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© Xavier Mouton / unsplash.com

18.04.2018 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Mirjam Langenbach

„Man muss kämpfen können – oder es lernen“

Wie aus Sabrina von einem Tag auf den anderen eine Mama wurde.

 

Sabrina Becker mit Sohn Luca (Foto: Tabita Schier)
Sabrina Becker mit Sohn Luca (Foto: Tabita Schier)

Meine Aufgabe war es, an einen Ort zu gehen, an dem radikal geliebt wird. Ich landete am Küchentisch und auf dem Wohnzimmerteppich bei einer Familie im Westerwald. Sabrina und Samuel Becker haben drei Pflegekinder, alle drei ganz besonders. Ich habe Fotos von ihnen mitgebracht und Sabrina ein paar Fragen gestellt.

Kann man wirklich an einem Tag einen Anruf vom Jugendamt bekommen und am nächsten Tag Muttergefühle für ein fremdes Kind entwickeln? Ja! Aber die Geschichte kann Sabrina Becker besser erzählen.


ERF: Warum haben du und dein Mann euch entschieden, Pflegeeltern zu werden?

 

Sabrina Becker: Es war schon lange klar, dass es bei uns mit eigenen Kindern Schwierigkeiten geben könnte. Von daher war uns auch schon immer klar: Wir können uns vorstellen, ein Pflegekind aufzunehmen. Ich befand mich dann in dieser Wartezeit vor der Kinderwunschbehandlung und dachte: „Nein. Diesen ganzen Weg gehen? Allein schon mit dem psychischen Stress, den du dann hast? Du weißt doch gar nicht ob du das schaffst. Und vielleicht hat das alles auch seinen Grund, dass du keine Kinder bekommen kannst ...“

Weil wir schon vor unserer Hochzeit besprochen hatten, dass wir uns ein Pflegekind vorstellen konnten, haben wir dann beschlossen, das wir uns als Pflegeeltern bewerben wollen. Das war 2005. 2006 war die erste Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Jugendamt.


ERF: Was war die Motivation dahinter?

Sabrina Becker: Der Grundgedanke kommt daher, dass ich selbst schon als Pflegekind großgeworden bin. Ich bin mit sieben Jahren in die Familie gekommen und das war mein größtes Glück. Wenn ich von ‚meiner Familie‘ spreche, meine ich meine Pflegefamilie. Die Erfahrung, die ich selbst machen durfte, war: Es kann für ein Kind ein Glück und ein Segen sein, wenn es eine Familie gibt, die es aufnimmt und ihm das gibt, was es braucht.

Es kann für ein Kind ein Glück und ein Segen sein, wenn es eine Familie gibt, die es aufnimmt und ihm das gibt, was es braucht.


 

ERF: Und 2008 kam Luca …

Sabrina Becker: Da lag er schon einen Monat lang im Krankenhaus. Er ist ein so genanntes Schüttelkind: Er hat Misshandlungen hinter sich, war schwer verletzt und hat echt ums Überleben gekämpft. Nachdem den Ärzten in der Klinik klar war, er wird’s überleben, haben sie dem Jugendamt den Auftrag gegeben, eine Pflegefamilie zu suchen.

22. Oktober 2008: Ich bin auf der Arbeit, mein Handy klingelt: „Guten Tag, das Jugendamt hier, wir suchen eine Pflegefamilie für einen acht Wochen alten Jungen. Der liegt im Moment in der Kinderklinik, denn er ist ein Schüttelkind.“

 

Dann sitzt man da im Büro und denkt sich: „Ok … Noch irgendwelche Angaben?“ – der angeborene Herzfehler war damals auch schon bekannt. Das war für mich nicht das Problem. Über die Hirnverletzungen konnte das Jugendamt nichts sagen. Da hatte ich also kurz die Angaben und musste erst einmal alles sacken lassen. Ich habe meinen Mann informiert und dann in der Mittagpause den Familienrat einberufen.

Wir haben mit dem Jugendamt besprochen, dass wir von den Ärzten mehr Informationen über das Kind brauchen. Hirnverletzt, was bedeutet das? Wir konnten direkt am nächsten Tag in die Kinderklinik fahren. Wie es so sein sollte, hatte der zuständige Arzt noch keine Zeit für uns, wir durften wir uns aber das Kind schon einmal anschauen.

Da liegt ein acht Wochen altes Baby im Bett, schläft, macht dann die Augen auf und blinzelt einen mit diesen blauen Augen an. In dem Moment war eigentlich schon alles klar: Ich war verliebt!
 

Pflegekind Luca (Foto: Tabita Schier)
Pflegekind Luca (Foto: Tabita Schier)

Das Gespräch mit dem Arzt fand noch statt, die Klinik hat die Prognose recht positiv ausgedrückt. Luca würde lernbehindert sein und entwicklungsverzögert. „Was soll‘s?“, dachte ich, „Dann läuft er eben erst mit zweieinhalb.“; dann war noch die Frage, ob er vielleicht auch noch blind sein könnte – aber damit können Menschen ja ebenfalls recht gut leben. Wir haben uns dafür entschieden, ihn aufzunehmen.

Luca wurde ein Jahr alt und war immer noch auf dem Stand eines drei Monate alten Babys. Von einer Entwicklung war nichts zu sehen: Er konnte nicht einmal sitzen.

Wir haben die Unterlagen aus der Kinderklinik einem anderen Arzt gezeigt und der sagte uns: „Sie wissen schon, dass Sie ein schwerstbehindertes Kind aufgenommen haben?“ … Nein. Wussten wir nicht.


ERF: Hättet ihr euch sonst anders entschieden?

Sabrina Becker: Vielleicht. Allein schon, weil wir ein Haus mit unheimlich vielen Treppen haben! Aber nach einem Jahr gibt man das Kind nicht mehr einfach so her. Es kamen seitdem noch eine Menge Diagnosen für Luca und wir sind da hineingewachsen, wie andere Eltern auch. Andere Kinder werden auch krank und man stellt sie nicht einfach in einer Ecke ab.

Andere Kinder werden auch krank und man stellt sie nicht einfach in einer Ecke ab.


ERF: Womit habt ihr bei Luca am meisten zu kämpfen?

Luca spielt mit Handpuppe (Foto: Tabita Schier)
Luca spielt mit Handpuppe (Foto: Tabita Schier)

Sabrina Becker: Mit den Ämtern. Nicht mit seinen Diagnosen. Als klar war, Luca ist schwerstbehindert, galt er zum Beispiel noch lange als normales Pflegekind. Unterstützung gab’s Null. Nicht nur finanzieller Art: Manchmal scheiterte es schon daran, dass ich den richtigen Ansprechpartner fand, um an Informationen heranzukommen. Da war keiner zuständig. Und so ist es bis heute immer wieder. Wer ist zuständig?!

Luca erhält aufgrund der Misshandlungen eine Opferentschädigung; das heißt, bei ihm ist das Landessozialamt mit drin, das Kreissozialamt, Kreisjugendamt, Amtsgericht, die Kliniken … man hat eine Menge Aktenordner im Regal stehen. Und da hingen wir die ersten Jahre komplett alleine. Unser Fachwissen haben wir uns selbst erarbeitet.
 

ERF: Was würde eure Pflegeelternschaft vereinfachen?

 

Sabrina Becker: Ein Netzwerk. Wir standen mit so Vielem ganz alleine da und haben erkannt, das kann man nicht alleine schaffen. Man braucht Leute, bei denen man sich mal informieren kann. Wir haben zum Beispiel 2011 auf einer Reha-Messe in Düsseldorf den Bundesverband behinderter Pflegekinder kennengelernt. Was unser Glück war. Da bekamen wir mal Informationen!

Gerade, wenn man ein behindertes Kind aufnimmt, muss man wirklich zusehen, sich die Infos zu holen. Wir haben mittlerweile auch einen freien Träger mit drin, von dem wir beraten und begleitet werden. So haben wir nur noch eine Person, die wir fragen müssen, und die uns auch mit den Ämtern hilft.

Das hätten wir viel früher gebraucht: Leute, die Ahnung haben. Auch, damit man sich nicht so alleine fühlt, auf Rechte und Pflichten hingewiesen wird - der ganze Kram eben, den man manchmal nicht weiß und den vielleicht auch ein Jugendamt wirklich nicht weiß, weil Luca so speziell ist. Diese Vernetzung, auch für normale Pflegekinder, ist das A und O. Die Infos, die wir uns mühevoll erkämpft haben, gebe ich gerne weiter. Damit andere nicht mehr kämpfen müssen, sondern ihre Kraft und Zeit für die Kinder aufwenden können.

Vernetzung, auch für normale Pflegekinder, ist das A und O.


ERF: 2011 kam Joy in eure Familie und 2017 Josi – kannst du verstehen, wenn Leute kein Verständnis dafür haben, dass ihr noch zwei weitere Kinder aufgenommen habt?

Pflegetochter Joy (Foto: Tabita Schier)
Pflegetochter Joy (Foto: Tabita Schier)

Sabrina Becker: Das hat mich sogar der Psychologe in Düsseldorf gefragt: „Wieso denn noch eins? Sie haben doch Luca und der reicht für drei!“ Ich hab geantwortet, dass sowohl Luca als auch Joy ja den ganzen Tag in der Schule sind. Und es war zeitlich wieder Kapazität da.

Und mal ganz ehrlich: Ich kriege doch keinen Arbeitgeber, der mir sechs Wochen Sommerferien frei gibt! Dazu Herbstferien, Frühlingsferien, alle Feiertage, plus Krankheitstage weil Luca wieder zu irgendeinem Arzt muss. Also hatte ich Zeit.

Wir haben uns auch bewusst wieder für ein beeinträchtigtes Kind entschieden. Die Reaktion des Psychologen war: „Sie haben Nerven!“. Ja. Es ist turbulent hier und laut, aber Liebe hab ich eben auch.

Es ist turbulent hier und laut, aber Liebe hab ich eben auch.


ERF: Erwischst du dich dabei, dass du deine Kinder mit normalen Kindern vergleichst (was immer „normal“ bedeutet)?

Sabrina Becker: Nein. Man denkt schon mal, was Luca alles könnte, wenn das mit ihm nicht passiert wäre. Aber nicht, weil ich Sehnsucht nach einem ‚normalen‘ Kind hätte, sondern weil Luca mir leidtut. Man merkt, er möchte so gerne, aber er kann nicht! Und das alles durch dieses blöde Schütteln. Da wünsche ich demjenigen, der das getan hat, ein lebenslanges schlechtes Gewissen. Denn derjenige, der das jetzt ausbaden muss, ist nicht der Erwachsene sondern Luca. Wir haben nie gedacht, „Wie kommen wir jetzt nur damit zurecht?“, sondern immer „Armer Kerl, das hätte alles nicht sein müssen“.

Wenn das alles auch anstrengend ist – die Kinder geben einem ja auch unheimlich viel wieder.


ERF: Was machst du in Momenten, in denen gar nichts mehr geht?

Sabrina spiekt mit Pflegekind Luca (Foto: Tabita Schier)
Sabrina spiekt mit Pflegekind Luca (Foto: Tabita Schier)

Sabrina Becker: Selbst wenn ich einen anstrengenden Tag hatte und mir abends überlege, wieso ich das alles eigentlich mache – spätestens am nächsten Tag kommt eine Situation, in der ich dann weiß: genau deswegen! Und wenn nur Luca ankommt und einen umarmt.

Und ich denke schon, dass mein Weg, wie er so ist, von Gott vorherbestimmt ist. Dass ich in die Pflegefamilie kam und mit Sieben meine Schulkarriere noch einmal neu beginnen konnte. Wäre ich bei meiner Familie gewesen, dann wäre ich in die Richtung ‚asozial‘ gedrängt worden. Eine klassische Armutskarriere ist mir erspart geblieben.

Auch in den Entscheidungen für meine Berufsausbildung hat Gott gewirkt. Ich bin keine Zahnarzthelferin geworden, mit Fachausbildung und allem was dazu gehört. Dann würde ich jetzt irgendwo arbeiten, hätte aber meine Kinder nicht. Und so sehe ich in allem Gottes Weg. Wir haben uns ja anfangs nicht bewusst für ein behindertes Kind entschieden. Aber da hat Gott den Weg gezeigt, dass er uns in der Arbeit mit diesen Kindern sieht.

 

Gott hat mich dahin gestellt. Auch in meine Gemeinde – die nehmen die Kinder so, wie sie sind. Gerade Luca! Der ist voll integriert, da fällt eher auf, wenn ich mal ohne ihn komme, weil mein Mann mit ihm zuhause geblieben ist. „Wo ist denn der Luca? Ist was passiert?“, heißt es dann. Und ich weiß: Hier ist Familie und Heimat.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
 

 Mirjam Langenbach

Mirjam Langenbach

  |  Moderatorin

Die Westerwälderin kümmert sich um morgendliche Moderation und Musikredaktion bei ERF Jess. Sie mag Musikmachen, Madeira und Skandinavien, außerdem Fernseh- und Kinoabende, Jeremy Renner, kühles Bier mit Konversation, durch die Stadt Flanieren und mit netten Leuten zusammen Sein.

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Kommentare (4)

Anja /

Kinde hat jugamten 2 jahren

Dorena /

Genau,Gott hat auch mich an die Seite meines schwerbehinderten Ehemannes gestellt,er ist Spastiker seit Geburt. nach über 30Jahren Ehe fällt mir manches nicht mehr so leicht. Aber aufgeben ist nicht. Gott steht uns bei. (auch wenn es oft nur zu einem Gebetsseufzer reicht.)
Gruss Dorena

Kerstin K. /

Super ! Mehr von solchen Berufungsgeschichten ! Das sind die wahren Alltagshelden. Nicht nur Missionare,Gemeindegründer,Evangelisten,Musiker und Strahlemänner. Gott will in der Schwachheit seine mehr

Julia /

Ich sehe es genauso wie Sabrina:
GOTT MACHT KEINE FEHLER! !
(Mama von zwei Pflegekindern)

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