Wirtschaft aus. Dazu kommt das Handelsgeschäft an der Börse: Während ein Börsenmakler pro Minute vier bis fünf Geschäfte erledigt, wickeln automatisierte Handelssysteme 100 Millionen solcher Geschäfte ab. In einer Stunde sind das 6 Milliarden, pro Börsentag 60 Milliarden. Börsennotierte Unternehmen geraten unter Zeitdruck und agieren kurzfristig, staatliche Entscheidungsprozesse werden beschleunigt. Diese Beschleunigung überträgt sich dann auf die Arbeitsverhältnisse.

Früher gab es den Einstieg in die 35-Stundenwoche. Ich kann mich noch gut an ein Plakat der 1950-Jahre erinnern, auf dem der Slogan stand: „Samstag gehört Vati mir.“ Das ist alles Vergangenheit. Derzeit beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit 42 Wochenstunden. Dazu ist die Nachtarbeit, Schichtarbeit und Wochenendarbeit gestiegen. Durch die Mehrarbeit geht den Arbeitnehmern immer mehr selbst verfügbare Zeit verloren. Der Leistungsdruck aus der Woche überträgt sich auf den Sonntag und das schafft Spannungen in der Familie. Außerdem steigert sich durch den überhöhten Leistungsdruck auch die Suchtgefahr. Viele Arbeitnehmer konsumieren übermäßig Alkohol und Tabak. Junge Frauen versuchen vor allem durch Medikamente und Aufputschmittel ihre Leistung zu steigern.

ERF Online: Die Konsequenzen des überhöhten Leistungsdrucks liegen offen. Warum reagiert der Staat nicht mit entsprechenden Maßnahmen, um humane Bedingungen zu schaffen?

Friedhelm Hengsbach: Stellenweise versucht der Staat das Tempo auszubremsen. Im Finanzbereich sind ungedeckte Leerverkäufe bereits untersagt. Die Haltefrist der automatisierten Kauf- oder Verkaufsangebote soll um Teile von Sekunden verlängert werden. Kreditvergabegrenzen und Transaktionssteuer dienen dem Ziel, das Tempo der Finanzgeschäfte ein wenig zu verlangsamen. Doch das stößt auf massiven Widerstand der Banken und der Versicherungen.

Der andere Versuch, humane Bedingungen zu schaffen, ist, mehr Teilzeitarbeit anzubieten. Dadurch hätten Arbeitnehmer mehr unbezahlte Zeit für sich zur Verfügung. Doch die Kehrseite ist, dass sie ohne Lohnausgleich weniger Geld hätten um einzukaufen. Doch dies durchkreuzt die Interessen der politischen Mehrheit. Allein über zehn Seiten des Koalitionsvertrages beschäftigen sich mit Wohlstand, was im Grunde Wachstumssteigerung bedeutet. Letztendlich sind Politik und Unternehmen die Zeitdiebe.

ERF Online: Was wäre Ihre Forderung an die Politik?

Friedhelm Hengsbach: Eine drastische, radikale und kollektive Verkürzung der Arbeitszeit. In den vergangenen 100 Jahren ist die Erwerbsarbeitszeit pro Person halbiert worden. Das bedeutete mehr frei verfügbare Zeit für den Einzelnen und seine Familie. Seit Mitte der 90iger Jahre wurde der Trend umgekehrt. Die Menschen werden zu mehr Arbeit genötigt, weil sie sonst zu wenig Einkommen erzielen. Durch den Druck sind sie bereit, sich stärker vermarkten zu lassen und mehr zu arbeiten. 

Sonntags keine Produktion!

ERF Online: Die Menschen arbeiten länger, um finanziell besser dazustehen, haben dadurch jedoch weniger freie Zeit: Inwiefern kann der Sonntag einen Gegenpol zur Arbeit darstellen? 

Friedhelm Hengsbach: Als die Gewerkschaften die kollektive Kürzung der Arbeitszeit durchsetzen wollten, haben die Arbeitgeber als Gegenangebot die Flexibilisierung der Arbeitszeit geboten. Das klang ungeheuer attraktiv, da nun jeder über seine Zeit frei verfügen konnte. Es schien, als könnte man sich dadurch mehr Zeit für Kinder und das zivilgesellschaftliche Engagement gewinnen. Doch wenn jemand individuell freie Zeit hat, ist das noch lange keine Zeit, die er mit anderen verbringen kann. Das Schöne an der kollektiven Ordnung des freien Sonntag ist, dass man diese Zeit mit Freunden zu gemeinsamen Veranstaltungen und Festen verabreden kann. Wenn die Arbeitszeit komplett flexibilisiert wird, ist dies für alle ein Verlust an Lebensqualität.

ERF Online: Wie kann der Sonntag in unserer Gesellschaft einen neuen Stellenwert bekommen?

Friedhelm Hengsbach: Im Augenblick ist das Bundesverfassungsgericht eine der ganz wenigen Institutionen, die dafür sorgt, dass beispielsweise nicht jeder der vier Adventssonntage verkaufsoffen ist. Zurzeit gibt es auch juristische Klagen gegen Städte, die aus jedem beliebigen Grund die Ladenöffnungszeiten auf den Sonntag ausweiten. Natürlich gibt es viele Arbeitsbereiche, in denen auch am Sonntag gearbeitet wird, etwa im Krankenhaus, Gaststättengewerbe oder in Museen. Das ist aber auch in Ordnung. Ich bin der Meinung, dass beispielweise Eis am Sonntag verkauft werden kann, aber nicht am Sonntag produziert werden sollte.

ERF Online: Sie unterscheiden zwischen Arbeit in der Produktion und in der Dienstleistung. Wäre es nicht solidarischer, den arbeitsfreien Sonntag auch in Bereichen der Dienstleistung einzuführen?

Friedhelm Hengsbach: Sonntagsarbeit sollte kein Problem sein, wenn es darum geht, anderen Menschen etwas Gutes zu tun und menschliche Beziehungen zu fördern. Dabei denke ich an kulturelle Angebote wie Theaterveranstaltungen, Konzerte, aber auch sonntägliche Gottesdienste. Schließlich sind diese kulturellen Freizeitangebote eingerichtet worden, damit Menschen die Unterbrechung der Alltagsarbeit am Sonntag genießen können. Am Sonntag sollte vor allem nicht produziert werden, denn das kann genauso auch an den restlichen Tagen geschehen. Dem reinen Profit. Indem Maschinen und Produktionsapparate besser ausgelastet werden, sollte die Sonntagsruhe nicht geopfert werden.

ERF Online: Ich stimme Ihnen zu: Die laufenden Produktionen am Sonntag stellen den Löwenanteil des Problems der Sonntagsarbeit dar. Doch besteht nicht auch für Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich das Problem, dass sie ihre Beziehungen vernachlässigen?

Friedhelm Hengsbach: Das ist ein Abwägungsproblem. Erzwungene Sonntage im Kreis der Familie können ja auch Horror sein. Ich würde unterscheiden, zwischen erzwungener Arbeit oder einer Arbeit, die jemand aus Leidenschaft macht. Ein Musiker hat ein anderes Verhältnis zu seiner Arbeit als eine Kassiererin. Insbesondere für abhängig Beschäftigte ist es nötig, dass sie nach sechs Tagen den Rhythmus unterbrechen und einen Tag frei haben.

Ich arbeite freiberuflich und daher kann ich mir auch meine Arbeitszeit einteilen oder entscheiden, ob ich zu einem Vortrag oder zu einer Diskussion fahre. Es liegt halt an mir, dass ich mir die nötigen Auszeiten reserviere. Meine Rituale am Sonntagmorgen sind Musikhören, Kerzen anstecken und persönliche Briefe schreiben. So gestalte ich meinen Sonntag anders als die Werktage.

„Allzeit verfügbar sein“ fördert nicht die Leistung

ERF Online: Im Land Hessen wurde vor einigen Wochen ein Prozess angestoßen, Videotheken und Call-Center am Sonntag zu schließen. Wie bewerten Sie solche politischen Maßnahmen?

Friedhelm Hengsbach: Das ist sehr positiv. Es gibt ja auch vergleichbare Initiativen, die von der Seite der Unternehmen kommen. Beispielweise haben die Unternehmen Volkswagen und Henkel im letzten Jahr die elektronische Kommunikation zwischen Mitarbeitern zwischen Weihnachten und Neujahr untersagt. Dieses Jahr machen sie es wieder. Daran erkennt man: Die Unternehmen haben ein Interesse daran, dass nicht jeder Tag und jede Stunde völlig gleich angesehen wird, sondern dass es Unterbrechungen im normalen Geschäftsverkehr gibt. Unternehmen tun das, weil sie merken, dass ein „allzeit bereit und ein allzeit verfügbar sein“ nicht die Effizienz der Arbeit fördert.

ERF Online: Was kann der einzelne Bürger tun, damit der Sonntag stärker zu einem Ruhetag wird?

Friedhelm Hengsbach: Ich bin der Meinung, dass der Einzelne die Stärke in sich entwickeln sollte, Nein zu sagen, wenn er zur Arbeit am Sonntag aufgefordert wird. Aber der  Einzelne bleibt relativ ohnmächtig. Er kann sich nur schwer wehren, wenn er unter Druck gesetzt wird. Er hat abzuwägen, ob er sich das „Nein“ erlauben kann und nicht direkt gekündigt wird. 

Friedhelm Hengsbach ist Mitglied des Jesuitenordens und war bis 2006 Professor für Christliche Gesellschaftsethik.

ERF Online: In welchen Bereichen erkennen Sie momentan Bewegung, die dafür sorgt, dass Menschen mehr Zeit frei gestalten können?

Friedhelm Hengsbach: Gelegentlich taucht die Forderung auf, Feiertage und Brückentage zu streichen. Doch sie verschwindet schnell, sobald sich kollektiver Widerstand meldet. Menschen sind einfach froh, dass sie gelegentlich einige Tage haben, die sie frei gestalten können. Politisch Verantwortliche und Konzernchefs sollen nicht beliebig über die Zeit der Mitarbeiter verfügen können. Immer mehr Berufseinsteiger fragen schon beim Einstellungsgespräch, was an Arbeitszeit von ihnen gefordert wird und wie viel Urlaub sie haben. Sie wollen die Arbeitszeit auch um der Familie willen reduzieren. In den jungen Menschen ist etwas lebendig geworden, das in den letzten zehn oder zwanzig Jahren noch kaum da war.

Außerdem haben kürzlich junge Gewerkschaftler von ver.di wieder die kollektive Kürzung der Arbeitszeit auf die Agenda des Bundeskongresses gesetzt. Die älteren Mitglieder haben den Kampf um die Arbeitszeitverkürzung wohl schon aufgegeben. Da ist es gut, dass die nächste Generation das Thema neu anpackt.

ERF Online: Herzlichen Dank für das Gespräch.


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Kommentare (2)

marina l. /

vielen Dank für dieses wichtige Thema:
NEIN sagen ohne schlechtes Gewissen wenn man sein Tempo durchzieht!

Jaques L. /

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