Navigation überspringen
© Gerd Altmann / pixelio.de

16.05.2011 / Gedanken zu den "Neuen Medien" / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Dr. Jörg Dechert

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

Die einzige Konstante ist die Veränderung. Über Chancen und Herausforderungen für Christen im Internetzeitalter

Ich kann den Begriff „Neue Medien“ nicht mehr hören. In meiner Grundschulzeit nannte man so alles vom Overhead-Projektor bis zum Videorekorder (das war das Gerät, bei dem man Filme noch vor- und zurückspielen musste, anstatt einfach zur gewünschten Szene zu springen). Wenn heute jemand das Internet mit dem Begriff „Neue Medien“ belegt, ist das sicher gut gemeint - aber eine folgenreiche Fehleinschätzung. Das Internet ist längst nicht einfach nur eine neue Art von Overhead-Projektor oder Videorekorder. Es ist ein Tsunami, der unsere Gesellschaft in nie gekannter Geschwindigkeit verändert. Es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Das ist keine Übertreibung. Schauen wir uns nur zwei Aspekte dieser Medienrevolution an.

Mobiles Internet

Die ersten Handys ließen sich trotz ihres Namens aufgrund ihres Gewichts kaum in der Hand halten und wurden deshalb meistens in Autos eingebaut. Mit ihnen konnte man nur eins, nämlich telefonieren. Handy und Internet - das hatte nichts miteinander zu tun. Internet war, wenn man sein Modem einschaltete und einen Kaffee aufsetzen ging, bis die E-Mails fertig heruntergeladen waren. Später erfand jemand DSL, und das Internet fing an, Spaß zu machen - aber nur am Schreibtisch. Denn für Handys gab es nur ein „Baby-Internet“ namens WAP das sich ungefähr so flüssig bedienen ließ wie Videotext.

Das hat sich inzwischen radikal geändert. Der kommende Mobilfunkstandard LTE wird eine schnelle Internetanbindung ganz ohne Kabel zur Verfügung stellen und vielleicht sogar DSL ablösen. Cloud Services speichern meine Daten auf einem Server irgendwo auf der Welt, was meine Adressen, Fotos und Filme überall mobil verfügbar machen wird.

Als Apple-Chef Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte, behauptete er großspurig: „Heute erfindet Apple das Telefon neu“. Er hat sich geirrt; Apple hat viel mehr getan als das: Mit dem iPhone hat Apple dem mobilen Internet zum Durchbruch verholfen.

Soziales Netz

Die klassischen Massenmedien Zeitung, Radio und Fernsehen sind nicht sozial. Leserbriefe in der Zeitung, Call-In-Shows in Radio oder TV - der Rückkanal ist minimal. Diese Medien erreichen Massen, aber sozial wird es nur dann, wenn man in der Stammkneipe gemeinsam Deutschland gegen Argentinien schaut.

Auch das Internet war zunächst nicht anders: Obwohl alle Rechner untereinander verbunden waren, waren es deren Nutzer noch lange nicht. In Chats oder Foren konnte man andere Leute treffen - aber nicht die Leute, die man aus dem „echten“ Leben kannte. 2004 hatte Mark Zuckerberg dann die Idee, die „echten“ sozialen Beziehungen zwischen Studenten der Harvard University in einer Internet-Community namens Facebook abzubilden.

Heute wird Facebook von weltweit 600 Millionen Menschen genutzt. An jedem beliebigen Tag ist die Hälfte von ihnen irgendwann mal online. Und immer mehr Menschen sind immer online - die mobile Internetnutzung macht es möglich. Während ich diesen Artikel schreibe, habe ich sechsmal nachgeschaut, was meine Freunde gerade bei Facebook machen und zweimal meinen Status aktualisiert.

Kulturhistorische Umwälzung

Wie kann eine technische Erfindung in Jahrzehnten erworbenes Mediennutzungsverhalten in kurzer Zeit komplett über den Haufen werfen? Das ist nur erklärbar mit einer massiven kulturhistorischen Umwälzung - und diesen Begriff halte ich nicht für übertrieben. Denn der Siegeszug des Internets geht Hand in Hand mit einem Epochenwechsel, der sich durch unsere Gesellschaft frisst.

Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Buch das Leitmedium der Gesellschaft in Europa. Wie jede andere Epoche auch ist diese Zeit - die Vormoderne - von bestimmten Paradigmen geprägt: Autoritäten wie Bürgermeister, Pfarrer oder Lehrer sind im Wesentlichen unhinterfragt, Diskussionen finden innerhalb einer gemeinsamen Tradition statt, die Zugehörigkeit zu Familie und Volk hat einen großen Einfluss auf die persönliche
Identität.

Mit der Massenproduktion Ende des 19. Jahrhunderts kommt die Moderne - und die Massenmedien. Zunächst Zeitungen, später Radio und Fernsehen. Es geht um Effektivität und um Effizienz. Aus Menschen werden Konsumenten - nicht zuletzt Medienkonsumenten. Ein „Medienprodukt“ wird von einem Produzenten „hergestellt“ und durchgestylt und über das Fernsehen effizient an möglichst viele Konsumenten „ausgeliefert“. Mit dem Fernsehbild kommt das Image. Wahr ist, was am besten funktioniert.

Das Internet schließlich ist das Medium der Postmoderne. Wir haben den absoluten Wahrheitsbegriff und die absoluten Autoritäten der Vormoderne inzwischen vollständig aufgelöst. Für mich zählt, was für mich funktioniert. Oder, was die meisten richtig finden - das ist das Wikipedia-Prinzip der „Schwarmintelligenz“. Ich definiere selbst, wer ich bin. Dabei gehören Internet und Postmoderne zusammen wie Deckel und Topf: Diese Epoche musste einfach ein Medium wie das Internet hervorbringen: chaotisch, individualistisch, partizipativ, on-demand.

Tsunami-Warnung

Diese Frage ist bei allen Umbrüchen zwischen den Epochen gestellt worden - aber sie ist heute schwerer zu beantworten als früher. Vor allem deswegen, weil unsere Welt so komplex und so schnell geworden ist: Hat es beim Radio noch 38 Jahre gedauert, die ersten 50 Millionen Nutzer zu gewinnen, hat das Fernsehen dafür nur zwölf Jahre gebraucht und das Internet vier. Facebook braucht für einen Zuwachs um 50 Millionen Nutzer heute keine vier Monate. Die einzige Konstante ist die Veränderung. Das bedeutet: Wer heute aktiv an unserer Mediengesellschaft teilnehmen will, muss lebenslang Lernender sein.

Der amerikanische Zukunftsforscher Roy Amara hat einmal die These aufgestellt, jede technische Entwicklung werde zu Anfang überschätzt aber in ihrer Langzeitwirkung unterschätzt. Für das Internet gilt Letzteres auf jeden Fall. Wie ein Tsunami rollt das Internet die klassischen Medien eins nach dem anderen auf - in der Reihenfolge ihrer Erfindung:

Vor 20 Jahren haben wir Bücher im Buchladen gekauft - heute macht Internetbuchhändler Amazon über 25 Milliarden Dollar Jahresumsatz und verkauft mehr E-Books als gebundene Bücher.

Wo früher die traditionsreiche Tageszeitung auf dem Küchentisch lag, liegt heute ein iPad. „Qualitätsjournalisten“ mögen noch die Nase rümpfen über Internet-Blogger - in den USA gehen ihre Arbeitgeber in Gestalt der großen Zeitungsverlage reihenweise pleite.

Die Musikindustrie hat mp3-Downloadportale wie Napster über Jahre belächelt und unterschätzt - inzwischen geht sie mit harten juristischen Bandagen gegen illegale Tauschbörsen im Internet vor, während Apple mit dem iTunes-Store längst der mit Abstand größte Musik-Einzelhändler in den USA geworden ist. Eigentümer von Fernsehkanälen in Europa glauben heute noch, sie könnten ihren Zuschauern auf Dauer vorschreiben, welche Sendungen sie in welcher Reihenfolge anzusehen hätten. Ein Blick in die USA zeigt: Das lineare Fernsehen und seine Werbekunden kämpfen ein verzweifeltes Rückzugsgefecht. Portale wie Hulu oder Netflix transportieren populäre TV-Serien direkt vom Produzenten zum Zuschauer - on-demand genau zu dem Zeitpunkt, wo man sie auch sehen möchte.

Dass die Filmindustrie mit Macht in 3D-Produktionen investiert, hat unter anderem auch den Grund, dass sie um keinen Preis der Welt die Fehler der Musikbranche wiederholen will - nämlich vom Internet und den damit verbundenen Nutzungsgewohnheiten überrollt und vereinnahmt zu werden.

Jedes Ende ist auch ein Anfang

Vermutlich werden die „neuen Medien“ in zehn Jahren noch mobiler und sozialer vernetzt sein und noch mehr Lebensbereiche durchdrungen haben, die wir heute noch als „Internet-freie Zone“ empfinden. Dann wird man über die Jahre vor und nach der Jahrtausendwende im Rückblick vermutlich sagen: Es war das Ende der Welt, wie wir sie kannten.

Aber es ist auch der Beginn einer neuen Welt - mit neuen Chancen und Möglichkeiten. Auch für die Gemeinde Jesu. Gehen wir sie entdecken? 

Mehr von Jörg Dechert finden Sie auf seinem Blog: www.pixelpastor.com

 Dr. Jörg Dechert

Dr. Jörg Dechert

  |  ERF Vorstandsvorsitzender

Jahrgang 1971, verheiratet, 2 Kinder, promovierter Physiker. Jesusnachfolger, Medienmensch, Innovationsfan, seit 2014 Vorstandsvorsitzender von ERF Medien. Hat sich intensiv mit den Themenfeldern Medien, Leiten und Veränderung auseinander gesetzt. Mag Musik, Cappuccino und wenn Menschen nicht nur überzeugt sind sondern auch inspirierend.

Ihr Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Alle Kommentare werden redaktionell geprüft. Wir behalten uns das Kürzen von Kommentaren vor. Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.

Kommentare (5)

G Weller /

Vielen, ja herzlichen Dank für diesen Überblick der Entwicklung!
Jetzt wäre ein Einführungs-Artikel für die Nutzung der "neuen" Möglichkeiten wünschenswert.
Daß ich erf im Internet so breit mehr

axelino /

Immer schon hat sich der Mensch begeistert neuen Visionen und Ideen in den Arm geworfen. Befreiung winkte so lange, bis das System zum Selbstzweck mutierte. Auch facebook wird sich dem Zugriff von mehr

Rainer Klute /

Wie wahr! Ich bin gespannt, wann unsere Gemeinden das wirklich verstanden haben werden und sich entsprechend darauf einstellen. Der letzte Absatz deutet das ja an.

Anne Gret /

Wirklich authentisch verfasst, dabei nichts ausgelassen, supergut auf den Punkt gebracht!

Rolf Graf /

Sehr gut! Hier ist alles auf dem Punkt gebracht.Danke!

Das könnte Sie auch interessieren