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20.05.2010 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min

Autor/-in: Michael Gerster

Terror, Bomben und Vergebung

H. Thomas, PR-Chef von Margaret Thatcher, überlebt 1984 ein schweres Bombenattentat der IRA. 14 Jahre später entschließt er sich, dem Attentäter zu vergeben.

Als Harvey Thomas am 12. Oktober 1984 kurz nach Mitternacht zu Bett geht, ahnt er nicht, dass diese Nacht sehr kurz wird. Um 2.54 Uhr explodiert unter dem Bett des PR-Chefs von Margaret Thatcher eine 45 Kilogramm schwere Bombe der IRA, die Margaret Thatcher und ihrem Kabinett gilt. Bei dem Attentat werden fünf Menschen getötet und 27 verletzt, manche tragen lebenslange Behinderungen davon. 14 Jahre später entscheidet sich Harvey Thomas, der vor seiner Zeit als PR-Chef Thatchers lange Jahre die Evangelisationsveranstaltungen von Billy Graham organisierte, dem Bombenleger Patrick Magee zu vergeben.

Am 12. Oktober 1984 ist etwas geschehen, dass ihr Leben auf dramatische Weise verändert hat. Können Sie darüber ein wenig erzählen?

Ich hatte am Vorabend bis etwa 23 Uhr zusammen mit Margaret Thatcher eine Rede geprobt. Gegen 23 Uhr verabschiedete sie sich, da sie sich als Premierministerin noch auf einigen Partys verschiedener Politiker zeigen wollte. Sie sagte mir "Harvey, warum ruhst du dich nicht ein wenig aus. Ich werde gegen 2.30 Uhr morgen früh zurückkommen. Dann können wir noch ein bisschen weiterarbeiten". Das war nichts Ungewöhnliches für Margaret Thatcher. Ich bin dann in mein Zimmer gegangen und habe mich schlafen gelegt. Um 2.30 Uhr ist sie dann mit einigen Kabinettsmitgliedern wieder gekommen, hat sich aber entschieden, nicht mehr zu arbeiten und ist selbst zu Bett gegangen.

Um fünf vor drei explodierte dann eine Bombe der IRA, die sich etwa zwei Meter unter meinem Bett befand. Ich wurde durch das Dach des Grand Hotels Brighton geschleudert und bin dann drei Stockwerke tief runtergefallen und verfing mich in einem Stahlträger. Etwa zehn Tonnen Geröll, Ziegel, Steine und alles aus dem Hotel fielen auf mich drauf. Die ersten fünf Minuten war ich mir sicher, dass ich sterben würde, aber ich wusste, dass ich beim Herrn sein würde.

Was dachten Sie, als Sie unter dem Geröll lagen?

Als mich die Bombe nach oben katapultierte, hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich sterben würde. Es ist schon seltsam, wie der menschliche Verstand in solchen Situationen reagiert. Ich wusste, dass ich beim Herrn sein würde und das wäre ok. Als ich also in die Luft geschleudert wurde, ging mir ein Vers aus der Bibel durch den Kopf: „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“. Ich betete: „Herr, ich glaube, dass ich jetzt nicht viel Zeit habe. Also, wenn es irgendwelche Sünden gibt, die ich noch nicht bekannt habe, würde es dir etwas ausmachen, die jetzt alle wegzunehmen? Ich kann sie jetzt gerade nicht alle aufzählen.“ Dann bin ich runtergeknallt und der ganze Schutt ist auf mich gefallen. Ungefähr fünf oder sechs Minuten später hörte ich den Feueralarm und mir wurde klar, dass ich jetzt einfach nur liegen bleiben musste, denn früher oder später würde jemand kommen und mich aus all dem Schutt befreien.

Allerdings war es so, dass meine Frau in jenen Tagen ihr erstes Kind erwartete. Es hätte jeden Moment kommen können. Die Sorgen, die ich mir machte, galten deshalb ihr und dem ungeborenen Kind. So lag ich also da und betete für Marlies und das Baby und nicht für mich. Ich wusste, wo ich hingehen würde, aber ich wusste auch, dass das bedeuten würde, dass sie ohne Ehemann und Vater wären. Knapp drei Stunden später haben mich die Feuerwehrleute dann rausgeholt und mich ins Krankenhaus gebracht. Ich bin eine sehr stattliche Person, sie mussten mich zu siebt runtertragen. Sie scherzten: „Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir zuerst jemand anderen gerettet." In diesen dramatischen Stunden gab es also auch das ein oder andere, über das ich schmunzeln musste. Insgesamt aber war es eine sehr schreckliche Situation, denn fünf Menschen kamen ums Leben, 27 wurden verletzt.

Vierzehn Jahre später haben Sie sich entschieden, dem Bombenleger zu vergeben. Wie kam es dazu?

Ein Jahr nach dem Bombenattentat wurde ein Mann namens Patrick Magee festgenommen, weil am Tatort der Abdruck eines kleinen Teils seiner Handfläche gefunden wurde. Sie haben ihn dann in Glasgow, Schottland aufgespürt. Er wurde vor Gericht gestellt und für fünf Morde und drei versuchte Morde verurteilt und zu einer achtfachen, lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

1997, also 13 Jahre nach dem Bombenanschlag also, nahm ich an einer Versöhnungs-Konferenz in Coventry teil. Es ging darum, Erlebnisse auszutauschen, die deutlich machen, wie Vergebung in Christus möglich ist. Ein Jahr später fand diese Konferenz dann in Kentucky, USA, statt. Ich wurde eingeladen, um etwas aus europäischer Perspektive zum Thema Versöhnung zu erzählen.

Als ich dann in einer Kirche zu einer Gruppe von etwa 1.500 Menschen sprach, fühlte ich mich plötzlich von Gott auf eine ganz tiefe Weise überführt. Denn ich sprach und lehrte über das Thema Vergebung, ohne es selbst praktiziert zu haben. Und das ging so tief, dass ich mitten in meinem Vortrag innehielt und zu den Zuhörern sagte:

„Mir ist bewusst geworden, dass ich, eigentlich ein Heuchler bin, weil ich bisher keinen Versuch unternommen habe, um mich mit dem Mann zu versöhnen, der vor 14 Jahren eine Bombe unter mein Bett platziert hatte. Aber ich entschließe mich jetzt, dass ich das tun werde, bevor diese Konferenz zu Ende ist.“ Ich bin dann zurück nach London und habe meiner Frau erzählt, dass ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass ich Patrick Magee vergeben und mich mit ihm treffen soll. Zuerst hatte sie ihre Zweifel. Aber wir haben dann als Familie - wir hatten mittlerweile zwei wunderbare Töchter – dafür gebetet und kamen zu dem einstimmigen Ergebnis, dass ich diesen Schritt wirklich gehen sollte.

Wie ging es dann weiter?

So habe ich also einen Brief an ihn geschrieben. Er war zu dieser Zeit in Nordirland im Gefängnis, seit 13 Jahren. Ich schrieb ihm also, dass ich ihm als Christ vergebe, was er getan hat. Ich sagte, dass ich das aber nur für meinen Teil tun könnte und kein Recht hätte, das für irgend jemand anderen zu tun, der verletzt worden war oder gar einen Verwandten verloren hat. Er schrieb mir einen tiefgründigen, dankbaren Brief aus dem Gefängnis. Er sah zwar Manches anders, bedanke sich aber sehr, dass ich mir die Mühe gemacht hatte, ihm zu schreiben. Patrick Magee ist ein sehr studierter Mensch, hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaft. Von seiner Art her ist er sehr nachdenklich und auch kein aufbrausender, gewalttätiger Mann. Wir sind mittlerweile gute Freunde geworden.

Im Jahr 2000 wurde er mit anderen IRA-Gefangenen im Rahmen des Karfreitag-Abkommens begnadigt. Wir hatten bis dahin zwei Mal per Brief kommuniziert und ich schrieb ihm, dass ich ihn gern treffen würde. Wir haben uns dann in Dublin, Irland, getroffen und haben über vier Stunden geredet. Wir haben uns sehr gut verstanden.

Er konnte nicht verstehen, warum ich ihm vergeben wollte. Seine Logik war: „Vier meiner Freunde wurden von der britischen Armee umgebracht. Sie waren unbewaffnet. Wir wurden von den Briten schrecklich behandelt – und das 200 Jahre lang. Deshalb habe ich mich entschieden, mich der IRA anzuschließen und gegen die britische Regierung in den Krieg zu ziehen. Als ich das Hotel in Brighton im Blick hatte, habe ich nicht gedacht, ’Prima, ich kann jemand töten!’". Er verglich sich mit dem Kapitän eines U-Bootes, der durch das Periskop schaut, einen Flugzeugträger sieht und sich dann sagt: „Unser Job ist es, diesen Flugzeugträger zu versenken." Aus diesem Grund hat er das Hotel in die Luft gejagt. Es war mir eine enorme Hilfe, all dies mit Pat über die Jahre zu diskutieren. Es hat mir geholfen, das Konzept von Vergebung und Versöhnung zu verstehen. Und obwohl er diese Verbrechen begangen hat, ist er von seiner Art her weniger aggressiv als viele Menscheln in christlichen Kreisen, er ist ein sanftmütiger, ruhiger Typ.

Es hat also 14 Jahre gedauert, bis Sie ihm Ihre Vergebung ausgesprochen hatten. Wären Sie auch früher dazu bereit gewesen?

Es ist mir nie in den Sinn gekommen. Aber als es dann „Klick" gemacht hat, war mir sofort klar, dass die Bibel ja auch lehrt zu vergeben. Sogar im Vaterunser. Viele Menschen haben mir in den Jahren danach geschrieben und gesagt: „Ist dir nicht klar, dass es keine Vergebung ohne Buße geben sollte?" Dazu möchte ich zwei Dinge sagen: Zuallererst: Pat tut es unendlich, was er an Leid und Schmerz verursacht hat. Aber ich weiß, dass er zu dem Zeitpunkt und in dem geschichtlichen Kontext, in dem er sich befand, keine andere Option sah, als die Herangehensweise eines Guerillakriegs.

Aber es tut ihm sehr leid. Er hat darüber in unserer Gegenwart auch oft geweint, wenn es um den Schmerz ging, den er verursacht hat und hat sich auch viele Male dafür entschuldigt. Aber davon einmal abgesehen: Die Bibel sagt nicht, dass vor der Vergebung die Buße kommen muss. Wenn wir Vergebung von Gott bekommen wollen, dann muss es vorher eine Umkehr geben. Was die Vergebung von Menschen untereinander anbelangt, gibt es aber keine Voraussetzung. Es heißt vielmehr einfach: Geh und vergib! Wenn dein Bruder sündigt, vergib ihm sieben mal sieben.

Manche gläubige Protestanten in Nordirland würden den Weg der Versöhnung so nicht gehen. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, wie über zentrale Themen des Glaubens innerhalb einer Kirche oder christlichen Gemeinschaft gelehrt und gepredigt wird. Diesen Auslegungshorizont zu verlassen, ist schwierig. Und doch schaffen es manche Christen. Sie legen das Evangelium anders aus und leben es vor allem anders. Wie zum Beispiel in Ihrem Fall im Hinblick auf das Thema Vergebung. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass manche Menschen eine Stufe geistlicher wären als Andere. Ich glaube nicht, dass Menschen, die es schaffen zu vergeben, in irgendeiner Weise geistlicher sind. Gott hat einen jeden von uns total einzigartig gemacht. Eine beachtenswerte Leistung, wenn man an die Milliarden Menschen denkt, die durch die Jahrtausende hindurch gelebt haben. Gott sagt uns in der Bibel, dass jeder von uns unterschiedliche Gaben und Charaktereigenschaften hat. Paulus sagt: „Wenn es möglich ist, lebt ihn Frieden miteinander." Daran kann man sehr gut ablesen, dass Gott dem Menschen einen freien Geist gegeben hat und damit die Möglichkeit, sich frei entscheiden zu können.

Ende 2009 hat jemand während einer Veranstaltung Patrick Magee gefragt, ob er heute ebenso handeln würde wie damals. Normalerweise, wenn wir in der Vergangenheit diese gemeinsamen Veranstaltungen hatten, hat er gesagt: „In den speziellen Umständen, wie wir sie damals hatten, hatten wir keine andere Möglichkeit gesehen. Ich denke deshalb, ich müsste es wohl wieder so tun." Für diese Aussagen wurde er immer wieder kritisiert. In diesem letzten Meeting 2009 sagte er aber Folgendes: „Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass wir nicht im Stande sind, uns in die Zeit zurück zu versetzen und deshalb auch nicht sagen zu können, was wir tun würden, wenn wir noch einmal vor der gleichen Entscheidung stünden. Es ist einfach nicht möglich." Das war eine ehrliche Antwort. Dann wurde ich gefragt: „Hätten Sie die Kraft gehabt, zu vergeben, wenn Ihre Frau in dem Anschlag ums Leben gekommen wäre?" Meine Antwort dazu: „Ich weiß es nicht." Und ich kann auch nicht so tun, als ob ich das wüsste. Es wäre nett, zu sagen: „Aber natürlich. Gott hat uns ja gesagt, dass wir vergeben sollen."

Aber wir sind Individuen, wir sind nun mal alle unterschiedlich. Gott hat uns so geschaffen. Und wir machen alle Fehler - bewusst oder unbewusst. Wir sind alle von Geburt her Sünder, aber unsere Sünden sind uns vergeben und zwar in dem Moment, wo wir Christus als Retter akzeptieren. Trotzdem werden wir weiter Fehler machen, werden mal unsere Fassung verlieren, werden wütend sein - egal wie sehr wir uns bemühen. Und ich kann niemals einen anderen Christen oder Nichtchristen dafür kritisieren, dass er nicht vergibt. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn Marlies bei mir gewesen und ums Leben gekommen wäre. Ich weiß es einfach nicht.

Foto: Harvey Thomas privat

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Kommentare (1)

groove68 /

Film zum Thema
Facing the Enemy.
Begegnung Patrick Magee mit Jo Berry, der Tochter des Ermordeten.
http://www.realeyz.tv/de/paul-mcguiganfacing-the-enemy_cont3027.html
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