Es war ein ziemlich gewöhnlicher Sonntagnachmittag vor einigen Jahren: Wir sitzen im vertrauen Freundeskreis zusammen und kommen auf Martina* zu sprechen. Wann haben wir sie das letzte Mal im Jugendkreis oder in der Gemeinde gesehen? Vor mehreren Monaten, stellen wir fest. Sie hat – wie ich später erfahre – mit dem Glauben nichts mehr am Hut.
Was mir in dem Moment klar wird, ist mir noch heute präsent: Eine liebe Person aus meiner Gemeinde hatte sich schon seit Monaten - innerlich vielleicht schon seit Jahren - von der Gemeinde und von Gott entfernt und keiner hatte es bemerkt. Wie traurig! Ich frage mich: Warum wendet sich jemand vom Glauben ab? Jemand, der einst mit voller Überzeugung Jesus nachgefolgte. Wie kann so etwas sein?
Dieser Frage ist Tom Bisset auf den Grund gegangen. Der Autor des Buches „Warum jemand nicht mehr glauben kann“ erzählt die Lebensgeschichten von Menschen, die genau diesen Weg beschritten haben. Er analysiert die Hintergründe und stellt fest: Wir können eine Menge daraus lernen. Für den Umgang miteinander, für die Erziehung der Kinder.
Paul – wenn dein Verstand dir eine Grube gräbt
Bisset erzählt die Geschichte von Paul, den er im ersten Jahr seiner Bibelschulausbildung kennen und schätzen lernt. Ein gutaussehender, freundlicher und aufgeschlossener junger Mann, der für Jesus und den Glauben brennt. Er geht in Kneipen, um zu predigen, führt Jüngerschaftskurse durch, betreut junge Christen seelsorgerlich und gewinnt so viele Menschen für Jesus. Nach der Bibelschule entscheidet er sich, Psychologie zu studieren. Sein Ziel: Das Denken der „Welt“ noch besser zu verstehen, um den Menschen noch effektiver das Evangelium erklären zu können.
Doch dann kommt alles anders: Viele kleine Enttäuschungen, Zweifel und unbeantwortete fragen lassen Paul in innere Konflikte geraten. Im Wirrwarr unzähliger Glaubensüberzeugungen weiß er nicht mehr, was er glauben soll. Sein Weg der Abkehr verläuft nicht ohne Kampf, doch letztlich gibt er auf. Er wollte, aber er konnte nicht mehr glauben.
Was ist hier schiefgelaufen?
Bisset schließt aus Pauls Geschichte nicht, dass der Zweifel die Wurzel allen Übels war, sondern die Art und Weise, wie seine Bezugspersonen – Freunde, Eltern, Pastoren – auf diese Zweifel reagierten: mit Herunterspielen der Unsicherheiten oder „christlichen Patentantworten“.
Sein Fazit: „Ja, es stimmt, dass wir uns vor den Gefahren eines zu intellektuellen Glaubens hüten müssen. (…) Aber wir müssen uns auch vor den Gefahren eines Glaubens hüten, der nicht bereit ist, zu denken. (…) Wenn du dir geistlich starke Kinder wünschst, stelle sicher, dass das Denken schwieriger Gedanken über Gott und unser Leben ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens ist, den du weitergeben willst.“
Ich frage mich: Nehme ich die Zweifel meiner Freunde ernst oder leiere ich meine christliche Standardantwort herunter? Beschäftige ich mich mit problematischen Themen des Glaubens und habe ich Antworten darauf?
Susan – wie Enttäuschungen zu Stolpersteinen werden können
Eine weiteres Beispiel von Bisset ist Susan. Als Pastorengattin ist sie die rechte Hand ihres Mannes, die sich mit voller Hingabe in der Gemeinde engagiert. Sie weiß: „Das ist meine Berufung.“ Wenige Jahre nach der Hochzeit beginnt jedoch ein schleichender Prozess der Verunsicherung. Ihr Mann Bill, als Pastor sehr gefragt, ist immer weniger zuhause. Susan steckt zurück.
Auch weitere Dinge entmutigen sie. Sie fragt sich zum Beispiel, warum der Organist bezahlt wird, sie aber keinen Cent bekommt, obwohl sie so oft für ihn einspringt. Das gleiche gilt für die Arbeit im Gemeindebüro. Ihre ganze Kraft und Zeit investiert sie für die Gemeinde und bekommt kaum etwas zurück.
Doch das ist nicht das Hauptproblem: Susan spürt Gott immer weniger, das Bibellesen bringt sie nicht weiter. Enttäuscht und von ihren Gefühlen verwirrt, vereinsamt sie langsam aber sicher. Als erste Depressionen einsetzen, wendet sie sich hilfesuchend an einen Pastor. Seine Antwort: Sie solle mehr Bibel lesen und beten. Dann würde es schon werden. Doch es wurde nicht besser. Es dauerte nicht lange, bis Susan eine Affäre mit einem anderen Mann beginnt.
Bisset erzählt, was aus Susans Leben wurde: „Heute versuchen Susan und Bill die Teile ihres Lebens wieder zusammenzusetzen. Das ist nicht leicht – trotz der Liebe ihrer Familie und gläubiger Freunde und der Hilfe professioneller Seelsorger. Ihre Verletzungen sind tief, und ihre Probleme umfangreiche. Bill ist kein Pastor mehr, zumindest zur Zeit nicht.“
Susan gehört zu denjenigen, die Bisset die „Desillusionierten“ nennt. Sie sind in ihren Erwartungen an das Leben als Christ bitter enttäuscht worden und wenden sich deshalb vom Glauben ab.
Die Gründe verstehen
Paul und Susan sind nur zwei Beispiele von vielen, die Bisset in seinem Buch beschreibt. Jede dieser Lebensgeschichten ist einmalig, jede Person individuell. Dennoch lassen sich bestimmte Muster wiedererkennen. Bisset kommt zu folgender Einteilung:
Ein Mensch wendet sich vom Glauben ab, weil...
- er keine Antworten auf seine Zweifel bekommt,
- seine Erwartungen an ein Leben als Christ enttäuscht werden,
- andere Dinge im Leben wichtiger werden,
- er den Glauben nie für sich selbst in Anspruch genommen hat.
Ein hilfreiches Buch – besonders für Eltern
Die meisten Menschen, die sich vom Glauben abwenden, tun dies im Alter zwischen 13 und 21 Jahren. Aus diesem Grund schenkt Bisset der Kindererziehung besonderes Augenmerk. Er beantwortet Fragen wie:
- Wo ist die Grenze zwischen „Ich gebe alles dafür, dass mein Kind zum Glauben an Jesus Christus kommt“ und „Ich gebe meinem Kind die Freiheit, sich auch gegen Gott zu entscheiden?“
Oder:
- „Wie schaffe ich ein offenes Klima in der Familie, in dem sich mein Kind traut, Fragen zu stellen?“
- „Wie lebe ich meinen Glauben authentisch vor, ohne eine christliche Maske zu tragen?“
Diese und weitere Fragen versucht Bisset zu beantworten, wohlwissend, dass es kein Patentrezept gibt.
Einmal weg, immer weg?
„Warum jemand nicht mehr glauben kann“ ist alles andere als ein deprimierendes Buch. Es schenkt Hoffnung! 85 Prozent derjenigen, die in einem christlichen Elternhaus aufwachsen und dem Glauben den Rücken kehren, kommen eines Tages wieder zurück. Das ist das Ergebnis einer amerikanischen Studie, von der Bisset berichtet. Die Zahl ist keine Garantie, aber sie macht Hoffnung und lässt ein wenig Gelassenheit zu.
Die meisten Rückkehrer berichten, dass ihre christliche Erziehung einen entscheidenden Einfluss auf ihre Umkehr hatte und dass das Gelernte sie nie ganz losgelassen hat. Eine liebevolle Erziehung und das Vorleben des lebendigen Glaubens sind also nie umsonst. Es hat Auswirkungen, auch wenn sie nicht direkt ersichtlich sind.
Letztlich – und das ist das Beruhigende – haben wir es nicht in der Hand, das stellt Bisset ebenfalls heraus. Wir können und sollen andere in ihrer Nachfolge unterstützen und fördern, aber das Herz eines Menschen kann nur Gott verändern. Manchmal lässt er Dinge zu, die wir nicht verstehen. Aber er macht auch das scheinbar Unmögliche möglich.
Ich weiß nicht, wo Martina* heute steht. Ob sie Gott manchmal noch erlebt, noch auf der Suche ist oder ob Gott völlig aus ihrem Leben ausgeklammert hat? Aber ich halte es nicht für abwegig, dass auch Martina irgendwann wieder den Weg zu Gott findet.
Ihr Kommentar
Kommentare (7)
Ich bin nicht enttäuscht vom christlichen Glauben, sondern eher von der Kirche als Institution. Als meine Oma gestorben ist und ich ein paar Minuten Ruhe in einer Kirche suchte, fand ich keine, die … mehrgeöffnet hatte. Wir leben hier im ländlichen Raum im Saarland, überall stehen Kirchen, aber wenn man ins Gespräch mit Gott kommen will, und man dafür einen extra dafür erbauten Raum sucht, muss man auf kleinen, selbst gedruckten Zetteln lesen, wann und wo man dies darf. Als ich dann ein paar Jahre später 180 € im Monat an Kirchensteuer zahlen sollte, weil ich ganz gut verdiene, war für mich die Grenze erreicht und ich bin ausgetreten. Meiner Meinung nach kann der Glaube nicht am Einkommen festgemacht werden, jeder sollte das gleiche Zahlen. Dann kam plötzlich ein Schreiben aus der Pfarrei, warum ich dies tun würde und wenn ich Gesprächsbedarf hätte, wäre man gerne bereit dazu, aber die ganzen vielen Jahre vorher hat mich auch keiner angeschrieben.
Naja. Ich frage mal so: "Welche Kirche lebt noch 100%ig für Gott und seinen Sohn Jesus Christus? Sehr wenige. Ich sehe fast nur noch Lehrgebäude und Diskussionstempel. Das war`s dann aber auch schon.
ja,dem Autor kann ich zustimmen.Ich sag ja immer,mein Verhältnis zu Gott ist das eine und Gottes Bodenpersonal das andere,dort kann sich manch ein Irrtum einschleichen.....jedenfalls ist meine Mutti … mehr- so sagt sie - Atheistin,obwohl katholisch aufgewachsen.Aber sie ist gleichzeitig seit Jahrzehnten Hobbygärtnerin,weil sie ein Bauernkind ist.Da denke ich oft,ihre Seele weiss,wo sie hingehört.Mein Stiefbruder ist Musiker,sagt aber auch,er kann/will nicht an Gott glauben.
Aber gerade Musik hat mir geholfen,die Brücke zu finden zum Glauben.Mancher möchte wohl glauben,aber er fürchtet sich,damit für seine Umgebung zum Gespött zu werden,sich zu isolieren oder ähnliches.
Aber von Liebe träumen fast alle Menschen....meine Erfahrung ist,dazu ist Mensch allein zu schwach,ich brauche Gottes Liebe,um selber treu zu lieben und nicht wegzulaufen,wenn es schwer wird.Schalom ! Dorena
Ich lebe in der ehemaligen DDR und bin zum lebendigen Glauben durch viel Leid gekommen. Ich schrie "Gott hilf mir!" - ER hat geantwortet. Seither habe ich über Evang. Sender, Internet u. … mehrBibelstudienkurse das Evangelium aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Mein Problem:
Durch Gottes Führung bin ich zu Wissen und Erkenntnissen gekommen, die mich im Alltag stärken und schützen.
Jesus sagt: "wenn ihr nicht glaubt wie die Kinder...". Ich war dem Glauben gegenüber unvoreingenommen u. habe wie ein Kind den Glauben annehmen können.
Nun verweist Paulus auch darauf, dass ein Christ eine Gemeinde braucht um geistl. zu wachsen, sich korrigieren zu lassen und er Stärkung für seinen Alltag erfährt.
Aber hier wo ich wohne gibt es nur eine freikirchliche Gemeinde. Ich wäre froh, ich hätte Auswahl an Gemeinden. Ich hörte neulich ein Zitat von einem Bischof, der resigniert feststellte, dass man es oft mit "getauften Heiden" zu tun hat. Das kann ich nur bestätigen.
Es ist sehr wichtig, eine geistige Heimat bei anderen Christen zu finden. Was mache ich, wenn ich keine Möglichkeit habe? Ich fühle mich in der Gemeinde wie ein Kind, das bei seinen Eltern sieht, dass das, was diese sagen und vorleben einen himmelweiten Unterschied ausmacht. Ich bin verwirrt. Ich fühle mich so fremd und nicht angenommen.
Aber eines hat mich Gott auch in dieser Wüstenzeit spüren lassen, dass ER gerade da ganz nah bei mir ist. Lieber falle ich in die Hände des lebendigen Gottes, als in Menschenhände! Jesus lebt
Ja, ich habe es auch erlebt, wie Zweifel und Sorgen mein Leben ruiniert haben. Es mussten sehr viele Dinge passieren, damit ich mein Herz erstmals richtig öffnen konnte. Gott ist immer bei uns, er führt und lenkt wirklich. Das habe ich erlebt und danke ihm herzlich dafür.
mich hat der Einblick in das buch tief berührt, habe ich doch einen schwager, der dem glauben absagte, weil gott gerade an einem weihnachtstag seinen vater sterben ließ, ganz jung, an krebs. und eine … mehrarbeitslosigkeit hat ihn fast in den suizid getrieben. ich werde das buch meinem schwager schenken, vielleicht hilft es. er ist auch nicht kontaktfreudig, so gab es niemandem, zu dem er richtig vertrauen hatte und sich austauschte. - ich möchte "rainer" antworten, daß ich schon meine, daß sich "jemand" von gott abwendet, wenn er nicht mehr in die gemeinde geht. sonst würde er sich doch eine ihn besser verstehende gemeinde suchen???
Von was gehe ich denn bitteschön weg, wenn ich eine bestimmte religiöse Gemeinschaft (Gemeinde X in Y) verlasse, egal ob als junger Mensch oder später? Von Gott? Finde ich ziemlich anmaßend! Gerade … mehrin den USA (dort kommt der Autor ja wohl her) habe ich allein 200 verschiedene protestantische Kirchen!