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26.11.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Ingrid Heinzelmaier und Christine Keller

Europäisches Versagen?

Warum die Ursachen der Flüchtlingskrise stärker analysiert werden müssen.

Sie beschäftigt uns schon seit Monaten und wird es vermutlich noch jahrelang tun: Die Flüchtlingskrise. Viele Menschen fliehen vor Krieg und Terror im Nahen Osten oder Afrika und suchen eine sichere Zukunft in Europa. Unser Land scheint einer Zerreißprobe ausgesetzt: Wie viele Menschen können wir in Deutschland aufnehmen? Wie können wir Konflikte in den Flüchtlingsheimen unterbinden? Wie gehen wir mit Bürgern um, die Angst vor Überfremdung haben?

Rainer Rothfuß
Dr. Rainer Rothfuß. Bild: Privat.

Deutschland sei aufgefordert praktische Hilfe zu leisten. Doch das sollte uns nicht davon abhalten, uns genauer mit den Ursachen der Flüchtlingsströme auseinanderzusetzen, fordert Geograph und Konfliktforscher Dr. Rainer Rothfuß. Die Flüchtlingskrise war seiner Meinung nach vorherzusehen und ist vom Westen mitverschuldet worden. Nur die intensive Auseinandersetzung mit den Fehlern der Außenpolitik hilft, zukünftige Krisen zu vermeiden. Wir haben mit Dr. Rainer Rothfuß über seine Forschungen, Waffenexporte in Krisenregionen und die Flüchtlingssituation in Deutschland gesprochen. 
 

ERF: Sie sind für Ihre Forschung viel unterwegs gewesen, u.a. in Nordnigeria und Asien. Werden Sie von Ihren Erlebnissen eher ermutigt oder entmutigt?

Dr. Rainer Rothfuß: Meine bisherige Forschung hat mich in der Betrachtung von Konflikten zu mehr Realis­mus geführt. Zweitens wurden Mythen, die über Konflikte verbreitet wer­den, entzaubert. Mir wurde klar, dass oft einfach Interessen von Staaten oder Gruppen in den Konflikt hineinspielen.

Aber zugleich habe ich mir eine emotionalere Blickweise angewöhnt. Ich habe gesehen, dass unter Konflikten immer Menschen leiden. Dieses Leid wahrzu­nehmen ist auch für einen Wissenschaftler wichtig. Ohne diese emotionale Nähe neigen wir dazu, uns Betrachtungsmuster anzueignen, die pau­schal sind. Außerdem berücksichtigen wir es weniger, wenn die deutsche Außenpolitik Fehler macht und dadurch Konflikte angeheizt werden. Deswegen ist diese persönliche Sichtweise für Wissenschaftler, Politiker, aber auch für uns Normalbürger wichtig.

Außenpolitische Interessen müssen offen gelegt werden

ERF: Sie haben angesprochen, dass sich die Außenpolitik eines Landes auch auf die Lage anderer Länder auswirkt. Hat denn die Politik in demokratischen Ländern überhaupt eine Chance an der Konfliktlage in anderen Ländern etwas zu verändern?

Dr. Rainer Rothfuß: Das hat sie durchaus. Die Kernfrage ist aber nicht, ob wir Einfluss haben oder nicht. Die Kern­frage ist: Welche Interessen haben wir? Diese Interessen werden in der Regel nicht offen gelegt. Sie sind aber entscheidend dafür, welche Rolle wir im Konflikthergang und in der -ent­wicklung spielen. Und ob wir darauf einwirken, den Konflikt beizulegen oder uns für unsere Interessen entscheiden. Es ist wichtig wahrzunehmen, dass in allen Konflikten, die unsere Interessen berühren, auch unsere Politik eine Rolle spielt und Einfluss hat. In Bezug auf rohstoffreiche Regionen haben wir Interessen. Da spielen unsere außenpolitischen Bestrebungen auch immer eine Rolle – und zeigen sich zum Beispiel in Form von Waffenlieferungen.

ERF: Waffen und Waffenlieferungen sind ein notwendiges Übel. Ist die Frage nicht viel mehr, in welche Hände sie geraten?

Dr. Rainer Rothfuß: Das ist richtig. Da bedarf es ganz genauer Richtlinien. Wenn zum Beispiel die Bundesregierung die Kurden im Nordirak mit Waffen ausstattet, mag das aus einer gewissen Per­spek­tive eine sinnvolle Maßnahme sein. Aber es braucht gewisse Voraussetzungen, damit diese Maßnahme nicht zu einer zukünftigen Gefährdung für andere Minderheiten werden kann, wie die Jesiden. Ich war im Februar im Nordirak und habe dort viele Gespräche mit jesidischen Politikern, mit Geistlichen, mit Stammesführern, mit Kämpfern von der Front und mit Flüchtlingen geführt. In den Gesprächen hat sich häufig gezeigt, dass die Waffenlieferungen an die Kurden als Gefahr für die Zukunft der Jesiden gesehen werden, weil sie früher schon unter den Kurden gelitten haben. Da stellt sich die Frage: Hat man genügend bedacht, welche langfristigen Folgewirkungen solche Waffenlieferungen haben?

Die USA haben Syrien bewusst destabilisiert

ERF: Viele stellen sich natürlich jetzt die Frage: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wo liegen die Ursachen für die Kriege, die die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben?

Dr. Rainer Rothfuß: Es gibt die verschiedensten Ursachen. Manche liegen in der Region. Es gibt zwischen Sunniten und Schiiten einen Jahr­hunderte alten Streit, der zu geopolitischer Konkurrenz und zu vielen blutigen Kriegen geführt hat. Dieser Streit erklärt viele der Spannungen und offenen Konflikte im Nahen Osten. Hinzu kommen aber auch Faktoren, die von außen gesteuert sind. Die Einflussnahme von außen hat dazu geführt, dass die Konflikte angeheizt wurden. Die Destabilisierung der Krisengebiete wurde bewusst in Kauf genommen, damit eigene Interessen durchgesetzt werden können.

ERF: Wo wurden von europäischer Seite da Fehler gemacht, die den Konflikt in und um Syrien, zusätzlich angeheizt haben?

Dr. Rainer Rothfuß: Der Syrienkonflikt muss im Kontext dieses schiitisch-sunnitischen Kampfes um die Vormacht in der Region des Nahen Ostens gesehen werden. Baschar al Assad wird als die Speerspitze der Schiiten in der Region gesehen, die vom Kernstaat des Schiitentums, dem Iran, vorangetrieben wird.

ERF: Obwohl er selbst kein Schiit ist.

Dr. Rainer Rothfuß: Richtig. Er gehört zur alevitischen Volksgruppe, die in Syrien an der Macht ist. Die Aleviten pflegen gute Verbindungen zu den Schiiten und außenpolitisch betrachtet insbesondere zum Iran. Es ist das Regime einer ethnischen Minderheit, das letztendlich einen Deal mit der übrigen Bevölkerung gemacht hatte: Die Schiiten organisieren das Staatswesen, während sich die sunnitische Mehrheit im Wirtschaftsbereich frei entfalten kann. In Regierungsfragen dürfen sie aber nicht mitbestimmen. Dieses System hat dazu geführt, dass Syrien für religiöse Minderheiten in den vergangenen Jahrzehnten der sicherste Staat im Nahen Osten war – abgesehen von Israel. Auf dem Weltverfolgungsindex von Open Doors war Syrien Stand 2009 auf Platz 46. Die Situation hat sich mit dem von außen angeheizten Bürgerkrieg drastisch verschlimmert.

ERF: Sie sprechen jetzt von der christlichen Minderheit?

Dr. Rainer Rothfuß: Ja, aber nicht nur von der christlichen Minderheit. Auch die alevitische Minderheit war in Syrien sicher. Es war ein stabiles – wenngleich ein autoritäres System. Es gab allerdings Spannungen zwischen den schiitisch ausgerichteten Regimen des Iran und Syrien und der sunnitischen Seite, die von Saudi Arabien angeführt und von den USA unterstützt wird. Diese Spannungen sind bei den Protesten im März 2011 ausgebrochen. Sie haben dazu geführt, dass Baschar al Assad überreagiert und zu hart durchgegriffen hat.

Seit 2006 haben die USA versucht, in Syrien eine Rebellion anzuzetteln. Es gab lange vorbereitete Bemühungen, Assad zu destabilisieren und zu stürzen – seit 2011 mithilfe von mehrheitlich islamistischen Rebellengruppen. Hinter diesen Rebellengruppen stand auch Al-Qaida im Irak, was schon in der frühen Phase 2011 bekannt war. Hier liegt bereits die Schuld des Westens: Er hat sich eingemischt in einen Konflikt, der dann aus den Fugen geraten ist. Diese Hintergründe werden allerdings kaum offengelegt. Der Journalist Peter Scholl-Latour hat regelmäßig in Büchern und Talk-Shows darauf hingewiesen, dass diese Einmischungen des Westens die Region stark destabi­lisieren und die Folgen auch für Europa zu spüren sein werden.

Den Westen zur Rechenschaft ziehen

ERF: Jetzt sind die Folgen für Europa und Deutschland spürbar: Viele Flüchtlinge sind unterwegs oder schon in Deutschland. Unsere Bundeskanzlerin betont immer wieder, dass diese Aufgabe von deutscher Seite aus zu bewältigen ist. Kann man angesichts von vielleicht einer Million Flüchtlingen in unserem Land diese Aussage noch halten?

Dr. Rainer Rothfuß: Das ist eine wichtige Frage. Mittlerweile wird mit 1,5 Millionen Flüchtlingen bis Ende 2015 gerechnet. Dann hören die Flüchtlingsströme aber nicht auf. Informationen über soziale Medien werden weitere Menschen animieren, nach Europa zu kommen. Wenn man sieht, dass Tausende von Menschen vor dem Grenzzaun stehen und dann die Tore geöffnet werden, weil der Druck zu groß wird, sendet es das Signal aus: Man kann sich nicht wehren dagegen, dass immer mehr Menschen kommen.

Die Frage, ob wir das schaffen, ist nicht allein wichtig. Viel relevanter ist für mich die Frage: Wie kam es zu diesen Flüchtlingsströmen? Da ist der Westen in der Pflicht, zu analysieren: Wer hat die Fehler begangen, die Libyen so destabilisiert haben, dass der Staat komplett zerschlagen wurde? Eine Folge daraus ist, dass das Schleuserwesen in Libyen nach Expertenaussage vollständig in die Hand des Islamischen Staates geraten ist – womit das Einschleusen von Terroristen gefördert werden kann. Deswegen müssen zwei Fragen gestellt werden: Wo leisten wir unseren Beitrag, um die Flüchtlingskrise zu meistern? Und wie können wir die westlichen Regierungen kritisch zur Rechenschaft zu ziehen?

ERF: Die Flüchtlinge sind jetzt auf dem Weg. Was können Deutschland und Europa tun, um diese Flüchtlinge aufzunehmen, um ihnen eine Zukunft zu geben und das Elend zu lindern?

Dr. Rainer Rothfuß: Das ist natürlich jetzt für die, die auf der Flucht sind, entscheidend. Diese Menschen haben sich das mehrheitlich nicht ausgesucht. Deswegen geht es natürlich darum, zu helfen und Not zu lindern. Ich bin froh darüber, dass es viele Menschen gibt, die sich für Flüchtlinge engagieren. Aber diese Hilfe muss eben verbunden werden mit der Frage: Wie können wir das in der Zukunft verhindern? Wie können wir den Konflikt im Nahen Osten, besonders in Syrien, umgehend beenden? Die westlichen Staaten müssen sich an einen Tisch setzen – Russland eingeschlossen. Ich hoffe, dass Friedens­bedingungen wieder hergestellt werden und durch eine massive Aufstockung der Entwick­lungshilfe-Gelder wieder lebenswerte Bedingungen aufgebaut werden können. Dann existiert auch die realistische Perspektive, dass viele Flüchtlinge in diese Länder zurückgehen können.

ERF: Die Haltung zu den Flüchtlingsströmen ist in Deutschland ganz unterschiedlich – auch in christlichen Gemeinden. Sie reicht von Nächstenliebe bis zur Angst vor Überfremdung. Wie kann und soll es bei diesem Konflikt weitergehen?

Dr. Rainer Rothfuß: Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen hat kürzlich festgestellt: Es gibt ein Diskursverbot. Man darf in Deutschland nicht öffentlich und frei über die Flücht­lingsproblematik sprechen. Das hat zur Folge, dass es die Gesellschaft zerreißt. Diese Tabus müssen umgehend aufgehoben werden. Es kann nicht sein, dass Menschen, die letztendlich aus Hilflosigkeit zu Pegida gehen, dämonisiert werden. Sie sehen nämlich ein Problem, dem sich die Politik, die Medien, die Öffentlichkeit nicht stellen will. So funktioniert eine Konfliktlösung innerhalb einer Gesellschaft nicht.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.


Lesen Sie ein weiteres Interview mit Dr. Rainer Rothfuß zum Thema: Zwischen Bibel und Politik - wie zeitlose Werte helfen, auf die Flüchtlingskrise zu reagieren. Hier können Sie beide Interviews hören.

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Kommentare (3)

Jaques L. /

Jetzt ist es sogar schon fremdenfeindlich für die Aufnahme von Flüchtlingen zu sein:
"Wir sind für die Aufnahme von Flüchtlingen". So steht es im Pegida-Positionspapier. Dieses ist im Internet veröffentlicht. Bis heute hat noch kein Qualitätsjournalist den Mausklick gewagt.

Libby /

Sehr gutes Interview, das auch endlich mal den westlichen Lobbyismus aufzeigt. nicht einverstanden bin ich allerdings mit der Aussage am Ende "Bürger die aus Hilflosigkeit zu Pegida gehen" ... denen mehr

Jaques L. /

"Wir sind für die Aufnahme von Flüchtlingen". So steht es im Pegida-Positionspapier. Dieses ist im Internet veröffentlicht. Bis heute hat noch kein Qualitätsjournalist den Mausklick gewagt. mehr

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