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24.08.2016 / Erfahrungsbericht / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Tanja Rinsland

Vergebung statt Rache!

Lisa und Michael Flemming beschließen, dem Mörder ihres Sohnes zu vergeben.

Sommer 2010. Lisa und Michael Flemming überschreiten die Schwelle des Landgerichtes Ingolstadt. Sie treten als Nebenkläger in einem aufsehenerregenden Prozess gegen einen mutmaßlichen Mörder auf: Gegen den Mann, der ihrem Sohn Samuel das Leben genommen hat. Sie sind gekommen, um herauszufinden, warum er das tat. Im Gerichtssaal sehen Flemmings den Täter, Mike*, zum ersten Mal.

Michael Flemming erinnert sich gut an dieses Treffen: „Man steht dem Menschen gegenüber, der dein eigenes Kind umgebracht hat, das kann man gar nicht beschreiben.“ Der Angeklagte sieht eigentlich ganz normal aus: Ein junger, schmächtiger Typ, gerade einmal 20 Jahre alt. Mike wirkt nervös, ihn lässt die Verhandlung nicht kalt. Immer wieder schaut er zu Flemmings rüber, als ob er wissen möchte, wie sie auf ihn reagieren.

„Sagt mir, dass das nicht wahr ist.“

Es ist ein halbes Jahr her seit jener Tag  ihr Leben völlig veränderte. In der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 2010 klingelt es an ihrer Haustür. Als Lisa und Michael Flemming öffnen, stehen zwei Polizisten und zwei weitere Männer vor ihnen. Ein Moment, den Lisa nie vergessen wird: „Das ist so eine irre Situation. Man hört das zwar rein akustisch: ‚Dein Sohn ist tot, er ist ermordet worden.‘ Aber man kann damit gar nicht umgehen. Mein Mann hatte einen Nervenzusammenbruch und hat geschrien: ‚Sagt mir, dass das nicht wahr ist.‘“

Die beiden Mitarbeiter der Krisenintervention bleiben bei ihnen und unterstützen sie in den ersten Stunden. Noch in der gleichen Nacht begleiten sie Lisa und Michael Flemming, als sie ihren Sohn identifizieren müssen. Wie in einem Krimi fühlt Lisa sich, als man sie zu einem Blechsarg führt und den darin liegenden Plastiksack öffnet, um einen Blick auf das Gesicht des Toten freizugeben. „Ich habe mir gedacht: Ist er das wirklich? Und das habe ich auch meinen Mann gefragt. Ich wollte es nicht wahrhaben. Und dann nahm er mich in den Arm und sagte: ‚Doch Lisa, er ist es.‘ Und da hab ich es zugelassen. Ja, es war Samuel.“

Ein glasklarer Fall

Schon wenige Stunden nach seinem Tod hat die Polizei den Täter überführt: Mike, einen Freund von Samuel. Er gesteht die Tat, doch zu dem Motiv schweigt er hartnäckig. Umso mehr erhoffen sich die Flemmings, dass er während des Prozesses endlich eine Aussage dazu macht.

Sechs Tage dauert die Gerichtsverhandlung. Weil der Täter behauptet, sich an nichts erinnern zu können, wird der Tathergang anhand von Indizien rekonstruiert. Mike war in der Nacht bei Samuel zu Besuch gewesen. Sie waren schon länger befreundet und hingen öfters gemeinsam ab. Bis spät in die Nacht haben sie am Computer gespielt und Videos geschaut. Was dann passierte, können die Ermittler nur mutmaßen. Wahrscheinlich hatte Samuel Mike aufgrund der späten Uhrzeit angeboten auf der Couch zu übernachten. Als er sich selbst zum Schlafen hinlegt, greift ihn Mike mit einem Messer an.

Die Indizien der Obduktion weisen darauf hin, dass Samuel nicht im Affekt umgebracht wurde: Nachdem Mike ihn mit dem Messer lebensbedrohlich verletzt hatte, erdrosselte er ihn noch mit einem Gürtel. Ein äußerst anstrengender Kraftakt, der auf eine willentliche Tötungsabsicht hinweist. Doch warum Mike plötzlich derart gewalttätig wurde, kann keiner sagen − außer er selbst.

Reue, aber keine Erklärung zum Motiv

Für die Flemmings sind die Stunden im Gerichtssaal wichtig. Sie treten als Nebenkläger auf, um Einsicht in die Akten zu bekommen und selbst Fragen stellen zu dürfen. Doch obwohl sie sich bewusst dafür entschieden haben, ist es eine nervenaufreibende Ausnahmesituation. Von der Möglichkeit Fotos von Samuels Leiche am Tatort in Augenschein nehmen zu können, macht Lisa keinen Gebrauch. Michael sieht sich die Bilder an und sie brennen sich tief in sein Gedächtnis ein.

Der Angeklagte bricht beim Anblick dieser Fotos zusammen − die Gerichtsverhandlung muss abgebrochen werden. Er steht zu seiner Tat und zeigt Reue, aber er schweigt weiterhin zum Motiv. „Am zweiten Verhandlungstag hat er uns durch seine Rechtsanwältin einen Brief überreicht,“ erinnert sich Lisa Flemming. „Er hat sich entschuldigt, hat aber auch gesagt, dass er sich das selbst nie verzeihen wird. Der Staatsanwalt hat das mitbekommen und gesagt: ‚Mike, du hast der Familie Flemming schon eine Hand gereicht, jetzt gib ihnen doch auch noch die andere und sag, warum du es getan hast.‘ Und dann saß Mike da wie ein Häufchen Elend und guckte nach unten und sagte: ‚Ich würd's ja gerne sagen, wenn ich mich erinnern könnte.‘ Aber die Leute, die das psychiatrische Gutachten erstellt haben, erklärten, dass dies eine Schutzbehauptung sei: ‚Mike hat keine Amnesie und weiß eigentlich alles, aber er kann es nicht sagen, weil er sich so schämt für die Tat.‘“

Bis zum Ende der Gerichtsverhandlung verrät der Angeklagte nicht, was das Motiv für Samuels Tod war. Er wird für schuldig befunden und zu zehn Jahren Gefängnis wegen Totschlags verurteilt. Dies ist ein mildes Strafmaß. Mit ein Grund dafür ist, dass Flemmings im Gerichtssaal erklären, dass sie dem Täter vergeben haben. Und das, noch bevor er ihnen den Brief mit der Entschuldigung überreicht.

„Wer vergibt, muss Stärke zeigen“

Schon in den Monaten zwischen der Tat und der Verurteilung hatten Lisa und Michael Flemming entschieden, dass sie Mike vergeben wollten. Sie selbst können kaum in Worte fassen, warum sie zu diesem unglaublichen Schritt bereit waren. Als überzeugte Christen spielt Vergebung natürlich eine wichtige Rolle in ihrem Glauben. Aber niemals hätten sie gedacht, dass ihnen so ein Unrecht widerfahren würde - und dass sie bereit wären, dieses Unrecht zu verzeihen.

Das Ehepaar erntet viel Unverständnis für ihre Entscheidung. Manche halten es für Verrat, wenn sie von Vergebung sprechen. Andere halten es für eine Verharmlosung der Tat. Michael erklärt es so: „Vergebung, wenn sie wirklich echt ist, ist kein ‚Schwamm drüber‘; kein ‚So schlimm war's ja gar nicht‘. Im Gegenteil: Vergebung ist dann erst nötig, wenn ich die Schwere selbst empfinde. Was soll ich sonst vergeben? Ich glaube, es tut mir besser, wenn ich vergebe, weil ich dann vermeide, dass ich verbittert werde; weil ich dadurch erreiche, dass ich selbst wieder lebensfähig werde. Vergeben ist keine Schwäche, im Gegenteil: Wer vergibt, muss Stärke zeigen, denn er muss sich selbst überwinden, seine Gefühle, seinen Hass, und sagen: Ich will einen anderen Weg gehen, der viel besser ist, als nur auf Rache zu sinnen.“

Friede statt Wut

Beide Ehepartner mussten ihren eigenen Weg finden, Mike zu vergeben. Wut, Unverständnis und die unendlich große Trauer über ihren Verlust − diese Gefühle waren alle da, hielten sie nachts wach und trieben sie an ihre Grenzen. Michael Flemmings Gedanken kreisten immer wieder um die Tat: Hätte er sie irgendwie verhindern können? In seiner Hilflosigkeit spürte er immer wieder einen tiefen Groll gegen den Täter.

Ein Gefühl, das auch Lisa Flemming empfand. Besonders, als sie zum ersten Mal den Obduktionsbericht las. Dort stand schwarz auf weiß, wie Samuel um sein Leben gekämpft haben muss und was ihm im Einzelnen widerfahren ist. In ihr stieg eine unendlich große Wut auf. Im gleichen Augenblick war sie über sich selbst erschrocken − über die Gedanken und Gefühle, zu denen sie fähig war. Lisa Flemming wollte nicht, dass diese Wut sie bestimmt.

„Ich hab mich nochmal mit dem Bericht hingesetzt, hab jedes Detail gelesen und dabei laut gesagt: ‚Das vergebe ich dem Mike jetzt.‘ Dann habe ich weiter gelesen. ‚Und dieses Detail: Ich vergebe es ihm.‘ Dann bin ich zum nächsten gegangen: ‚Herr Jesus, ich vergebe ihm das jetzt in deinem Namen.‘ Und so bin ich durch den ganzen Obduktionsbericht gegangen. Nachdem ich fertig war, war ein solcher Friede in mir und die ganze Wut war wie weggeblasen. Das kann ich mit Worten gar nicht erklären. Das war übernatürlich. Ich habe seitdem nie wieder Hassgedanken auf Mike gehabt“, erzählt sie. Dieser Friede hilft Lisa Flemming, den Schmerz auszuhalten, die kreisenden Gedanken und auch die offenen Fragen.

Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel

Als Christen glauben Lisa und Michael Flemming, dass Gott es gut mit ihnen meint und dass er die Macht hat, Leben zu verändern. Trotzdem ist ihr Sohn Samuel jetzt tot. Verstehen können sie das nicht. Warum hat Gott nichts getan, um Mike aufzuhalten? Warum hat er nicht eingegriffen?

Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Aber heute quälen sie nicht mehr so wie früher. Der Schmerz über den Verlust bleibt. Lisa Flemming hat zwei Jahre lang jeden Tag geweint. Heute kommen nicht mehr so oft die Tränen, aber es fällt ihr schwer, wenn andere junge Leute heiraten oder Kinder bekommen: „Das werden wir nie mit Samuel erleben.“ Michael Flemming überkommt die Trauer immer noch wie aus heiterem Himmel, wenn er durch irgendetwas, zum Beispiel ein Lied, an Samuel erinnert wird.

Als Christen glauben Lisa und Michael Flemming, dass Gott es gut mit ihnen meint und dass er die Macht hat, Leben zu verändern.

Aber Ehepaar Flemming hat gelernt, die Trauer zuzulassen, und hat beschlossen, sich dem Leben wieder zuzuwenden. Auch wenn sie Gott nicht verstehen, spüren sie seine Gegenwart: Gott ist uns ganz besonders nahe,“ sagen sie heute. Und sie sind sich sicher, dass sie Samuel wiedersehen werden − im Himmel.


* Name von der Redaktion geändert


Das Ehepaar Flemming zu Gast bei ERF MenschGott:

 

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

J.B /

Familie Flemming und Angehörigen . Großen Respekt vor Ihrer Stärke und dem Umgang mit der Vergebung . Sowas zeigt wie gut herzig Sie sind. Alles gute und Ihr Sohn ist sicher jetzt schon jeden Tag bei Ihnen.

Maria /

Chapeau, ich hab einen Riesen Respekt vor ,,dem Mut ,,der Eltern oder auch vor der ,,Demut,,der Eltern.Ich habe oft den Eindruck,Gott mutet uns hammerharte Situationen zu.sicher ist er immer an mehr

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